L 1 KR 306/19 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 3 KR 151/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 306/19 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 26. Juli 2019 aufgehoben. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin häusliche Krankenpflege in der Form der Beobachtungspflege 24 Stunden täglich ab dem 22. Oktober 2019 bis zum 31. Dezember 2019, längstens aber bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache zu gewähren. Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 26. Juli 2019 ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Unrecht abgelehnt.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig ist. Voraussetzung hierfür ist grundsätzlich, dass der Antragsteller einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit eines Obsiegens in der Hauptsache glaubhaft macht (§ 86b Abs. 2 Sätze 2 und 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)).

Zu Unrecht meint das Sozialgericht, der Anspruch auf spezielle Krankenpflege für die Antragstellerin bestehe nicht, weil nach dem Leistungsverzeichnis Nr. 24 der Häuslichen Krankenpflege Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses eine Verordnung von kontinuierlicher Beobachtung und Intervention mit den notwendigen medizinisch-pflegerischen Maßnahmen, Dokumentation der Vitalfunktionen wie: Puls, Blutdruck, Temperatur, Haut, Schleimhaut einschließlich aller in diesem Zeitraum anfallenden pflegerischen Maßnahmen nur möglich sei, wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit sofortige pflegerische/ärztliche Intervention bei lebensbedrohlichen Situationen täglich erforderlich ist und nur die genauen Zeitpunkte und das genaue Ausmaß nicht im Voraus bestimmt werden kann. Das Sozialgericht verkennt, dass sich die Voraussetzungen für die Verordnung einer 24-stündigen Intensivpflege nicht ausschließlich nach den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege bestimmen. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urt. v. 10. November 2005 – B 3 KR 38/04 R – juris Rn 18 - 19) sind die in § 37 Abs. 2 SGB V geregelten Voraussetzungen vorrangig. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat nicht die Rechtsmacht, in seinen Richtlinien medizinisch notwendige Maßnahmen von der Verordnungsfähigkeit auszuschließen. Maßgeblich für das Bestehen des Anordnungsanspruchs ist danach allein, ob die begehrte 24–Stunden–Beobachtungspflege medizinisch notwendig ist. Das ist bereits dann der Fall, wenn eine medizinische Fachkraft angesichts der Gefahr des Eintritts lebensbedrohlicher Komplikationen von bestehenden Erkrankungen jederzeit einsatzbereit sein muss, um die nach Lage der Dinge jeweils erforderlichen medizinischen Maßnahmen durchzuführen. Es kommt nicht darauf an, ob in der Vergangenheit bereits tägliche Interventionen erforderlich geworden sind und eine entsprechende Dokumentation vorliegt.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats können Entscheidungen im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht nur auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens, sondern auch auf eine Folgenabwägung gestützt werden. Drohen ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens nur dann maßgebend für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ohne die vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren ist dagegen anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (siehe BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 596/05 -). Dabei ist insbesondere die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch den Verfassungsgeber getroffene objektive Wertentscheidung zu berücksichtigen. Danach haben alle staatlichen Organe die Pflicht, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Lebens, der Gesundheit und der körperlichen Unversehrtheit zu stellen (vgl. BVerfGE 56, 54 (73)). Für das vorläufige Rechtsschutzverfahren vor den Sozialgerichten bedeutet dies, dass die Grundrechte der Versicherten auf Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit zur Geltung zu bringen sind, ohne dabei die ebenfalls der Sicherung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG dienende Verpflichtung der gesetzlichen Krankenkassen (vgl. §§ 1, 2 Abs. 1 und 4 SGB V), ihren Versicherten nur erforderliche Leistungen zur Verfügung zu stellen, sowie die verfassungsrechtlich besonders geschützte finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. BVerfGE 68, 193 ( 218)) aus den Augen zu verlieren. Besteht die Gefahr, dass ein Versicherter ohne die Gewährung der umstrittenen Leistung vor Beendigung des Hauptsacheverfahrens stirbt oder er schwere oder irreversible gesundheitliche Beeinträchtigungen erleidet, ist die begehrte Leistung regelmäßig zu gewähren, wenn das Gericht nicht auf Grund eindeutiger Erkenntnisse davon überzeugt ist, dass die begehrte Leistung unwirksam oder medizinisch nicht indiziert ist oder ihr Einsatz mit dem Risiko behaftetet ist, die abzuwendende Gefahr auf andere Weise zu verwirklichen. Dagegen dürfen die Sozialgerichte die begehrte Leistung im Rahmen der Folgenabwägung versagen, wenn die Beeinträchtigung des Versicherten im Wesentlichen nur darin besteht, dass er die begehrte Leistung zu einem späteren Zeitpunkt erhält, ohne dass sie dadurch für ihn an Wert verliert, weil die Beeinträchtigung der in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG genannten Rechtsgüter auch durch eine spätere Leistungsgewährung noch beseitigt werden kann. Nur eine an diesen Grundsätzen orientierte Vorgehensweise wird dem vom Gesetzgeber in allen Prozessordnungen vorgesehenen Vorrang des nachgehenden Rechtschutzes vor dem vorläufigen Rechtsschutz sowie dem sich aus Art. 20 Abs. 3 GG abzuleitenden Grundsatz gerecht, dass die Leistungsgewährung vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Ausnahme und nicht die Regel sein soll (vgl. etwa Beschlüsse des Senats vom 24. Juni 2014 – L 1 KR 167/14 B ER und vom 3. Februar 2014 – L 1 KR 30/14 B ER – und Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 10. Februar 2014 – L 9 KR 293/13 B ER -).

