L 1 KR 228/18

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 12 KR 83/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 228/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch für das Berufungsverfahren zu tragen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit steht ein Anspruch auf Krankengeld.

Der 1963 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Er war bis Februar 2016 als Bauleiter tätig. Seit dem 30. Juli 2015 war er arbeitsunfähig aufgrund einer Neurasthenie (ICD10-Code F48.0). Die Beklagte gewährte ihm Krankengeld. Die Folgebescheinigungen des Facharztes für Allgemeinmedizin F vom 17. August 2015 und später diagnostizieren eine rezidivierende depressive Störung (F33.9). Der Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie/Psychoanalyse Dr. S attestierte am 8. September 2015 und in den Folgebescheinigungen Arbeitsunfähigkeit wegen einer schweren depressiven Störung bzw. Episode (F32.2).

Unter dem 29. September 2015 gab der Kläger auf einem Auszahlschein der Beklagten an, für die Zeit vom 6. November 2015 bis zum 22. November 2015 einen Urlaub zu planen. Aus Anlass ihrer Silberhochzeit hatten seine Ehefrau und er bereits im Februar 2015 eine Kreuzfahrt mit Start in der Dominikanischen Republik gebucht.

Am 22. Oktober 2015 bescheinigte Dr. S andauernde Arbeitsunfähigkeit wegen schwerer depressiver Störung voraussichtlich bis 30. November 2015. Die Beklagte bat ihn daraufhin um eine Stellungnahme sowie ihren Sozialmedizinischen Dienst (SMD) um Begutachtung. Der SMD gelangte nach Untersuchung des Klägers am 14. Oktober 2015 durch die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie H in der Stellungnahme vom 22. Oktober 2015 zum Ergebnis, beim Kläger bestehe eine schwere depressive Episode und Arbeitsunfähigkeit. In einer weiteren Stellungnahme vom 3. November 2015 für den SMD nach Aktenlage kam die Fachärztin H dann aber zu dem Ergebnis, dass der Kläger seine zuletzt verrichtete Tätigkeit ab dem 5. November 2015 wieder ausführen könne. Er plane eine Kreuzfahrt in die Karibik, die Anreise erfolge mit Zug und Flugzeug. Aus sozialmedizinischer Sicht sei deshalb davon auszugehen, dass es zu einer deutlichen Reduktion von Interessenverlust und Antriebsminderung gekommen sei. Der Versicherte sei in der Lage, eine Reise ins Ausland zu unternehmen und dabei Verkehrsmittel wie Flugzeug, Zug und Schiff zu benutzen. Aus sozialmedizinischer Sicht sei es zu einer deutlichen Verbesserung des psychopathologischen Befindens des Versicherten gekommen. Mit Bescheid vom 4. November 2015 lehnte die Beklagte daraufhin die Zahlung von Krankengeld über den 5. November 2015 hinaus ab. Das Schreiben fand der Kläger nach seinem Urlaub vor und erhob Widerspruch. Dr. S stellte am 23. November 2015 eine Folgebescheinigung bis 9. Dezember 2015 aus und attestierte ferner unter dem 4. Dezember 2015, dass bei der letzten Konsultation am 23. November 2015 weiterhin ein schweres depressives Syndrom vorgelegen habe, der Kläger weiterhin arbeitsunfähig gewesen sei.

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie J des SMD untersuchte daraufhin den Kläger am 8. Januar 2016 noch einmal. Der SMD gelangte in seiner Stellungnahme vom 11. Januar 2016 erneut zu dem Ergebnis, dass die Arbeitsunfähigkeit am 5. November 2015 beendet gewesen sei. Der Kläger befinde sich aktuell in der Remissionsphase. Aufgrund des ausreichenden Antriebs sowie des Nichtvorhandenseins von Interessenverlust könne eine depressive Störung nicht diagnostiziert werden. Die beim Kläger bestehenden kognitiven Defizite hätten nicht das Ausmaß erreicht, die weiterhin Arbeitsunfähigkeit begründe.

Mit Widerspruchsbescheid vom 15. Februar 2016 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 17. März 2016 Klage beim Sozialgericht Cottbus (SG) erhoben. Zu deren Begründung hat er sein bisheriges Vorbringen wiederholt. Ergänzend hat er ausgeführt, Dr. S habe die Reise befürwortet und sei davon ausgegangen, dass mit ihr eine positive Beeinflussung des Krankheitszustandes erreicht werden könne. Um die organisatorische Vorbereitung und Umsetzung der Reise habe sich ausschließlich seine Ehefrau gekümmert. Er habe von Dr. S zusätzlich Beruhigungsmittel verschrieben bekommen. Auf der Reise selbst sei er von sämtlichen etwa belastenden Pflichten befreit gewesen. Er habe sich während der Fahrt weitgehend zurückgezogen. Seine Arbeitsunfähigkeit für den durchgehenden Zeitraum 1. August 2016 bis 28. Februar 2017 ergebe sich auch aus den sechs mit der Beklagten abgestimmten Wiedereingliederungsplänen.

