L 6 AS 478/19 B

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
6
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 12 AS 860/18
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 478/19 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zur Aussetzung eines sozialgerichtlichen Verfahrens wegen fortdauernder strafrechtlicher Ermittlung mit Bedeutung für die Beweiswürdigung.
Die Beschwerde der Kläger gegen den Aussetzungsbeschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 24. September 2019 wird zurückgewiesen.

Gründe:

Die Beschwerde der Kläger mit dem sinngemäß gestellten Antrag,

den Aussetzungsbeschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 24. September 2019 aufzuheben,

ist zulässig, aber nicht begründet. Der Aussetzungsbeschluss ist nicht zu beanstanden.

Nach § 114 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht, wenn sich im Laufe eines Rechtsstreits der Verdacht einer Straftat ergibt, deren Ermittlung auf die Entscheidung von Einfluss ist, die Aussetzung der Verhandlung bis zur Erledigung des Strafverfahrens anordnen. Die Vorschrift ist entsprechend anzuwenden, wenn das Straf- beziehungsweise Ermittlungsverfahren bereits vor Klageerhebung anhängig war (vgl. für viele LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 20. Juni 2007 – L 19 B 12/07 AL –, juris, Rn. 8; Keller, in: Meyer-Ladewig u.a., SGG – Kommentar, 12. Aufl. 2017, § 114 Rn. 4; Guttenberger, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 114 SGG Rn. 40; Leopold, in: Roos/Wahrendorf, SGG, § 114 Rn. 43; zur gleichlautenden Regelung in § 149 Abs. 1 Zivilprozessordnung – ZPO – ebenso BGH, Beschl. v. 24. April 2018 – VI ZB 52/16 –, NJW 2018, 2267 und Greger, in: Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 149 Rn. 1). Dies ergibt sich namentlich aus dem Zweck der Regelung, die es dem jeweiligen Sozialgericht ermöglichen soll, die Ermittlungen und den Ausgang eines Strafverfahrens abzuwarten, um abweichende Entscheidungen und nicht prozessökonomische Mehrarbeit zu vermeiden und die auf Grund der häufig effizienteren Ermittlungsmethoden der Strafverfolgungsbehörden und der Strafgerichte gewonnenen Ergebnisse des Strafverfahrens zu nutzen.

Ausreichend ist bereits nach dem Wortlaut der Vorschrift, dass die strafverfahrensrechtlichen Ermittlungen Einfluss auf die Entscheidung des Sozialgerichts haben können (vgl. für ein dementsprechend weites Verständnis der Vorschrift für viele: LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 15. November 2012 – L 1 KR 421/12 B –, juris, Rn. 5). Es kommt daher nicht darauf an, dass ein identischer Sachverhalt Gegenstand des Strafverfahrens einerseits und des sozialgerichtlichen Verfahrens andererseits ist. Ausreichend ist vielmehr, dass die Ergebnisse des Strafverfahrens für die Beweiswürdigung des Sozialgerichts Bedeutung haben können (vgl. nochmals Keller, in: Meyer-Ladewig u.a., SGG – Kommentar, 12. Aufl. 2017, § 114 Rn. 4; Leopold, in: Roos/Wahrendorf, SGG, § 114 Rn. 44; zu § 149 Abs. 1 ZPO: Fritsche, in: MüKo-ZPO, § 149 Rn. 1).

Liegen diese Voraussetzungen vor, entscheidet das Gericht der Hauptsache nach Ermessen über die Aussetzung. Dabei hat es die gegebenenfalls für eine Aussetzung sprechenden Gründe, namentlich des Ausschlusses widersprüchlicher Entscheidungen, der Prozessökonomie und der besonderen Fachkunde der Strafverfolgungsbehörden, mit den Interessen der Beteiligten abzuwägen (vgl. hierzu Keller, in: Meyer-Ladewig u.a., SGG – Kommentar, 12. Aufl. 2017, § 114 Rn. 7; Leopold, in: Roos/Wahrendorf, SGG, § 114 Rn. 70), also insbesondere den Vorteil der – voraussichtlich einfacheren und besseren – Klärung des Sachverhalts einerseits mit dem Nachteil einer möglichen Verzögerung des eigenen Rechtsstreits (vgl. BGH, Beschl. v. 17. November 2009 – VI ZB 58/08 –, NJW-RR 2010, 423 [424; Rn. 10]; Fritsche, in: MüKo-ZPO, § 149 Rn. 9; LSG Baden-Württemberg, Beschl. v. 23. Mai 2014 – L 4 KR 553/14 B –, juris, Rn. 18). Die Ermessensausübung ist – grundsätzlich anders als das Vorliegen der Eingangsvoraussetzungen – durch das Beschwerdegericht nur eingeschränkt, nämlich auf Ermessenfehler hin, zu prüfen (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig u.a., SGG – Kommentar, 12. Aufl. 2017, § 114 Rn. 9; Leopold, in: Roos/Wahrendorf, SGG, § 114 Rn. 78); die Gegenauffassung, die ein eigenes Ermessen des Beschwerdegerichts annimmt (vgl. BFH, Beschl. v. 9. Dezember 2009 – IV B 101/09, juris, Rn. 8 – zur vergleichbaren Regelung aus § 74 Finanzgerichtsordnung –), kann angesichts der Systematik von Ermessensentscheidungen und ihrer Überprüfung letztlich nicht überzeugen, nachdem das Aussetzungsermessen gesetzlich dem Gericht der Hauptsache eingeräumt ist.

