L 1 KR 365/19 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 169 KR 1244/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 365/19 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 9. September 2019 abgeändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet vom 19. Dezember 2019 bis zum 18. Dezember 2020, längstens bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, die Kosten für eine Versorgung des Antragstellers mit Cannabisblüten der Sorte Klenk 18/1 10g Blüten zur unzerkleinerten Abgabe zur Inhalation bis 0,5 g/d nach einer entsprechenden ärztlichen Verordnung zu übernehmen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für das gesamte Verfahren zu tragen.

Gründe:

Die am 9. Oktober 2019 erhobene Beschwerde gegen den genannten Beschluss des Sozialgerichts (SG) ist begründet.

Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen jedenfalls mittlerweile vor. Nach § 86b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung zulässig, wenn andernfalls die Gefahr besteht, dass ein Recht des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Voraussetzung sind das Bestehen eines Anordnungsanspruches und das Vorliegen eines Anordnungsgrundes. Der Anordnungsanspruch bezieht sich dabei auf den geltend gemachten materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtschutz begehrt wird. Die erforderliche Dringlichkeit betrifft den Anordnungsgrund. Die Tatsachen, die den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch begründen sollen, sind darzulegen und glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung). Entscheidungen dürfen dabei grundsätzlich auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Drohen dem Versicherten aber ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre, verlangt Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz (GG) von den Sozialgerichten grundsätzlich eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage, die sich von der im Hauptsacheverfahren nicht unterscheidet (vgl. BVerfGE 79, 69 (74); 94, 166 (216); NJW 2003, 1236f.). Sind die Sozialgerichte durch eine Vielzahl von anhängigen entscheidungsreifen Rechtsstreitigkeiten belastet oder besteht die Gefahr, dass die dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu Grunde liegende Beeinträchtigung des Lebens, der Gesundheit oder der körperlichen Unversehrtheit des Versicherten sich jederzeit verwirklichen kann, verbieten sich zeitraubende Ermittlungen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren. In diesem Fall, der in der Regel vorliegen wird, hat sich die Entscheidung an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen zu orientieren (BVerfG NJW 2003, 1236f.). Dabei ist in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine Folgenabwägung vorzunehmen, bei der die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat. Abzuwägen sind stattdessen die Folgen, die eintreten würden, wenn die Anordnung nicht erginge, obwohl dem Versicherten die streitbefangene Leistung zusteht, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, obwohl er hierauf keinen Anspruch hat. Hierbei ist insbesondere die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch den Verfassungsgeber getroffene objektive Wertentscheidung zu berücksichtigen. Danach haben alle staatlichen Organe die Pflicht, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Lebens, der Gesundheit und der körperlichen Unversehrtheit zu stellen (vgl. BVerfGE 56, 54 (73)). Für das vorläufige Rechtsschutzverfahren vor den Sozialgerichten bedeutet dies, das diese die Grundrechte der Versicherten auf Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit zur Geltung zu bringen haben, ohne dabei die ebenfalls der Sicherung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG dienende Pflicht der gesetzlichen Krankenkassen (vgl. insbesondere aus §§ 1, 2 Abs. 1 und 4 SGB V), ihren Versicherten nur wirksame und hinsichtlich der Nebenwirkungen unbedenkliche Leistungen zur Verfügung zu stellen, sowie die verfassungsrechtlich besonders geschützte finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. BVerfGE 68, 193 ( 218)) aus den Augen zu verlieren. Besteht die Gefahr, dass der Versicherte ohne die Gewährung der umstrittenen Leistung vor Beendigung des Hauptsacheverfahrens stirbt oder er schwere oder irreversible gesundheitliche Beeinträchtigungen erleidet, ist ihm die begehrte Leistung regelmäßig zu gewähren, wenn das Gericht nicht auf Grund eindeutiger Erkenntnisse davon überzeugt ist, dass die begehrte Leistung unwirksam oder medizinisch nicht indiziert ist oder ihr Einsatz mit dem Risiko behaftetet ist, die abzuwendende Gefahr durch die Nebenwirkungen der Behandlung auf andere Weise zu verwirklichen. Besteht die Beeinträchtigung des Versicherten dagegen im Wesentlichen nur darin, dass er die begehrte Leistung zu einem späteren Zeitpunkt erhält, ohne dass sie dadurch für ihn grundsätzlich an Wert verliert, weil die Beeinträchtigung der in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG genannten Rechtsgüter durch eine spätere Leistungsgewährung beseitigt werden kann, dürfen die Sozialgerichte die begehrte Leistung im Rahmen der Folgenabwägung versagen. Nur durch eine an diesen Grundsätzen orientierte Vorgehensweise bei der Folgenabwägung wird dem vom Gesetzgeber in allen Prozessordnungen vorgesehenen Vorrang des nachgehenden Rechtschutzes vor dem vorläufigen Rechtsschutz, sowie dem sich aus Art. 20 Abs. 3 GG abzuleitenden Grundsatz Rechnung getragen, dass die Leistungsgewährung vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Ausnahme und nicht die Regel sein soll (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. z. B. Beschluss des Senats vom 29. März 2018 – L 1 KR 26/18 B ER –, juris-Rdnr. 2 mit weiteren Nachweisen).