Im Auftrag des SG erstattete der Neurologe und Psychiater Prof. Dr. S nach Untersuchung des Klägers am 12. Dezember 2017 unter dem 8. Januar 2018 ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten.

Die Beklagte hat vorgetragen, das Gutachten des Prof. Stevens aus sozial-medizinischer Sicht nicht nachvollziehen zu können. Es enthalte Widersprüche. Die diagnostische Einschätzung entspreche nicht den Tatsachen.

Das SG hat die Beklagte mit Urteil vom 24. Mai 2018 unter Aufhebung des Bescheides vom 4. November 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Februar 2016 verurteilt, dem Kläger über den 5. November 2015 hinaus Krankengeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt, der Kläger habe auch über den 5. November 2015 hinaus an einer Krankheit gelitten, welche ihn arbeitsunfähig gemacht habe. Diagnostisch sei vom Vorliegen einer schweren depressiven Episode auszugehen. Dies folge vor allem aus den Attesten bzw. Befunden des Behandlers Dr. S, aber auch aus der Untersuchung der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie H des SMD vom 14. Oktober 2015. Auch im Gutachten des SMD vom 11. Januar 2016 werde Neurasthenie und eine schwere depressive Episode diagnostiziert. Der Gutachter Prof. Dr. S stelle zwar zum Zeitpunkt seiner Untersuchung das Vorliegen einer neurokognitiven Störung fest. Dies schließe jedoch im Jahre 2015 das Vorliegen eines schweren depressiven Syndroms nicht aus. Zwischen den beiden Stellungnahmen des SMD vom 22. Oktober 2015 auf der Grundlage der Untersuchung am 14. Oktober 2015 und der Stellungnahme vom 2. November 2015 läge nur ein kurzer Zeitraum, an dem sich sozialmedizinisch nichts geändert habe. Die Stellungnahme vom 2. November 2015 knüpfe nur an das damalige Vorhaben des Klägers an, anlässlich seiner Silberhochzeit in die Karibik zu fliegen. Der Entschluss zu dieser Reise sei bereits Monate zuvor erfolgt. Der Kläger sei auch nicht alleine in den Urlaub geflogen, sondern zusammen mit seiner Ehefrau. Allein der Umstand, dass der Kläger in der Lage gewesen sei, die Reise zu unternehmen, führe nicht zwingend zu einer deutlichen Besserung des psycho-pathologischen Befindens. Erst recht sei den Ausführungen des SMD nicht zu folgen, dies schon vor Reiseantritt feststellen zu können. Auch die weitere Stellungnahme vom 11. Januar 2016 auf Grundlage der Untersuchung vom 8. Januar 2016 knüpfe (nur) an die Reise an. Die sozialmedizinische Stellungnahme berücksichtige u. a., dass dem Widerspruchsschreiben zu entnehmen sei, dass der Gesundheitszustand des Klägers durch den Urlaub etwas verbessert worden sei. Hier gehe es jedoch nicht um den Zustand nach dem Karibik-Urlaub, sondern um den zuvor. Denn dieser habe am 6. November 2015 begonnen, also an dem Tag, zu welchem die Beklagte vom Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit ausgegangen sei. Auch die sozial-medizinische Stellungnahme vom 28. September 2017 trage die Argumentation der Beklagten nicht. Letztlich seien die Befundberichte des Behandlers Dr. S vom 4. Dezember 2015, 23. Februar 2016 und vom 12. Mai 2017 zu würdigen gewesen. Dr. Schiefer habe durchgehend und kontinuierlich nicht nur dieselben Diagnosen gestellt, sondern auch dieselben sozial-medizinischen Folgerungen. Dies gewinne an Bedeutung, wenn man berücksichtige, dass der Kläger seit vielen Jahren bei Dr. S in Behandlung sei.

Gegen diese ihr am 25. Juni 2018 zugestellte Entscheidung richtet sich die Berufung der Beklagten vom 18. Juli 2018.

Zu deren Begründung hat sie die Kritik am Gutachten des Prof. Dr. Swiederholt. Der Schweregrad einer psychischen Erkrankung lasse sich auch aus der Beeinträchtigung von Aktivität und Partizipation beurteilen. Demzufolge müssten sich die Einschränkungen durch die Erkrankung im häuslichen Leistungsbereich und im Bereich der Freizeitgestaltung widerspiegeln. Durch seine Teilnahme an der Kreuzfahrtreise habe der Kläger bewiesen, dass diese Einschränkungen nicht vorlägen und somit zu diesem Zeitpunkt keine schwere Aktivitätseinschränkung vorgelegen habe. Die Diagnose R41.8 sei zuvor nie diagnostiziert worden und nicht nachzuvollziehen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 24. August 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt die angegriffene Entscheidung. Der Kläger begehre Krankengeld bis einschließlich 28. Februar 2017.

Auf die erwähnten ärztlichen Atteste, Befundberichte und Gutachten wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Es konnte im schriftlichen Verfahren und durch den Berichterstatter alleine nach §§ 155 Abs. 3, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entschieden werden. Beide Beteiligten haben sich im Erörterungstermin am 4. Juni 2019 mit einer solchen Vorgehensweise einverstanden erklärt.

