L 6 AS 444/19 B

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
6
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 6 AS 251/19
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 444/19 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Mutwilligkeit kann nicht ausschließlich dann angenommen werden, wenn die im Zentrum der Auseinandersetzung stehende Frage bereits Gegenstand eines bei dem Bundesverfassungsgericht, dem Bundessozialgericht oder einem anderen höchsten Bundesgericht anhängigen oder eines sonstigen als „Musterverfahren“ ausgezeichneten Verfahrens ist (vgl. zu diesem Fall BVerfG, Beschluss vom 18. November 2009 – 1 BvR 2455/08 –, BVerfGK 16, 406). Denkbar ist dies vielmehr auch, wenn die Rechtsfrage (nur) Gegenstand anderer instanzgerichtlicher Verfahren ist, weil auch diese unter Umständen wertvolle Erkenntnisse für das eigene Verfahren liefern und damit dessen (weitere) Durchführung entbehrlich machen können.

2. Insbesondere wenn es um Leistungen der Existenzsicherung oder andere in starkem Maße zeitgebundene Leistungen geht, ist in diesem Fall – hinreichende Erfolgsaussichten vorausgesetzt – die Annahme von Mutwilligkeit mit Blick auf den Zweck der Prozesskostenhilfe und dessen verfassungsrechtliche Verankerung aber nur dann gerechtfertigt, wenn für den Beteiligten
(a) erkennbar ist, ob sein Verfahren mit dem oder den Verfahren, deren Ausgang er abwarten soll, hinreichend vergleichbar ist,
(b) abschätzbar ist, ob die in seinem Verfahren relevante Rechtsfrage in dem vorgängigen Verfahren auch tatsächlich entschieden werden wird und
(c) die Durchführung des in Frage stehenden weiteren Verfahrens voraussichtlich nicht zu einer beschleunigten Klärung führen kann.
Das wird regelmäßig (nur) dann der Fall sein, wenn er auch an dem vorgängigen Verfahren selbst beteiligt ist, in aller Regel aber ausscheiden, wenn es sich um für ihn „fremde“ Verfahren handelt und zu diesen noch keine veröffentlichte (oder für den Beteiligten sonst zugängliche) erstinstanzliche Entscheidung vorliegt, die eine tragfähige Grundlage für die Einschätzung liefern kann, ob die ihn interessierende Frage in dem oder den vorgängigen Verfahren tatsächlich auch geklärt werden kann und wird.
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 6. Juni 2019 wird zurückgewiesen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragstellerin mit dem sinngemäß gestellten Antrag,

den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 6. Juni 2019 aufzuheben und ihr Prozesskostenhilfe für das dort unter dem Aktenzeichen S 6 AS 251/19 geführte Verfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt C., C-Stadt, zu gewähren,

ist zulässig, aber begründet. Der Antragstellerin steht ein Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von RA C., C-Stadt, nicht zu.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe setzt voraus, dass die Antragstellerin nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, das Begehren hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (§ 73a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG – i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung – ZPO –). Mutwillig ist die Rechtsverfolgung, wenn eine Beteiligte, die keine Prozesskostenhilfe beanspruchen kann, sondern die Kosten der Prozessführung im Falle ihres Unterliegens aus eigenen Mitteln aufbringen müsste, bei verständiger Würdigung aller Umstände von der Rechtsverfolgung absehen würde, obwohl eine hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Abs. 2 ZPO). Dabei sind die Maßstäbe für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit Blick auf deren Zweck und dessen verfassungsrechtliche Verankerung im allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz – GG –) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und dem Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) so auszulegen, dass eine weitgehende Angleichung der Situation von bemittelten und unbemittelten Beteiligten bei der Verwirklichung gerichtlichen Rechtsschutzes erreicht wird (vgl. für die st. Rspr. des BVerfG, Beschl. v. 4. Februar 2004 – 1 BvR 1172/02 –, NJW-RR 2004, S. 1053 und Beschl. v. 28. November 2007 – 1 BvR 68/07 –, juris).

Ausgehend von diesen Grundsätzen kann den Klägern Prozesskostenhilfe nicht bewilligt werden. Der Senat ist der Auffassung, dass die Rechtsverfolgung der Antragstellerin als mutwillig zu qualifizieren ist, nachdem der Beklagte angeboten hatte, das von ihr eingeleitete Widerspruchsverfahren ruhend zu stellen und die Ergebnisse eines Parallelverfahrens der Beteiligten, in denen das von ihm angewendete Konzept zur Beurteilung der Angemessenheit der Bedarfe für Unterkunft und Heizung eine Rolle spielt, auf das hiesige, einen anderen Bewilligungszeitraum betreffende Verfahren zu übertragen.

