L 11 VG 17/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
11
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 48 VG 24/17
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 11 VG 17/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die bloße Drohung mit einer, wenn auch erheblichen Gewaltanwendung oder Schädigung für einen tätlichen Angriff reicht nicht aus. Denn dieser Umstand allein stellt über die psychische Wirkung hinaus noch keinen tatsächlichen physischen „Angriff“ dar, der aber notwendig ist, um von einem tätlichen Angriff ausgehen zu können (Anschluss an BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 V 1/13 R).
2. Bei den Ausführungen in einem Bescheid, dass eine Schädigungsfolge hervorgerufen durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 1 OEG sei, handelt es sich bezogen auf das Vorliegen eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs nur um ein unselbständiges Begründungselement, das nicht der Bestandskraft fähig ist (Anschluss an BSG, Urteil vom 11. März 1998 - B 9 VG 3/96 R).
3. Bei der Beurteilung des Grades der MdE/des GdS sind die von dem Versorgungsträger als Schädigungsfolgen bestandskräftig anerkannten Gesundheitsstörungen zu berücksichtigen; an diese rechtlich selbständigen Feststellungen ist der Versorgungsträger ebenso gebunden wie das Gericht; auf deren Rechtmäßigkeit kommt es insoweit nicht an.
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 11. April 2019 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch nicht für das Berufungsverfahren zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Der 1961 auf dem Gebiet der heutigen Ukraine geborene Kläger ist jüdischen Glaubens. Seit November 2004 war er als Musiklehrer an einer Gesamtschule in N angestellt. Am 9. Dezember 2004 ereignete sich gegen 13:20 Uhr ein Ereignis, das der Kläger in einer polizeilichen Anzeige wie folgt beschrieb: Während er in der 6. Unterrichtsstunde eine 7. Klasse unterrichtet habe, habe es an die von außen mit einem nicht öffnenden Knauf versehene Tür zum Klassenzimmer geklopft. Darauf habe er zunächst einen Schüler zum Nachsehen geschickt und sich nachfolgend selbst zur Tür gegeben, da fremde Personen ihn zu sprechen verlangt hätten. Vor der Tür hätten drei männliche Jugendliche, welche mit schweren Stiefeln und sogenannten Bomberjacken bekleidet gewesen seien, gestanden. Diese hätten den Kläger aufgefordert, zu ihnen herauszukommen, da sie Fragen an ihn hätten. Der Kläger habe erklärt, dass er Unterricht habe und nicht gestört werden wolle. Der Jugendliche, der gesprochen habe, sei aufdringlicher geworden und habe sich dicht in Richtung des Klägers bewegt, der daraufhin die Tür geschlossen habe. Es sei dann erneut an die Tür gehämmert worden. Der Kläger habe die Tür nur ein Stück weit geöffnet, sei herausgetreten und habe gefragt, worum es gehe. Der Wortführer der Gruppe habe ihm vorgeworfen, sich über "Rechte" lustig zu machen; der Kläger habe in der Vergangenheit gesagt, wenn er Rechte sehe, dann schneide er ihnen "die Eier ab". Dabei sei er zunehmend aggressiver geworden. Der Kläger habe dann der Gruppe mitgeteilt, dass sie die Schule sofort zu verlassen hätten. Der Wortführer habe gesagt, dass er wisse, wer er, der Kläger, sei, und dass er seinen Weg zur Schule und zurück kenne und ihn finden werde. Daraufhin habe der Kläger die Tür geschlossen, wobei er einen Widerstand von außen bemerkt habe. Es habe laute Schläge gegen die Tür gegeben, durch diese Schläge habe man dem Kläger Angst machen wollen. Ihm seien mit Worten Schläge angedroht worden. Er habe dann mit dem Handy einer Schülerin die Polizei verständigt. Die Jugendlichen hätten draußen vor dem Fenster gestanden, hätten die Möglichkeit geprüft, von draußen in Raum zu gelangen, ihn mit dem Handy gesehen und seien dann letztlich abgezogen.