Der Berufung bleibt Erfolg versagt. Das SG hat den Bescheid vom 4. November 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Februar 2016 zu Recht aufgehoben, weil die Ablehnung von Krankengeld rechtswidrig ist und dem Kläger vielmehr ein Anspruch auf Krankengeld über den 5. November 2015 hinaus zusteht.

Nach § 44 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) setzt der Anspruch auf Krankengeld voraus, dass Versicherte wegen Krankheit arbeitsunfähig sind. Das Gesetz erläutert dabei nicht näher, was "Arbeitsunfähigkeit" meint. Hat ein Versicherter – wie hier – im Beurteilungszeitpunkt einen Arbeitsplatz inne, kommt es darauf an, ob er die dort an ihn gestellten gesundheitlichen Anforderungen noch erfüllen kann. Verliert er den Arbeitsplatz, bleibt die frühere Tätigkeit als Bezugspunkt erhalten, allerdings sind nicht mehr die konkreten Verhältnisse am früheren Arbeitsplatz maßgebend, sondern es ist nunmehr abstrakt auf die Art der zuletzt ausgeübten Beschäftigung abzustellen. Der Versicherte darf dann auf gleiche oder ähnlich geartete Tätigkeiten "verwiesen werden" (Bundessozialgericht, Urteil vom 19. September 2002 – B 1 KR 11/02 R – juris – Rdnr. 16 mit weiteren Nachweisen). Maßgeblich ist danach hier die vom Kläger zuletzt ausgeübte anspruchsvolle Tätigkeit als Bauleiter. Zu Recht hat das SG festgestellt, dass der Kläger über den 5. November 2015 hinaus arbeitsunfähig gewesen ist. Der Senat teilt die Überzeugung des SG, dass der Kläger im maßgeblichen Zeitraum aufgrund seiner depressiven Erkrankung mit den Folgen einer verminderten Antriebskraft und seinen Ängsten ungeachtet der geplanten bzw. durchgeführten Silberhochzeits-Reise nicht in der Lage war, die Tätigkeit eines Bauleiters durchzuführen. Der Schluss von bestehender Reisefähigkeit auf Arbeitsfähigkeit ist nicht hingegen nicht tragfähig. Ihm stehen die Befunde der behandelnden Ärzte, die eigenen Befundung des SMD und die Erkenntnisse des Gerichtssachverständigen entgegen. Dies hat das SG im Einzelnen ausführlich dargestellt. Auf dessen Ausführungen wird gemäß § 153 Absatz 2 SGG verwiesen. Ganz allgemein ist eine Teilnahme an einer Reise, mit der man sich um nichts kümmern muss etwas anderes als die Bewältigung einer stressbehafteten Tätigkeit wie der eines Bauleiters. Zeitnah am 23. November 2015 stellte vor allem aber der langjährige Behandler Dr. S ein weiterhin schweres depressives Syndrom fest. Im Vordergrund stünden deutliche Herabgestimmtheit mit freisteigenden und überwertigen Ängsten, eine ausgeprägte Grübelneigung, deutliche Schlafstörungen und eine erhöhte Erschöpfbarkeit. Weiterhin ziehe sich sein Patient von sozialen Kontakten zurück. Es bestünden zwar leichte Besserungstendenzen. Dr. S gelangte zum damaligen zeitnahen Zeitpunkt aber zu dem Ergebnis, dass ein Zwang zur Arbeit eine dramatische Verschlechterung des depressiven Zustandes mit der Gefahr einer erneut auftretenden Suizidalität nach sich zöge.

Auch der Gerichtssachverständige hat Arbeitsunfähigkeit bejaht, indem er äußert, es sei "wohl" richtig, eine solche zu attestieren. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass der Kläger vermutlich bereits seit Juli 2015 an einer neurokognitiven Störung in einer solchen Ausprägung gelitten habe, die Arbeitsunfähigkeit in dem damaligen Tätigkeitsfeld (als Bauleiter) begründe. Die Kritik des SMD an der Diagnose des Gerichtsgutachters einer kognitiven Störung unbekannter Ursache (R41.8) ist nicht durchgreifend. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 8. Mai 2018 hat der Gerichtssachverständige nämlich in sich widerspruchsfrei und für den Senat überzeugend ausgeführt, dass zwar formal zuvor niemand eine solche Diagnose gestellt habe, dass jedoch der Gutachterin H bereits bei der Untersuchung am 22. Oktober 2015 eine kognitive Verlangsamung aufgefallen sei. Dr. S habe sich im Mai 2017 veranlasst gesehen, Testverfahren für das Vorliegen einer Alzheimer-Demenz durchzuführen. Der Kläger selbst hat zudem Konzentrationsstörungen beklagt. Es kann aber letztlich dahingestellt bleiben, ob der Fokus mehr auf die Konzentrationsschwierigkeiten als eigener Krankheit oder die depressive Erkrankung mit ihren negativen Folgen zu legen ist. Maßgeblich ist die Folge der Arbeitsunfähigkeit.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis in der Sache.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Absatz 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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