L 11 KR 1110/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 10 KR 760/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 1110/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Das Gerät gammaCore ®, mit dessen Hilfe ein elektrisches Signal erzeugt und nicht-invasiv über die Haut appliziert wird und das nach den Herstellerinformationen zur vorbeugenden und/oder akuten Behandlung der primären Kopfschmerzen, Migräne, Clusterkopfschmerz und Hemicrania continua sowie des Kopfschmerzes bei Übergebrauch von Schmerz- und Migränemitteln dient, ist ein Hilfsmittel zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung (§ 33 Abs 1 Satz 1 Variante 1 SGB V).
Aufgrund einer fehlenden positiven Empfehlung des GBA haben Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung keinen Anspruch auf Versorgung mit diesem Hilfsmittel (§ 135 Abs 1 Satz 1 SGB V).
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 20.02.2019 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Versorgung des Klägers mit dem Therapiegerät gammaCore®.

Bei gammaCore® handelt es sich um ein Medizinprodukt der Klasse IIa mit CE-Kennzeichnung für die nichtinvasive Vagusnervstimulation (nVNS). Nach der Herstellerinformation wird es angewendet zur vorbeugenden und/oder akuten Behandlung der primären Kopfschmerzen, Migräne, Clusterkopfschmerz und Hemicrania continua sowie des Kopfschmerzes bei Übergebrauch von Schmerz- und Migränemitteln. Mittels des Handgerätes wird ein schwaches elektrisches Signal erzeugt und nicht-invasiv über die Haut appliziert. Dazu wird ein leitfähiges Gel auf die Stimulationsoberfläche des Gerätes aufgetragen und das Gerät am Hals angelegt. Die Stimulationsstärke wird solange gesteigert, bis eine moderate Muskelkontraktion unter der Haut zu spüren ist. Die Wirkungsweise ist nicht sicher geklärt, vermutet werden Wirkungen auf den kranialen Parasympathikus durch Stimulation des Vagusnervs mit der Folge einer Verringerung der Menge des Neurotransmitters Glutamat, der mit diesem Kopfschmerz in Verbindung gebracht wird. Das Gerät ist ab der ersten Aktivierung für 31 Tage anwendbar und kostet ca 260 EUR.

Der 1961 geborene Kläger ist bei der Beklagten wegen des Bezugs einer Erwerbsminderungsrente in der Krankenversicherung der Rentner gesetzlich krankenversichert. 2010 wurden bei ihm Clusterkopfschmerzen diagnostiziert. Bei dem Kläger ist seit 01.04.2017 Pflegegrad 1 festgestellt, seit 01.06.2018 Pflegegrad 2. Ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 vH ist anerkannt. Vom 08.03. bis 29.03.2017 befand sich der Kläger in stationärer Behandlung in der Klinik für Schmerzmedizin der DRK-Kliniken N ... Im Arztbrief vom 28.03.2017 sind ua folgende Diagnosen gelistet: Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, chronischer Clusterkopfschmerz, chronischer Kopfschmerz vom Spannungstyp, chronisches myofasziales cervicobrachiales Schmerzsyndrom, Zustand nach Vorderwandinfarkt im Februar 2011 mit zweimaligen Kammerflimmern und Reanimation, PTCA und DES in mediale LAD, Koronare Herzkrankheit, Zustand nach Koma-Langzeitbeatmung, hochgradiges obstruktives Schlaf-Apnoe-Syndrom mit nächtlicher CPAP-Therapie, arterielle Hypertonie, Hypercholesterinämie, Zustand nach beidseitiger Thrombose der Vena saphena magna in 2014, rezidivierende depressive Störung, derzeit mittelgradige Episode, posttraumatische Belastungsstörungen, teilremittiert mit agoraphobischem Vermeidungsverhalten und Panikattacken. Der Chefarzt der Klinik Dr. B. führte aus, die dort erprobte Nutzung des gammaCore®-Gerätes sei indiziert.

Am 05.04.2017 beantragte der Kläger bei der Beklagten unter Vorlage des Arztbriefes vom 28.03.2017 sowie einer Verordnung des Allgemeinmediziners Dr. H. vom 04.04.2017 für "alle 4 Woche gamma-cor" die Versorgung mit diesem Hilfsmittel.