Bei der polizeilichen Vernehmung am 16. Dezember 2004 beschrieb der Kläger das Ereignis wie folgt: Er habe in der 6. Stunde eine 7. Klasse unterrichtet. Kurz nach dem Klingeln zum Unterrichtsbeginn habe es an der Tür zum Musikraum gehämmert. Insoweit habe er ein lautes Klopfen wahrgenommen, ca. viermal. Er habe dann einen Schüler darum gebeten, die Tür aufzumachen. Der Schüler habe die Tür geöffnet und nachgeschaut. Dann habe er die Tür aber auch gleich wieder geschlossen. Er habe zu ihm, den Kläger, gesagt jemand wolle ihn sprechen, aber er solle bitte nicht hingehen. Danach sei wieder an die Tür geklopft worden und zwar einmal ziemlich laut. Erneut habe einer der Schüler die Tür einen kleinen Spalt weit geöffnet und sofort wieder zugemacht. Ein anderer Schüler habe zu dem Kläger gesagt, er solle die Tür nicht aufmachen und nicht hingehen, die "Rechten" seien da. Als er gesehen habe, dass die Schüler Angst bekommen haben, sei er selbst zur Tür gegangenen und habe sie geöffnet. Er habe die Tür gleich wieder schließen wollen, dann aber gemerkt, dass einer der Täter die Tür am Knauf festgehalten habe. Er habe den Eindruck gehabt, dass zwei der Täter versucht hätten, in die Klasse zu gelangen. Er habe es aber trotzdem geschafft, die Tür zu schließen. Danach habe es wieder geklopft, woraufhin er die Tür wieder aufgemacht habe. Er habe dann die Täter angesprochen und gefragt, was sie wollen und dass sie den Unterricht stören und sie sofort das Schulgelände verlassen sollten. Es sei dann zu einer verbalen Auseinandersetzung gekommen, in deren Verlauf die Täter geäußert hätten, dass er, der Kläger, sich über die Täter in seinem Unterricht lustig machen würde. Einer der Täter habe zu ihm gesagt, er solle rauskommen, "wir klären das gleich". Dies habe er in einem sehr aggressiven Ton gesagt. Er habe dann mit Mühe und Not die Tür wieder schließen können. Kurz zuvor habe sich ein Täter in seine Richtung genähert. Zuvor habe dieser Täter mit den Händen in den Hosentaschen dagestanden, als er auf den Kläger zugekommen sei, habe er die Hände aus den Taschen genommen und eine Hand in Richtung des Klägers gestreckt, so als ob er den Kläger habe festhalten wollen. Er habe den Kläger aber nicht anfassen können, weil dieser die Tür schon geschlossen habe. Als er die Tür geschlossen habe, habe er durch die geschlossene Tür gehört, wie einer der Täter gesagt habe: "Wir schneiden Dir jetzt die Eier ab.". Der Kläger habe gesagt, dass die Täter weggehen sollen. Nachdem er die Tür zugemacht habe, habe es noch ziemlich lange vom Flur aus an der Tür gehämmert. Er habe dann durch die geschlossene Tür gehört, dass einer von den Tätern gebrüllt habe: "Eh Alter, wir kriegen Dich, wir finden Dich, wir kennen alle Deine Wege". Er, der Kläger, glaube noch, dass die Täter gesagt hätten, dass sie ihn kennen würden. Einer der Täter habe noch geschrien, dass wir uns am Bahnhof sehen würden. Während diese Worte gerufen worden sein, sei ca. drei- bis viermal gegen die Tür geschlagen worden. Er habe dann die Polizei gerufen. Er habe gesehen, dass die Täter innegehalten und von außen in den Musikraum geschaut hätten. Sie seien schließlich weggegangen.

Insgesamt wurde als Beschuldigte vier männliche Heranwachsenden ermittelt und zwar A M (M), P G (G; Wortführer), K S (S) und T K (K). Der Kläger war wegen einer Anpassungsstörung vom 10. Dezember 2004 bis zum 22. Juni 2005 arbeitsunfähig erkrankt (Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung e. V.).