Der Senat teilt die Auffassung des Sozialgerichts, dass Mutwilligkeit nicht ausschließlich dann anzunehmen sein kann, wenn die im Zentrum der Auseinandersetzung stehende Frage bereits Gegenstand eines bei dem Bundesverfassungsgericht, dem Bundessozialgericht oder einem anderen höchsten Bundesgericht anhängigen oder eines sonstigen als "Musterverfahren" ausgezeichneten Verfahrens ist (vgl. zu diesem Fall BVerfG, Beschluss vom 18. November 2009 – 1 BvR 2455/08 –, BVerfGK 16, 406). Denkbar ist dies vielmehr auch, wenn die Rechtsfrage (nur) Gegenstand anderer instanzgerichtlicher Verfahren ist, weil auch diese unter Umständen wertvolle Erkenntnisse für das eigene Verfahren liefern und damit dessen (weitere) Durchführung entbehrlich machen können (vgl. zu entspr. Gesichtspunkten bei der Beurteilung der Mutwilligkeit BGH, Beschluss vom 21. November 2013 – III ZA 28/13 –, JurBüro 2014, 203; LSG Nds.-Bremen, Beschluss vom 20. März 2013 – L 15 AS 477/12 B –; Seiler, in: Thomas/Putzo, ZPO, 38. Aufl. 2017, § 114 Rn. 7a).

Allerdings wird dies mit Blick auf die Unsicherheiten, ob die den Betroffenen interessierenden Rechtsfragen durch andere Verfahren, die zu dem Zeitpunkt, zu dem er über das Ruhen des eigenen Verfahrens entscheiden muss, noch vor den Instanzgerichten anhängig sind, tatsächlich geklärt werden können, eher die Ausnahme sein; namentlich gilt dies, wenn sogar eine erstinstanzliche Entscheidung noch nicht vorliegt. Insbesondere wenn es um Leistungen der Existenzsicherung oder andere in starkem Maße zeitgebundene Leistungen geht, ist in diesem Fall – hinreichende Erfolgsaussichten vorausgesetzt – die Annahme von Mutwilligkeit mit Blick auf den Zweck der Prozesskostenhilfe und dessen verfassungsrechtliche Verankerung nur dann gerechtfertigt, wenn für den Beteiligten (a) erkennbar ist, ob sein Verfahren mit dem oder den Verfahren, deren Ausgang er abwarten soll, hinreichend vergleichbar ist, (b) abschätzbar ist, ob die in seinem Verfahren relevante Rechtsfrage in dem vorgängigen Verfahren auch tatsächlich entschieden werden wird und (c) die Durchführung des in Frage stehenden weiteren Verfahrens voraussichtlich nicht zu einer beschleunigten Klärung führen kann. Das wird regelmäßig (nur) dann der Fall sein, wenn er – wie hier – auch an dem vorgängigen Verfahren selbst beteiligt ist, in aller Regel aber ausscheiden, wenn es sich um für ihn "fremde" Verfahren handelt und zu diesen noch keine veröffentlichte (oder für den Beteiligten sonst zugängliche) erstinstanzliche Entscheidung vorliegt, die eine tragfähige Grundlage für die Einschätzung liefern kann, ob die ihn interessierende Frage in dem oder den vorgängigen Verfahren tatsächlich auch geklärt werden kann und wird (vgl. dazu den Beschluss des Senats vom heutigen Tage im Verfahren L 6 AS 185/19 B).

Ausgehend von diesen Grundsätzen steht den Antragstellern vorliegend ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe nicht zu: Zwar ist die im Hauptsacheverfahren im Kern streitige Frage, ob der Beklagte sich bei der Bemessung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung im Rahmen der Gewährung von laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB ) auf ein schlüssiges Konzept im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts stützen kann, jedenfalls für das von der Beklagten im hier streitigen Zeitraum zu Grunde gelegte Konzept noch nicht Gegenstand eines Verfahrens vor dem Bundessozialgericht oder dem Landessozialgericht. Allerdings ist erstinstanzlich eine weitere Klage anhängig, die das Konzept zum Gegenstand haben und an denen die Kläger selbst beteiligt sind. Es ist nicht erkennbar, dass dieses in relevantem Maße anders gelagert wäre als das hiesige Verfahren, so dass es nicht nur wertvolle Erkenntnisse für die Auseinandersetzung der hiesigen Beteiligten erwarten lassen, sondern ein streitiges Verfahren vor Gericht mit einiger Wahrscheinlichkeit auch ganz entbehrlich hätten machen können (zu vglb. Überlegungen BGH, Beschluss vom 21. November 2013 – III ZA 28/13 –, JurBüro 2014, 203; LSG Nds.-Bremen, Beschluss vom 20. März 2013 – L 15 AS 477/12 B –; Seiler, in: Thomas/Putzo, ZPO, 38. Aufl. 2017, § 114 Rn. 7a).