Die Beklagte holte ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) ein. Im Gutachten vom 11.04.2017 führte Dr. B. aus, die medizinischen Voraussetzungen für die Leistung seien nicht erfüllt. Solle ein Hilfsmittel im Rahmen der Krankenbehandlung deren Erfolg sichern, sei seine Verwendung nicht von dem zu Grunde liegenden Behandlungskonzept zu trennen. Bei der gammaCore®-Therapie handle es sich um eine Sonderform von Elektrotherapie oder Reizstrombehandlung, die gewisse Ähnlichkeiten mit der transkutanen elektrischen Nervenstimulation (TENS) aufweise. Sie unterscheide sich ua in der Höhe der Frequenz (Hoch- und Niederfrequenz-Geräte), in der Dauer/Intervalle der Energieabgabe, der maximalen Spannung und Stromstärke. Indikationen für die Verordnung einer TENS-Therapie seien vor allem chronische Schmerzen zB infolge Herpes-Zoster-Neuralgie, Phantomschmerz, Neuralgien (Nervenschmerzen), Hexenschuss, rheumatische Erkrankungen, degenerative Erkrankungen des Skelettsystems durch Abnutzung oder Überlastung, Sportverletzungen (Prellungen, Stauungen), Muskelschmerzen, Gelenkschmerzen, Schmerzen durch angeborene oder erworbene Fehlbildungen des Bewegungsapparates, Schmerzen im Rahmen einer Krebserkrankung, Schmerzen im Rahmen von Durchblutungsstörungen sowie sekundärer zentraler Schmerz. Die Elektrotherapieverfahren TENS und gammaCore® seien nicht identisch. Das begehrte Gerät unterscheide sich durch den hohen Frequenzbereich und beanspruche Wirksamkeit bei Epilepsie und zentral ausgelösten Schmerzzuständen wie Migräne oder Clusterkopfschmerz. Da das begehrte Gerät auf der Grundlage eines nicht bewiesenen theoretisch-wissenschaftlichen Konzeptes durch einen eigenen Frequenzbereich einen spezifischen therapeutischen Effekt auf bisher der Elektrotherapie nicht zugängliche Krankheitsbilder beanspruche, müsse die gutachterlichen Bewertung als neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode (NUB) erfolgen. Bislang sei die Methode in der vertragsärztlichen Versorgung nicht zugelassen. An den fachärztlich gestellten Diagnosen der Schmerzklinik bestehe kein Zweifel. Eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung liege nicht vor. Zur Behandlung von Clusterkopfschmerzen stünden zahlreiche medikamentöse Verfahren zur Verfügung, die durch zB Verhaltenstherapie, ggf Ausdauersport oder Muskelentspannungsverfahren ergänzt werden sollten. Ein Wirksamkeitsnachweis liege für die beantragte Methode bislang nicht vor.

Auf das Ergebnis der Begutachtung gestützt lehnte die Beklagte den Antrag durch Bescheid vom 12.04.2017 ab.

Mit seinem Widerspruch vom 12.05.2017 machte der Kläger geltend, gammaCore® unterfalle nicht den Restriktionen des § 135 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Das dem Gerät zugrundeliegende theoretisch wissenschaftliche Konzept unterscheide sich nicht von anderen anerkannten Therapieverfahren. Es handele sich um Elektrotherapie mit hochfrequenten Strömen, wie sie beispielsweise bei einem TENS-Gerät zur Anwendung komme. Die Beklagte könne dem Kläger keine Behandlung anbieten, die zur Behandlung der Clusterkopfschmerzen geeignet wäre. In dem von der Beklagten eingeholten weiteren Gutachten vom 31.07.2017 (Dr. Barke) blieb der MDK bei seiner Einschätzung.

Am 09.10.2017 beantragte der Kläger erneut die Kostenübernahme für gammaCore® unter Vorlage weiterer vom Hersteller zur Verfügung gestellter Informationen. Die Beklagte schaltete erneut den MDK ein. Dr. F. führte unter dem 13.10.2017 aus, bei der von Gaul et al publizierten randomisiert kontrollierten PREVA-Studie sei eine Kontrollgruppe, die ausschließlich eine Standardtherapie erhielt, mit einer Gruppe verglichen worden, die über einen Zeitraum von vier Wochen neben dem Standard zusätzlich nVNS erhalten habe. Aufgrund der Einschränkungen (sehr kleine Fallgruppen, Überschreitung der geschätzten drop-out-Rate von 10%, kein Placebo, outcome-Messung allein über Patientenangaben, kurze Behandlungsdauer) und der damit verbundenen geringen Ergebnissicherheit könnte trotz statistisch signifikanter Ergebnisse bislang nur von einem Anhaltspunkt für einen Nutzen der Therapie gesprochen werden, ein solcher sei nicht belegt. Mit Bescheid vom 17.10.2017 lehnte die Beklagte den Antrag erneut ab. Auch hiergegen erhob der Kläger Widerspruch.