Im April 2005 ging bei dem Beklagten über das Land Berlin – vertreten durch das Landesamt für Gesundheit und Soziales – ein am 25. Februar 2005 bei der Innungskrankenkasse eingegangener Fragebogen zu einem Arbeitsunfall ein.

Am 17. Juni 2005 beantragte der Kläger Beschädigtenversorgung nach dem OEG bei dem Beklagten, nach dem er zuvor bei der dafür zuständigen Unfallkasse Brandenburg erfolglos einen Antrag auf Anerkennung eines Arbeitsunfalls, die Feststellung von Unfallfolgen und die Gewährung einer Verletztenrente gestellt hatte. Die Unfallkasse hatte ein klinisch-psychologisches Zusammenhangsgutachten bei der Diplom-Psychologin und psychologischen Psychotherapeutin K vom 25. Juni 2005 und ein wissenschaftlich begründetes nervenärztliches Zusammenhangsgutachten bei dem Facharzt für Nervenheilkunde und Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin Dr. Dr. W vom 9. Juli 2005 eingeholt.

G wurde durch Urteil des Amtsgerichts vom 5. Februar 2007 () wegen gemeinschaftlicher Sachbeschädigung und Bedrohung zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 10,- Euro verurteilt. Die Verurteilung wegen Bedrohung bezieht sich auf das hier streitgegenständliche Ereignis.

Der Beklagte holte unter anderem bei der Ärztin für Psychiatrie S ein psychiatrisches Kausalitätsgutachten vom 21. Februar 2008 ein, dass diese aufgrund ambulanter Untersuchung des Klägers erstellte und in dem sie zu der Einschätzung gelangte, dass bei dem Kläger eine bipolare affektive Störung vorliege, die nicht auf die am 9. Dezember 2004 erlittenen Bedrohungen zurückzuführen seien. In kausalem Zusammenhang mit dem schädigenden Ereignis stehe indes eine Anpassungsstörung. Es werde empfohlen, eine Anpassungsstörung mit Angst und Depression bis August 2006 (Schreibfehler: im Fließtext wird ausdrücklich August 2005 genannt) mit dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 40 v. H. zu bewerten. Danach sei wegen der Verschiebung der Wesensgrundlage keine Anpassungsstörung mehr zu berücksichtigen.

Mit Bescheid vom 10. April 2008 erkannte der Beklagte die Gesundheitsstörung Anpassungsstörung als hervorgerufen durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 1 OEG an. Folgen dieser Schädigung lägen bei dem Kläger nicht mehr vor, weil die gesundheitliche Beeinträchtigung nur vorübergehender Art gewesen sei. Die ab Sommer 2005 weiterbestandene depressive Symptomatik sei im Ergebnis fachärztlicher und versorgungsärztlichen Prüfung nicht mehr dem schädigenden Ereignis, sondern anderen Ursachen zuzuordnen. Der Kläger habe ab dem 9. Dezember 2004 bis zur Abheilung innerhalb von sechs Monaten einen Anspruch auf Heilbehandlung für die Anpassungsstörung. Darüber hinaus werde der Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG abgelehnt. Die Leistung werde gemäß § 65 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) unter dem Vorbehalt der Anerkennung des Anspruchs durch den zuständigen Unfallversicherungsträger gewährt. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein. Im Einverständnis mit dem Kläger ruhte das Verfahren mit Blick auf das Verfahren gegen die Unfallversicherung vor dem Sozialgericht Berlin. In diesem Verfahren hat das Sozialgericht durch Urteil vom 4. März 2014 die Klage gegen den Unfallversicherungsträger abgewiesen, nachdem es ein nervenfachärztliches Gutachten bei dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. M vom 21. Januar 2011 (Diagnosen: bipolare affektive Störung, gegenwärtig schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome; keine Schädigungsfolge) und ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten der Psychiaterin Dr. B vom 28. August 2013 (Diagnosen: rezidivierende depressive Störung (als depressive Symptomatik mit dem Grad der MdE von 30 v. H. bewertet), Panikattacken (als Angstattacken mit dem Grad der MdE von 20 v. H bewertet), posttraumatische Belastungsstörung (Grad der MdE 30 v. H.), andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung; Ereignis vom 9. Dezember 2004 habe zu gravierender Verschlimmerung eines vorbestehenden Leidens geführt; Gesamt-Grad der MdE 40 v. H.) eingeholt. Das hiergegen anhängige Berufungsverfahren ist am 23. September 2016 durch einen Vergleich beendet worden, mit dem sich die beklagte Unfallversicherung verpflichtet hat, unter Abänderung ihres Bescheides das Ereignis vom 9. Dezember 2004 als Arbeitsunfall festzustellen mit der Folge "Anpassungsstörung" und dem Kläger Verletztengeld unter Anrechnung des gezahlten Krankengeldes bis einschließlich August 2005 zu gewähren.