Unter Beachtung der genannten Grundsätze hat die Antragstellerin jedenfalls im Wege der Folgenabwägung einen Anspruch auf den Erlass der begehrten einstweiligen Verfügung. Die Antragstellerin hat eine Stellungnahme ihres behandelnden Neurologen Andreas Funke vom 11. Oktober 2019 vorgelegt, wonach bei ihr jederzeit die Gefahr des Verschluckens bestehen würde, welches ohne entsprechende pflegerische Reaktion zu einer deutlichen Zustandsverschlechterung und vermehrtem Leid führen würde. Zudem bestehe die Gefahr einer Verlegung der Atemwege. Angesichts des durch eine schwere Verlaufsform der multiplen Sklerose gekennzeichneten Zustands der Antragstellerin und einem letzten Krankenhausaufenthalt im März 2019 ist die Gefahr einer lebensbedrohlichen Komplikation der bestehenden Erkrankungen nicht von der Hand zu weisen. Auch das letzte Gutachten des MDK vom 30. Oktober 2019 regt die Überprüfung der Möglichkeit weiterer Palliativpflege an, obwohl es das Vorliegen der Voraussetzungen für eine 24-Stunden-Pflege nach der Häuslichen Krankenpflege-Richtlinie weiter verneint. Die medizinische Notwendigkeit zusätzlicher Behandlungspflege kann daher nicht eindeutig verneint werden. Wäre Überwachungspflege rund um die Uhr medizinisch erforderlich, könnte die Versagung dieser Leistung zum Tod oder zu schweren Gesundheitsstörungen bei der Antragstellerin führen. Vor diesem Hintergrund kann bei dem jetzigen Ermittlungsstand im Rahmen eines Verfahrens auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht mit der gebotenen Sicherheit verneint werden, dass Anspruch auf Behandlungspflege in dem geltend gemachten Umfang von 24 Stunden täglich besteht.