An diesen Grundsätzen gemessen, ist die Antragsgegnerin antragsgemäß zu verpflichten. Denn nach dem vorliegenden Sach- und Streitstand besteht die Gefahr, dass der Antragsteller ohne die Gewährung der streitbefangenen Leistungen bis zu der Beendigung des Hauptsacheverfahrens schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen erleidet.

Gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol ((–)-&916;9-trans-Tetrahydrocannabinol - = THC) oder Nabilon (ein synthetisches Cannabinoid), wenn 1.) a) eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann, 2.) eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist (Satz 2). Die Vertragsärztin oder der Vertragsarzt, die oder der die Leistung nach Satz 1 verordnet, übermittelt die für die Begleiterhebung erforderlichen Daten dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in anonymisierter Form; über diese Übermittlung ist die oder der Versicherte vor Verordnung der Leistung von der Vertragsärztin oder dem Vertragsarzt zu informieren (Satz 5).

Dass der Antragsteller unter einer schwerwiegenden Erkrankung in diesem Sinne leidet, ist zwischen den Beteiligten nicht umstritten. Schwerwiegend ist eine Erkrankung, wenn sie die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigt. Der Antragsteller leidet an Multipler Sklerose mit vorherrschend schubförmigem Verlauf mit schmerzhaften Spastiken, daneben u. a. an fluktuierenden Wortfindungsstörungen, RLS, einem chronischen Schmerzsyndrom sowie einem Fatigue.

Umstritten ist vorliegend hingegen, ob für die Behandlung der schmerzhaften Spastiken keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Verfügung steht oder jedenfalls beim Antragsteller im Einzelfall unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann und eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. Der Antragsteller hat über längere Zeit das (zugelassene) (Fertig-)Arzneimittel Sativex® verordnet erhalten, ein Mundspray mit Cannabis sativ L- Blätter-/Blütenextrakt als Wirkstoff und flüssigem Kohlendioxid als Träger. Weitere Bestandteile sind Ethanol, Propylenglycol und Pfefferminzöl. Das Arzneimittel ist zugelassen zur Verbesserung von Symptomen bei Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Spastik aufgrund von Multipler Sklerose. Als unerwünschte Nebenwirkungen können u. a. Reizerscheinungen auf der Mundschleimhaut, Schmerzen auf der Mundschleimhaut, Schleimhautablösung auf der Mundschleimhaut und Entzündungen der Mundschleimhaut auftreten. Weil die Verwendung dieses Sprays beim Antragsteller zunehmend zu Entzündungen im Mundraum geführt hat, halten seine Behandler und er die weitere Behandlung mit Sativex® für ausgeschlossen. Der von der Antragsgegnerin eingeschaltete MDK hält eine unvertretbare Reizung der Mundschleimhaut durch die Anwendung des Sprays hingegen für nicht nachvollziehbar. Ob die Beeinträchtigung der Mundschleimhaut hinnehmbar ist, kann in diesem Eilverfahren nicht geklärt werden. Ermittlungen hierzu, ggfls. die Einholung eines Sachverständigengutachtens sind dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Allerdings hat der Gesetzgeber auch in materiell-rechtlicher Hinsicht bei der Entscheidung über die Verordnung von Cannabis die Therapiehoheit des Vertragsarztes stärken wollen, wie sich aus der Formulierung des § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V ergibt.

Es liegt schließlich jedenfalls mittlerweile eine begründete Einschätzung einer behandelnden Vertragsärztin oder eines Vertragsarztes im Sinne des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1b SGB V zu dem erforderlichen Genehmigungsantrag vor, in welcher unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Antragstellers dargestellt ist, weshalb die anerkannten Behandlungsmethoden hier nicht zur Anwendung kommen können, und deshalb die Verordnung von Medizinal-Cannabis für sinnvoll erachtet wird. Die Stellungnahme des behandelndes Neurologen Prof. Dr. M der Klinik für Neurologie des S Krankenhauses B macht hinreichend deutlich, dass die Entzündungen im Mundraum unter Sativex® "doch erheblich" seien und (u. a.) Mundentzündungen lebensbedrohliche Folgeerscheinungen haben könnten.

Der Antragsgegner hat auch hinreichend glaubhaft gemacht, nicht über die finanziellen Mittel für eine vorübergehende Beschaffung der Cannabisblüten auf Privatrezept zu verfügen. Der Tenor entspricht dem gestellten Antrag.

Der Senat hat die Anordnung auf ein Jahr, längstens aber bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, befristet. Denn die Berechtigung der einstweiligen Anordnung in der gegenwärtigen Form ergibt sich nur aus der noch ungeklärten medizinischen Sachlage. Für die Vergangenheit sind Leistungen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes grundsätzlich nicht zuzusprechen. Soweit die Beschwerde Leistungen für weitere Zeiträume einfordern wollte, war sie klarstellend zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Der Antragsteller hat im Kern Erfolg. Die Antragsgegnerin hat auf das Hinweisschreiben des Senats vom 3. Dezember 2019 nicht reagiert.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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