Die Beklagte holte ein weiteres Gutachten beim MDK (vom 29.11.2017, Dr. S.) ein, welches die bisherigen Gutachten bestätigte. Mit Widerspruchsbescheid vom 07.02.2018 wies sie sodann die Widersprüche zurück.

Hiergegen richtet sich die am 07.03.2018 zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhobene Klage. Der Kläger ist weiter der Auffassung, dass es sich nicht um eine NUB handele, sondern eine Elektro-Therapie mit hochfrequenten Strömen. Dass sich der zum Einsatz gebrachte Frequenz-Bereich von der TENS-Behandlung unterscheide, könne nicht als Merkmal zur Abgrenzung herangezogen werden. Der therapeutische Nutzen sei gegeben. Durch den Einsatz des Gerätes habe er erstmalig eine beachtliche Schmerzlinderung erfahren. Auch das Wirtschaftlichkeitsgebot stehe der Versorgung nicht entgegen, denn eine weniger kostenintensive Behandlungsmethode gebe es nicht. Er habe bereits vielfache Therapien über sich ergehen lassen, ohne nennenswerte und nachhaltige Besserung zu verspüren.

Das SG hat die behandelnden Ärzte des Klägers als sachverständige Zeugen schriftlich vernommen. Dipl.-Psych. R. hat eine psychotherapeutische Behandlung seit 13.04.2017 bestätigt. Der Hausarzt des Klägers Dr. H. hat mitgeteilt (Schreiben vom 21.06.2018), dass die gammaCore®-Therapie in den DRK-Kliniken N. erprobt worden sei. Er könne als Allgemeinmediziner zur Therapie des Clusterkopfschmerzes keine begründete Meinung abgeben, dies sei Sache der Spezialisten. Ergänzend hat er den Arztbrief der DRK-Kliniken N. über die stationäre Behandlung des Klägers vom 28.12.2017 bis 18.01.2018 vorgelegt.

Ergänzend hat das SG ein Gutachten eingeholt bei dem Oberarzt Neurologie, Sektionsleiter Schmerztherapie Dr. F. beim Klinikum K.-L ... Im Gutachten vom 22.10.2018 bestätigt Dr. F. folgende Diagnosen: chronischer Clusterkopfschmerz, chronischer Spannungskopfschmerz, koronare Herzkrankheit, Myokardinfarkt 2011 mit Kammerflimmern und Reanimation, Stentimplantation, Schlaf-Apnoe-Syndrom mit CPAP-Therapie sowie Thrombose der Vena saphena magna beidseits 2014. Mittel der ersten Wahl zur Behandlung in der akuten Attacke des Clusterkopfschmerzes sei die Gabe von Sauerstoff. Dies wende auch der Kläger an mit einer Besserung der Schmerzen um 25%. Bezüglich einer prophylaktischen Therapie seien Mittel der ersten Wahl Verapamil, Kortison, Lithium. Lithium sei wegen der kardialen Komorbidität nicht verabreicht worden, Kortison sei ohne Wirkung geblieben und unter einer mittelhohen Dosierung von Verapamil von 480 mg seien bei Auftreten von Nebenwirkungen die Schmerzen unverändert geblieben. Weitere Mittel der zweiten Wahl wie Ergotamine (kontraindiziert bei Herzschaden), Valproinsäure (Nebenwirkungen), Topiramat (kein Effekt) seien erfolglos eingesetzt worden oder wegen Kontraindikationen nicht möglich gewesen. Bezüglich der Möglichkeiten neuromodulativer Verfahren existierten wenig belastbare Daten aus Studien. Bei der Vagusstimulation sprächen die vorliegenden Daten trotz der geringen Komplikations- und Nebenwirkungsrate nach der aktuell herrschenden Meinung gegen einen unkritischen Einsatz. Beim Kläger seien die therapeutischen Möglichkeiten erschöpft. In der kurzen Zeit von sechs Wochen, in denen dem Kläger gammaCore® zur Verfügung gestanden habe, habe durchgehend eine gute Wirksamkeit erreicht werden können. Ein Vergleich der Kosten zeige bei gammaCore® Kosten von monatlich ca 260 EUR gegenüber monatlich ca 1.020 EUR für die übliche medikamentöse Therapie (Verapamil 480 mg plus Sumatriptan Fertigspritze). Formal bestehe weder eine lebensbedrohliche Erkrankung, noch eine allgemein anerkannte Methode. Allerdings liege eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder spürbare Besserung vor. Trotz aller Regularien werde auch im Hinblick auf das Recht des Kranken auf bestmögliche Therapie im Einzelfall der Einsatz des gammaCore® zu Lasten der GKV befürwortet.