Anschließend wies der Beklagte den Widerspruch gegen seinen Bescheid vom 10. April 2008 durch Widerspruchsbescheid vom 2. Februar 2017 zurück und führte zur Begründung unter anderem aus, dass die getroffene Feststellung, wonach der Kläger am 9. Dezember 2004 Opfer im Sinne von § 1 OEG geworden sei, obwohl das Tatbestandsmerkmal "tätlicher Angriff" nicht erfüllt gewesen sei, rechtswidrig sei, wegen Fristablaufes aber nicht mehr zurückgenommen werden könne. Ungeachtet dessen könne der Kläger aus dieser rechtswidrigen Feststellung keine weitergehenden Rechte ableiten, weil auch nach nochmaliger Prüfung nach Abschluss des Streitverfahrens gegen die Unfallkasse eine auf die damalige Bedrohung zurückzuführende gesundheitliche Schädigung nicht mehr vorliege. Durch das Ereignis habe sich eine Anpassungsstörung als kurzfristige reaktive Störung entwickelt, die zu einer am 23. Juni 2005 endenden Arbeitsunfähigkeit geführt habe. Schädigungsunabhängig habe sich eine schwere psychische Störung entwickelt, bei der anderen lebensgeschichtliche und in der Persönlichkeit des Klägers angelegte Faktoren als wesentliche Ursache gelten müssten.

Hiergegen hat der Kläger am 20. Februar 2017 Klage erhoben.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht die auf Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung als Schädigung und auf die Gewährung von Leistungen nach dem Grad eine MdE von mindestens 30 v. H. gerichtete Klage durch Gerichtsbescheid vom 11. April 2019 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, hier liege bereits kein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG vor. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 1/13 R –), der sich das Gericht anschließe, setze ein tätlicher Angriff im Sinne des OEG eine unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende, gewaltsame physische Einwirkung voraus. Die bloße Drohung mit einer wenn auch erheblichen Gewaltanwendung oder Schädigung reiche damit für einen tätlichen Angriff nicht aus. Eine Bindung des Gerichts an die im Bescheid vom 10. April 2008 getroffene Feststellung bestehe nicht.

Gegen den ihm am 11. April 2019 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 8. Mai 2019 Berufung eingelegt.

Er meint, zu Unrecht habe sich das Sozialgericht auf die Entscheidung des BSG vom 16. Dezember 2014 berufen. Denn hier habe der Beklagte das schädigende Ereignis vom 9. Dezember 2004 als Einwirkung im Sinne des § 1 OEG anerkannt. Dieser Bescheid sei bestandskräftig und rechtswirksam und könne dementsprechend durch geänderte Rechtsprechung auch nicht zurückgenommen werden. Ausgehend von der verbalen Einwirkung auf den Kläger seien die gesundheitlichen Einschränkungen zu ermitteln. In diesem Zusammenhang sei auf ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten von Dr. B hinzuweisen, das im Verfahren gegen die Unfallkasse erstellt worden sei. Nach diesem Gutachten bestehe eine Kausalität zwischen der damaligen Schädigung und den jetzt bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Die verbalen Anschuldigungen und Äußerungen seien durchaus in der Lage gewesen, eine posttraumatische Belastungsstörung hervorzurufen. Der Kläger habe sich derart bedroht gefühlt, dass er um sein Leben habe fürchten müssen.