Ausgehend von diesen Grundsätzen kann die Beschwerde keinen Erfolg haben: Zunächst sind die strafrechtlichen Ermittlungen auch nach Auffassung des Senats für das sozialgerichtliche Verfahren vorgreiflich in dem oben dargestellten Sinne, so dass offenbleiben kann, ob insoweit allein auf die Rechtsauffassung des Ausgangsgerichts abzustellen ist oder das Beschwerdegericht dies (vollständig) zu prüfen hat (vgl. für eine beschränkte Kontrolle etwa LSG Baden-Württemberg, Beschl. v. 23. Mai 2014 – L 4 KR 553/14 B –, juris, Rn. 17; Keller, in: Meyer-Ladewig u.a., SGG – Kommentar, 12. Aufl. 2017, § 114 Rn. 9): Zwar beziehen sich die strafrechtlichen Ermittlungen auf Gegebenheiten, die vor dem streitigen Leistungszeitraum ab dem 1. Januar 2018 stattgefunden haben. Dennoch sind sie von erheblicher Bedeutung für die Beweiswürdigung im hiesigen Verfahren: Zwar lässt sich eine Ablehnung laufender Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) nicht durch den schlichten Verweis auf in der Vergangenheit liegende Umstände oder daran anknüpfende Mutmaßungen rechtfertigen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 –, BVerfGK 5, 237; BVerfG, Beschl. v. 12.9.2016 – 1 BvR 1630/16 –, BeckRS 2016, 51523 [Rn. 13]). Allein die strafrechtliche Bestätigung des Verdachts der Beklagten, dass der Kläger zu 1. in der Vergangenheit aus der von ihm weiterhin in Abrede gestellten Beteiligung an einem sogenannten Hawala-System Provisionseinnahmen gehabt habe, könnte daher die Abweisung der Klage nicht tragen. Wohl aber wäre es zulässig und geboten, wenn das Gericht in diesem Fall von ihm weitere Aufklärung zu den daran anknüpfenden (und im Wesentlichen in seiner Sphäre liegenden) Umständen verlangte, namentlich dass und wann die entsprechenden Einnahmen weggefallen sind und dass und wie die früher erzielten Provisionen verbraucht worden sind, so dass im streitigen Zeitraum auch kein berücksichtigungsfähiges Vermögen mehr vorhanden war. Allein der Umstand, dass im Rahmen einer Wohnungsdurchsuchung bei dem Kläger zu 1. eine große Summe Bargeld beschlagnahmt wurde, lässt den Aufklärungsbedarf schon deswegen nicht entfallen, weil nicht selbstverständlich ist, dass damit alle ihm zur Verfügung stehenden Geldmittel aufgefunden wurden. Umgekehrt wäre er weiterer Darlegungen hierzu enthoben, wenn die strafrechtlichen Ermittlungen sein Vorbringen bestätigen sollten.

Auch lässt der angegriffene Beschluss eine ausreichende Ermessensausübung (noch) erkennen. Das Sozialgericht hat sich zwar nicht im Einzelnen mit den für oder gegen die Aussetzung sprechenden Umständen auseinandergesetzt: Der Verweis auf die Sachgerechtigkeit seiner Entscheidung lässt aber doch erkennen, dass es seinen Ermessensspielraum gesehen hat. Vor dem Hintergrund, dass im konkreten Fall nicht zu sehen ist, wie das Sozialgericht die relevanten Umstände schneller als die Strafverfolgungsbehörden ermitteln könnte, ist es nach Auffassung des Senats für die Begründung der Ermessensentscheidung (noch) ausreichend, dass auch das Sozialgericht auf die laufenden Ermittlungen als Beweggrund für seine Aussetzungsentscheidung verwiesen hat.

Das gilt namentlich deswegen, da nicht ersichtlich ist, welche gegenläufigen Interessen der Kläger in die Abwägung einzustellen gewesen wären: Insbesondere ist nicht erkennbar, dass ohne die Aussetzung,.wenn das Sozialgericht also selbst versucht hätte, die notwendigen Ermittlungen durchzuführen, ein schnellerer Verfahrensabschluss hätte herbeigeführt werden könnte. Insofern erweist sich der Einwand der Kläger, dass eine Aussetzung unverhältnismäßig und nicht sachgerecht sei, als nicht zutreffend.