Der Anspruch gegen die Beklagte auf weitere häusliche Krankenpflege scheitert nicht daran, dass die Antragstellerin zurzeit in einer Wohngruppe für schwerstpflegebedürftige Menschen untergebracht ist. Nach § 37 Abs. 2 SGB V haben die Krankenkassen Krankenpflege in der Form der Behandlungspflege nur an geeigneten Orten zu leisten. Gemäß § 37 Abs. 6 SGB V bestimmt der Gemeinsame Bundesausschuss in der von ihm zu erlassenen Richtlinie, was ein geeigneter Ort ist. Und nach § 1 Abs. 6 der Häusliche Krankenpflege Richtlinien in der aktuellen Fassung ist eine Verordnung von Behandlungspflege ausdrücklich auch für Versicherte in Pflegeheimen zulässig, die auf Dauer, voraussichtlich für mindestens 6 Monate, einen besonders hohen Bedarf an medizinischer Behandlungspflege haben, was insbesondere der Fall ist, wenn die ständige Anwesenheit einer geeigneten Pflegefachkraft erforderlich ist. Eine Verordnung von Behandlungspflege ist ebenso ausdrücklich für Versicherte in vollstationären Einrichtungen oder Räumlichkeiten der Hilfe für behinderte Menschen im Sinne von § 43a des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) vorgesehen, wenn ein besonders hoher Bedarf an medizinischer Behandlungspflege gemäß Satz 3 besteht. Demnach spricht einiges dafür, dass der Aufenthaltsort der Antragstellerin ein geeigneter Ort für die Erbringung von Leistungen der häuslichen Krankenpflege ist. Auch die formalen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Behandlungspflege liegen vor. Zwar hat sich die ursprüngliche Verordnung von "24 Stunden Intensivpflege, spez. Krankenbeobachtung" vom 26. Februar 2019, die Gegenstand des Bescheides vom 5. März 2019, des Widerspruchsbescheides vom 14. August 2019 und jetzt des Hauptsacheverfahrens vor dem Sozialgerichts Potsdam zum Az S 28 KR 384/19 geworden ist, durch Zeitablauf insoweit erledigt, als das Ende des Verordnungszeitraums der 30. Juni 2019 ist, der mittlerweile in der Vergangenheit liegt. Indessen hat der behandelnde Arzt Freytag am 21. Juni 2019 erneut 24 Stunden Intensivpflege in der Form spezieller Krankenbeobachtung für den Zeitraum vom 1. Juli 2019 bis 31. Dezember 2019 verordnet. Der Senat hat es für angemessen gehalten, den Zeitraum der – sich aus einer Folgenabwägung ergebenden - Verpflichtung der Antragstellerin im Wesentlichen auf in der Zukunft liegende Zeiträume zu beschränken, da nicht ersichtlich oder vorgetragen ist, inwieweit die Antragstellerin gegenwärtig durch die Versagung von Leistungen für in der Vergangenheit liegende Zeiträume noch unmittelbar betroffen sein könnte. Der Senat hat dabei den Eingang des am 11. Oktober 2019 von Andreas Funke ausgestellten Attestes am 22. Oktober 2019 bei Gericht als Anfangszeitpunkt der einstweiligen Anordnung angesetzt, weil jedenfalls mit Eingang des Attestes die Voraussetzungen für eine zusprechende Entscheidung im Beschwerdeverfahren vorgelegen haben. Die Befristung entspricht dem Ende der Verordnungsdauer.

Der Senat hat schließlich davon abgesehen, den Umfang der an die Antragstellerin zu gewährenden Behandlungspflegeleistungen deswegen zu kürzen, weil ihr nach Aktenlage auch Leistungen der Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 5 gewährt werden. Zwar war nach der Rechtsprechung des BSG eine Anrechnung der von der Pflegeversicherung gewährten Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung auf die Überwachungspflege in der Form vorzunehmen, dass der auf die reine Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung entfallende Zeitaufwand zur Hälfte von der Überwachungspflege abzuziehen war (BSG v. 17. Juni 2010 – B 3 KR 7/09 R – juris Rn 28). Indessen ist bereits fraglich, ob an dieser Rechtsprechung im Anschluss an die Neufassung des SGB XI, nach der der Grad der Pflegebedürftigkeit nicht mehr anhand des verrichtungsbezogenen Zeitaufwands bestimmt wird, noch festzuhalten ist. Jedenfalls sieht sich der Senat außerstande, in dem vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes den auf die Pflegeversicherung entfallenden Zeitaufwand im Einzelnen zu ermitteln, so dass zur Sicherstellung der Versorgung der Antragstellerin von einer zeitlichen Beschränkung des dem Grunde nach für 24 Stunden täglich anzunehmenden Anspruchs abgesehen worden ist.

Nach alledem war auf die Beschwerde der Antragstellerin hin der Beschluss des Sozialgerichts aufzuheben und die Antragsgegnerin zur Leistung von häuslicher Krankenpflege in dem verordneten Umfang zu verpflichten.

Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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