Der Senat hat nach Anhörung der beteiligten durch Beschluss vom 2. Oktober 2019 den Rechtsstreit gemäß § 153 Abs. 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) dem Berichterstatter übertragen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 11. April 2019 aufzuheben und den Beklagten unter entsprechender Änderung seines Bescheides vom 10. April 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Februar 2017 zu verurteilen, bei dem Kläger als Schädigungsfolge aufgrund des Ereignisses vom 9. Dezember 2004 eine posttraumatische Belastungsstörung im Sinne des § 1 OEG anzuerkennen und dem Kläger eine Rente nach dem Grad der MdE/Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 30 (v. H.) zu gewähren.

Der Beklagte beantragt schriftlich,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält seine angefochtene Entscheidung für rechtmäßig.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Trotz Ausbleibens eines Vertreters des Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Senat verhandeln und entscheiden können, weil der Beklagte zum Termin ordnungsgemäß geladen und in der Terminsmitteilung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist.

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts ist zutreffend. Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid vom 10. April 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Februar 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Eine Beschädigtenrente nach dem OEG steht ihm aufgrund des Vorfalles vom 9. Dezember 2004 nicht zu.

Hinsichtlich des genauen Hergangs der Vorfälle vom 9. Dezember 2004 legt der Senat die sich aus den zeitnahen und im Tatbestand wiedergegebenen Darstellungen des Klägers gegenüber der Polizei zugrunde. Danach ist es zu keiner körperlichen Gewaltanwendung gekommen. Soweit er rund achteinhalb Jahre später gegenüber der Sachverständigen Dr. B erklärt hat, die Jugendlichen hätten versucht, ihn aus dem Klassenzimmer zu zerren, steht diese Beschreibung in deutlichem Widerspruch zu den strafrechtlichen Ermittlungen und zu den zeitnahen Angaben des Klägers, etwa auch zu seinen Angaben gegenüber der von der Unfallkasse beauftragten Gutachterin K im Sommer 2005, wonach es ausdrücklich "zu keiner Gewaltanwendung gekommen" sei (vgl. auch den Arztbrief des J Krankenhauses vom 3. August 2005: Kläger wurde zwar bedroht, "nicht aber körperlich attackiert").