Die Kläger gehen insofern möglicherweise davon aus, dass das Sozialgericht von einer vollständigen Aufklärung absehen könnte. Der Aussetzungsentscheidung liegt demgegenüber erkennbar die Auffassung zugrunde, dass der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft eine größere Geldsumme beschlagnahmt hat, nicht dazu führt, dass die näheren Umstände der Beteiligung des Klägers zu 1. an dem Hawala-System für den nach der Beschlagnahme liegenden Zeitraum ab dem 1. Januar 2018 ohne Bedeutung wären. Da der Senat diese Auffassung, wie bereits ausgeführt, teilt, kommt es nicht darauf an, ob er diese Rechtsauffassung des Sozialgerichts im Rahmen der Beschwerde überhaupt (in vollem Umfang) prüfen darf oder in diesem Rahmen jedenfalls grundsätzlich von dieser auszugehen hat (vgl. zu dieser Frage nur Keller, in: Meyer-Ladewig u.a., SGG – Kommentar, 12. Aufl. 2017, § 114 Rn. 9 m.w.Nw.).

Das Sozialgericht wird sich auf Grund dieser Zusammenhänge eine sichere Überzeugung von der Hilfebedürftigkeit der Kläger im streitigen Zeitraum nur bilden können, wenn es entweder selbst oder unter Auswertung der strafverfahrensrechtlichen Ermittlungen zu einer tragfähigen Beurteilung der Beteiligung des Klägers zu 1. an dem Hawala-System gelangt und – für den Fall, dass sich eine nach den bisherigen Ermittlungsergebnissen naheliegende Beteiligung des Klägers zu 1. feststellen lässt – dieser sich überzeugend zur Einstellung entsprechender Tätigkeiten und dem vollständigen Verbrauch daraus herrührender Provisionseinnahmen einlässt. Es ist nicht zu sehen, dass dies dem Sozialgericht mit gleicher Überzeugungskraft (und schneller) gelingen könnte, wenn es versuchte, die notwendigen Ermittlungen selbst durchzuführen.

Auch die Auffassung der Kläger, dass eine Aussetzung deswegen nicht sachgerecht sei, weil es ihnen mit "den eingeschränkten Beweismitteln des einstweiligen Rechtsschutzes" nicht gelungen sei, die streitigen Leistungen zu erstreiten, lässt einen gegen die Aussetzung sprechenden (Ermessens-)Gesichtspunkt nicht erkennen. Tatsächlich sind die zu Lasten der Kläger wirkenden (materiellen) Beweisanforderungen im Hauptsacheverfahren mit Blick auf die Verteilung der materiellen Beweislast sogar höher als im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, nachdem das Sozialgericht ihnen die streitigen Leistungen nur zusprechen kann, wenn es von ihrer Hilfebedürftigkeit überzeugt ist. Das wird, wie bereits ausgeführt, nur möglich sein, wenn die Beteiligung des Klägers zu 1. am Hawala-System, soweit möglich, aufgeklärt ist und damit feststeht, ob und gegebenenfalls welche Auswirkungen sich daraus für den hier streitigen Zeitraum ergeben. Insofern ist bei Licht betrachtet die Aussetzung durchaus auch im Interesse der Kläger, weil ein sogenanntes non-liquet, also verbleibende Zweifel an ihrer Hilfebedürftigkeit, zu ihren Lasten gehen müsste und daher – anders als von ihnen offenbar angenommen – eine Entscheidung zu ihren Gunsten vor einer abschließenden Klärung der damit zusammenhängenden Fragen nicht in Betracht kommen dürfte.

Um eine abschließende Entscheidung in der Hauptsache, die eine umfassende Klärung des Sachverhalts voraussetzt, zu ermöglichen, ist eine Aussetzung daher, wenn nicht sogar zwingend geboten, so doch zumindest sehr naheliegend. Ob den Klägern in der Zwischenzeit vorläufig Leistungen – sei es auf der Grundlage einer vorläufigen Entscheidung der Beklagten nach § 41a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II, sei es auf der Grundlage einer einstweiligen gerichtlichen Anordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG – zu gewähren sind, ist hier nicht zu entscheiden. Die Beweisanforderungen beziehungsweise die Anforderungen an die Glaubhaftmachung im Eilverfahren sind für die Kläger jedenfalls, wie erwähnt, nicht ungünstiger als in der Hauptsache.

Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen, da der Streit um die Aussetzung keinen selbständigen Verfahrensabschnitt darstellt, sondern Bestandteil des Hauptsacheverfahrens ist (vgl. ebs. BGH, Beschl. v. 12. Dezember 2005 – II BZ 30/04 –, MDR 2006, 704; LSG Baden-Württemberg, Beschl. v. 22. August 2006 – L 8 AL 2352/06 B –, juris, Rn. 5; Keller, in: Meyer-Ladewig u.a., SGG – Kommentar, 12. Aufl. 2017, § 114 Rn. 9).

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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