Da die Kläger auch die Kläger des Parallelverfahrens sind, dort durch denselben Prozessbevollmächtigten vertreten werden und dieselben Spruchkörper derselben Gerichte für beide Verfahren zuständig sind, ist nicht ersichtlich, dass die Führung weiterer Verfahren ihre Rechtsposition stärken könnte. Überdies hat der Beklagte sich bereiterklärt, die Ergebnisse des anderen Verfahrens auf den hier streitigen Zeitraum zu übertragen. Vor diesem Hintergrund ist nicht erkennbar, dass die Durchführung des hiesigen Verfahrens zu einer Beschleunigung führen könnte. Dieser Aspekt, der, gerade wenn es – wie hier – um existenzsichernde Leistungen geht, eine erhebliche Rolle für die Entscheidung spielen kann, ein Verfahren ungeachtet weiterer anhängiger Verfahren in jedem Fall führen zu wollen, tritt daher vorliegend den Hintergrund.

Die hiergegen vorgebrachten Argumente der Kläger greifen nicht durch: Soweit sie darauf verweisen, dass in dem vom gleichen Prozessbevollmächtigten geführten Parallelverfahren auf Grund einer vorläufigen Entscheidung bewilligte Leistungen streitig seien, während es sich im hiesigen Verfahren um endgültig bewilligte handelt, vermag der Senat einen relevanten Unterschied nicht zu erkennen. Sollte während des Verfahrens über die vorläufigen Leistungen eine endgültige Festsetzung ergehen, so würde sich zwar der vorläufige Bescheid erledigen, aber die endgültige Festsetzung nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Gegenstand des Verfahrens über die vorläufige Entscheidung werden (vgl. nur BSG, Urt. v. 10.5.2011 – B 4 AS 139/10 R –, SozR 4-4200 § 11 Nr. 38 sowie die weiteren Nachweise bei Gagel/Kallert, SGB II § 41a Rn. 125). Die befürchteten, aber nicht näher ausgeführten Auswirkungen der fiktiven endgültigen Festsetzung nach "§ 41b Abs. 5 SGB II" (gemeint ist offensichtlich § 41a Abs. 5 SGB II) können die Kläger durch einen Antrag auf endgültige Festsetzung entgehen. Die Annahme, dass die Einwilligung in ein Ruhen des Widerspruchsverfahrens unter den hiesigen Umständen zu einem Rechtsverlust in einem (damals noch möglichen) Eilverfahren hätte führen können, ist spekulativ – tatsächlich könnte den Klägern mangelnde Eilbedürftigkeit wegen ihrer Zustimmung zu einem Ruhen nicht entgegengehalten werden, da die – zutreffende – Argumentation des Sozialgerichts darauf beruht, dass sie mit der Durchführung eines weiteren Verfahrens zu einer Beschleunigung nicht beitragen können, ein entsprechendes Vorgehen daher umgekehrt nicht als Indiz für ein fehlendes Interesse an einer schnellen Klärung gewertet werden könnte. Die Aussicht auf eine mögliche Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer erscheint in einer Weise hypothetisch, dass ein Beteiligter, der für die Kosten des Verfahrens gegebenenfalls selbst aufkommen müsste, nach Auffassung des Senats nicht deswegen ein weiteres Verfahren einleiten würde. Die Einwände der Klägerin (unter 3c und 3d) des Schriftsatzes ihres Bevollmächtigten vom 2. Juli 2019) beziehen sich auf die Konstellation, dass die Beteiligten des ruhenden Verfahrens nicht selbst auch Beteiligte des vorgreiflichen Verfahrens sind, wie das hier der Fall ist, und sind nach Auffassung des Senats auch (nur) dann tragfähig. Insbesondere ist, wie bereits ausgeführt, nicht ersichtlich, dass die Durchführung weiterer Verfahren zu einem Zeitgewinn führen könnte, wenn die Beteiligten des ruhenden und des durchgeführten Verfahrens identisch sind und das Jobcenter die Übertragung der Ergebnisse zusichert – dass und wie das ruhende Verfahren das bereits anhängige bei identischen Beteiligten und Vertretung durch den gleichen Bevollmächtigten und Anhängigkeit beim gleichen Spruchkörper sollte "überholen" können, ist nicht ersichtlich.

Ein Anhörungsmangel ist für den Senat nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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