Die Vorfälle vom 9. Dezember 2004 begründen keinen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Dies gilt ohne weiteres, soweit der Kläger verbal bedroht worden ist. Denn die bloße Drohung mit einer, wenn auch erheblichen Gewaltanwendung oder Schädigung für einen tätlichen Angriff reicht nicht aus. Denn dieser Umstand allein stellt über die psychische Wirkung hinaus noch keinen tatsächlichen physischen "Angriff" dar, der aber notwendig ist, um von einem tätlichen Angriff ausgehen zu können (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 V 1/13 R – juris). Ein tätlicher - körperlicher – Angriff hat vorliegend nicht tatsächlich begonnen. Für den Fall eines bewaffneten Täters hat das BSG in seiner Entscheidung vom 16. Dezember 2014 insoweit ausgeführt, der tätliche Angriff in Gestalt der körperlichen Einwirkung auf den Körper eines anderen beginne erst mit dem Abfeuern des Schusses oder dem Aufsetzen der Waffe auf den Körper des Opfers. An einer entsprechenden körperlichen Einwirkung auf den Körper des Klägers durch die Täter fehlt es hier. Das BSG hat somit wohl auch seine Rechtsprechung aufgegeben, nach der ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG bereits vorlag, wenn der Täter ein gewaltsames Einwirken auf den Körper des Opfers erst angedroht, aber schon mit der gewaltsamen Beseitigung von Hindernissen für die Verwirklichung der Drohung begonnen hatte, so dass auch ein objektiver Dritter mit der unmittelbar bevorstehenden Tötung oder ernstlichen Verletzung des Opfers rechnen würde (BSG, Urteil vom 10. September 1997 - 9 RVg 1/96 – juris). In dieser Entscheidung hatte das BSG noch ausgeführt, wenn dem objektiven Dritten Drohung(en) und ein Angriff auf das Hindernis als ein nur kurzzeitiges Durchgangsstadium für einen unmittelbar nachfolgenden Angriff auf die Person des Bedrohten habe erscheinen müssen, sei das Merkmal des "tätlichen Angriffs" gegeben. Das gelte jedenfalls dann, wenn der Dritte mit der bevorstehenden Tötung oder ernstlichen Verletzung des Opfers rechnen würde. Selbst wenn man diese Rechtsprechung vorliegend zugrunde legen wollte, was aber nach der Entscheidung des BSG vom 16. Dezember 2014 wohl nicht mehr möglich sein dürfte, würde es vorliegend an der vom BSG geforderten Bedrohungslage fehlen. Das Klopfen an die Tür diente aus der Sicht eines objektiven Dritten offenkundig dazu, auf sich aufmerksam zu machen, den Kläger zum Herauskommen zu bewegen und der Einschüchterung des Klägers, nicht aber der Beseitigung des Hindernisses "Tür", um unmittelbar nachfolgend angreifen zu können. Eine bevorstehende Tötung oder ernstliche Verletzung stand zudem nicht in Rede.

Begründen die Vorfälle vom 9. Dezember 2004 demnach keinen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff, so ergibt sich hier nichts anderes daraus, dass der Beklagte in dem angefochtenen Bescheid tatsächlich von einem solchen Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ausgegangen ist. Bei den Ausführungen in diesem Bescheid, die Anpassungsstörung sei hervorgerufen durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 1 OEG, handelt es sich bezogen auf das Vorliegen eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs nur um ein unselbständiges Begründungselement, das nicht der Bestandskraft fähig ist (vgl. BSG, Urteil vom 11. März 1998 - B 9 VG 3/96 R – juris). Diese Rechtsprechung entspricht im Übrigen derjenigen, wonach ein Klagebegehren nicht in zulässiger Weise auf die isolierte Feststellung beschränkt werden kann, der Kläger sei Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG geworden (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 V 1/13 R – juris).

Kein Rentenanspruch ergibt sich aus der bestandskräftigen Feststellung der Schädigungsfolge "Anpassungsstörung". Allerdings sind bei der Beurteilung des Grades der MdE/des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) die von dem Versorgungsträger als Schädigungsfolgen bestandskräftig anerkannten Gesundheitsstörungen zu berücksichtigen; an diese rechtlich selbständigen Feststellungen (vgl. BSG, Urteil vom 15. Dezember 1999 – B 9 VS 2/98 R – juris) ist der Beklagte ebenso gebunden wie der Senat; auf deren Rechtmäßigkeit kommt es insoweit nicht an (vgl. dazu u. a. BSG, Urteile vom 29. August 1990 – 9a/9 RV 32/88 – und vom 15. Dezember 1999 – B 9 V 26/98 R –; jeweils juris).

Der Beklagte wollte in dem Bescheid zum Ausdruck bringen, die Anpassungsstörung habe nur für einen Zeitraum bis zu sechs Monaten bestanden und sei daher nach § 30 Abs. 1 Satz 3 BVG für einen Rentenanspruch irrelevant. Ob ihm diese zeitliche Begrenzung gelungen ist und sie vor dem Hintergrund überzeugt, dass die Gutachterin S in dem dem Bescheid zugrunde liegenden Gutachten vom Bestehen einer Anpassungsstörung bis August 2005 (und damit länger als sechs Monate) ausgegangen ist, kann offen bleiben. Denn in der Gesamtschau aller vorliegenden medizinischen Unterlagen begründet die Anpassungsstörung keinen rentenberechtigenden Grad der MdE/GdS. Soweit die Gutachterin S von dem Grad der MdE/GdS von 40 (v. H.) ausgegangen ist, steht dies im Widerspruch zu beiden im unfallversicherungsrechtlichen Klageverfahren eingeholten Sachverständigengutachten. Dr. M hat eine unfallreaktive Anpassungsstörung als "unwahrscheinlich" erachtet, Dr. B diese Diagnose nicht erwähnt. Folgerichtig kann nach beiden Sachverständigengutachten bezogen auf eine nicht vorliegende Anpassungsstörung auch kein Grad einer MdE/GdS von rentenberechtigendem Ausmaß vorliegen. Der Senat folgt den ausführlichen Gutachten nach eigener Prüfung im Wege der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 SGG).

Auf die Problematik, dass ein etwaiger – allenfalls kurzfristiger – Rentenanspruch im Hinblick auf die Gewährung von Versorgungskrankengeld nach dem Unfallversicherungsrecht nach § 65 BVG möglicherweise ruhen würde, muss der Senat demnach nicht eingehen. Daher spielt es auch keine Rolle, dass hier das Versorgungskrankengeld laut Vergleich vor dem Landessozialgericht unter Anrechnung des wegen § 11 Abs. 5 Satz 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch rechtswidrig gewährten Krankengeldes gewährt worden ist, was möglicherweise aufgrund der gesetzlich eigentlich nicht vorgesehenen Verkürzung des Versorgungskrankengeldes in gewisser Weise zu einer Umgehung der Ruhensvorschrift des § 65 BVG geführt haben könnte.

Können Schädigungsfolgen schon wegen des Fehlens einer Tat im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht festgestellt werden (mit Ausnahme der bescheidmäßig anerkannten Anpassungsstörung, die aber mit keinem rentenberechtigenden Grad einer MdE/GdS bewertet werden kann), sei hier nur der Vollständigkeit halber angemerkt, dass die ausdrücklich begehrte Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung ohnehin schon deshalb nicht in Betracht kommt, weil das so genannte A-Kriterium nicht vorliegt. Nach dem ICD-10 erfordert das A-Kriterium einer posttraumatischen Belastungsstörung eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Hierzu gehören beispielsweise durch Naturereignisse oder von Menschen verursachte Katastrophen, Kampfhandlungen, schwere Unfälle oder Zeuge eines gewaltsamen Todes anderer oder selbst Opfer von Folterung, Terrorismus, Vergewaltigung oder anderen Verbrechen zu sein (vgl. AWMF-Leitlinie Nr. 051/029 zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen, Seite 104). Dass der hier in Rede stehende Vorfall weit von einem solchen Ereignis entfernt ist, bedarf keiner Erörterung. Etwas anderes ergibt sich auch nicht, wenn man statt allein der Definition des ICD-10 zusätzlich Kriterien des DSM IV TR (Diagnostic ans Statistical Manual of Mental Disorders) einbeziehen wollte, wie dies der Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizin beim BMAS in seinem Beschluss vom 6./7. November 2008 zur posttraumatischen Belastungsstörung getan hat (Rundschreiben vom 2. Dezember 2008 – IV c 3 – 46052 – 2/60). Nach diesen Kriterien muss die betroffene Person Opfer oder Zeuge eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse gewesen sein, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhalteten, und die Reaktion des/der Betroffenen muss intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen umfassen. Trotz der dem Wortlaut nach geringeren Anforderungen wird im genannten Rundschreiben das Erfordernis als schwerwiegendes Trauma umschrieben (vgl. Urteil des Senats vom 19. September 2019 – L 11 VG 4/12 – n. v.). Ein solches steht vorliegend aber objektiv nicht in Rede, wenn es auch subjektiv so vom Kläger empfunden worden sein mag.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.
Rechtskraft
Aus
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