Mit Urteil vom 20.02.2019 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verurteilt, den Kläger zukünftig mit der "gammaCore-Therapie" zu versorgen. Der Kläger habe Anspruch auf Versorgung mit dem Hilfsmittel gammaCore® nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V. Dieses Hilfsmittel diene dem Behinderungsausgleich. Eine Behinderung iSv § 2 Abs 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) liege beim Kläger vor. Clusterkopfschmerzen und chronische Spannungskopfschmerzen könnten nach der Versorgungsmedizin-Verordnung auch einen GdB bedingen; beim Kläger sei sogar die Schwerbehinderteneigenschaft festgestellt. Maßgeblich sei, ob eine Leistung des unmittelbaren oder mittelbaren Behinderungsausgleichs beansprucht werde. Beim gammaCore®-Gerät stehe nicht eine neue Behandlungsmethode bzw ein untrennbarer Zusammenhang mit einer neuen Behandlungsmethode im Vordergrund, sondern das begehrte Hilfsmittel diene im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs der Milderung der von der Behinderung des Klägers – nämlich der Clusterkopfschmerzen und der chronischen Spannungskopfschmerzen – verursachten Auswirkungen. Soweit nur ein Behinderungsausgleich in Betracht komme, verlange die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gerade nicht, dass die Zweckmäßigkeit des Hilfsmittels nach den Maßstäben des § 135 SGB V festgestellt werde. Das gammaCore® sei vorliegend erforderlich, dh zweckmäßig, notwendig und wirtschaftlich. Hierbei stütze sich das SG auf das Gutachten von Dr. F ... Clusterkopfschmerzen hätten immer eine sehr hohe Schmerzintensität und beeinflussten das Erleben in ausgeprägter Weise; sie gehörten zu den stärksten Schmerzen, die es gebe. Allein hierdurch, noch verstärkt durch die Spannungskopfschmerzen, sei die Lebensqualität des Klägers wesentlich beeinträchtigt. Es stehe auch keine andere Hilfsmittelversorgung oder andere Behandlung der Schmerzen zur Verfügung. Eine medikamentöse Behandlung mit Verapamil und Lithium sei wegen der Herzerkrankung ausgeschlossen. Die Berichte der DRK-Klinik N. vom 21.12.2017 und 06.02.2018 seien dahingehend eindeutig. Es spiele keine Rolle, dass gammaCore® im Hilfsmittelverzeichnis nicht gelistet sei.

Gegen das ihr am 01.03.2019 zugestellte Urteil richtet sich die am 29.03.2019 eingelegte Berufung der Beklagten. Es handele sich nicht um ein Hilfsmittel zum unmittelbaren Behinderungsausgleich. Derartige Hilfsmittel würden für verlorengegangene oder ausgefallene Körperfunktionen mit dem Ziel eines möglichst vollständigen funktionellen Ausgleichs eingesetzt. Durch das gammaCore®-Gerät würden keine Körperfunktionen ersetzt, es diene ausschließlich dazu, die beim Kläger regelmäßig auftretenden Clusterkopfschmerzen zu lindern. Solle ein Hilfsmittel im Rahmen der Krankenbehandlung deren Erfolg sichern, sei es nicht vom zugrundeliegenden Behandlungskonzept und den dafür geltenden Anforderungen zu trennen. Der Einsatz einer NUB ohne Zulassung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) entspreche nicht den Anforderungen der GKV. Auch die Voraussetzungen des § 2 Abs 1a SGB V seien nicht erfüllt, insbesondere liege keine schwerwiegende bzw lebensbedrohliche Erkrankung vor. Darüber hinaus stünden zugelassene Behandlungsoptionen zur Verfügung.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 20.02.2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Das SG habe zu Recht auf die Feststellungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen verwiesen, der eindrucksvoll nachweise, dass die Clusterkopfschmerzen beim Kläger austherapiert seien und keine alternativen Behandlungsmöglichkeiten, auch im Hinblick auf die bestehende Herzproblematik, zur Verfügung stünden. Das Vorenthalten der begehrten Therapie sei für den Kläger sehr belastend, die Schmerzproblematik wirke sich vermehrt negativ auf die Psyche aus.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten hat Erfolg.

Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) eingelegte und statthafte (§§ 143, 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG) Berufung ist zulässig und in der Sache auch begründet. Das SG hat die Beklagte zu Unrecht zur Kostenübernahme verurteilt, denn die angefochtenen Bescheide vom 12.04.2017 und 17.10.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.02.2018 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Versorgung mit dem Therapiegerät gammaCore®. Richtige Klageart ist die mit der Anfechtungsklage verbundene Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4 SGG).

Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs ist § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V. Nach dieser Vorschrift haben Versicherte einen Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen sind. Dabei besteht ein Anspruch auf Versorgung mit Blick auf die "Erforderlichkeit im Einzelfall" grundsätzlich nur, soweit das begehrte Hilfsmittel geeignet, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet; darüberhinausgehende Leistungen darf die Krankenkasse gemäß § 12 Abs 1 SGB V nicht bewilligen (BSG 10.03.2011, B 3 KR 9/10 R). Der bei der Beklagten versicherte Kläger hat aufgrund des chronischen Clusterkopfschmerzes gemäß § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V Anspruch auf Krankenbehandlung, die nach Satz 2 Nr 3 auch die Versorgung mit Hilfsmitteln umfasst.

Aus der vorliegenden ärztlichen Verordnung des gammaCore® "alle vier Wochen" durch Dr. H. folgt noch nicht, dass der Versicherte auch einen Anspruch hierauf hat. Der Versorgungsanspruch nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V besteht weder allein aufgrund einer vertragsärztlichen Verordnung (§ 73 Abs 2 Satz 1 Nr 7 SGB V) des Hilfsmittels, noch weil ein Hilfsmittel als solches im Hilfsmittelverzeichnis (HMV) gelistet ist. Das vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen auf der Grundlage von § 139 SGB V erstellte HMV legt die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung gegenüber den Versicherten nicht verbindlich und abschließend fest. Es schließt weder Hilfsmittel von der Versorgung der Versicherten aus, die den gesetzlichen Anforderungen des § 33 SGB V genügen, noch besteht ein Anspruch der Versicherten auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die zwar im Hilfsmittelverzeichnis verzeichnet, für die aber nicht die gesetzlichen Voraussetzungen des § 33 SGB V erfüllt sind (BSG 10.04.2008, B 3 KR 8/07 R, SozR 4-2500 § 127 Nr 2 Rn 10; BSG 10.03.2011, B 3 KR 9/10 R, SozR 4-2500 § 33 Nr 33). Den Krankenkassen steht vielmehr ein eigenes Entscheidungsrecht zu, ob ein Hilfsmittel nach Maßgabe des § 33 SGB V zur medizinischen Rehabilitation, also zur Sicherung des Erfolges der Krankenbehandlung, zur Vorbeugung gegen eine drohende Behinderung oder zum Ausgleich einer bestehenden Behinderung im Einzelfall erforderlich ist. Dabei konnten die Krankenkassen bereits nach dem vor dem 11.04.2017 geltenden Recht zur Klärung medizinisch-therapeutischer Fragen den MDK nach § 275 Abs 3 SGB V einschalten (BSG 10.03.2011, aaO, unter Hinweis auf BSG 07.10.2010, B 3 KR 13/09 R, SozR 4-2500 § 33 Nr 31). Nach dem seit 11.04.2017 geltenden Recht (§ 33 Abs 5b Satz 1 SGB V) müssen die Krankenkassen, wenn sie - wie hier - nicht auf die Genehmigung des Hilfsmittels verzichtet haben, den Antrag auf Bewilligung des Hilfsmittels mit eigenem weisungsgebundenen Personal prüfen. Sie können in geeigneten Fällen durch den MDK vor Bewilligung eines Hilfsmittels nach § 275 Abs 3 Nr 1 SGB V prüfen lassen, ob das Hilfsmittel erforderlich ist (§ 33 Abs 5b Satz 2 SGB V). Eine Beauftragung Dritter ist nicht (mehr) zulässig (§ 33 Abs 5b Satz 3 SGB V).

Eine vertragsärztliche Verordnung ist nach der seit dem 30.10.2012 geltenden Rechtslage allenfalls dann für eine Krankenkasse verbindlich, wenn sie für bestimmte Hilfsmittel auf ein Prüfungs- und Genehmigungsrecht generell verzichtet haben, was zB durch vertragliche Vereinbarungen nach § 127 SGB V mit Leistungserbringern bzw deren Verbänden möglich ist (BSG 25.02.2015, B 3 KR 13/13 R, SozR 4-2500 § 33 Nr 44). Ein solcher Verzicht auf eine Genehmigung liegt hier nicht vor.

Da es sich bei gammaCore® um ein Medizinprodukt iSv § 3 Nr 1 Medizinproduktegesetz (MPG) handelt, gilt der Nachweis der Funktionstauglichkeit und der Sicherheit durch die vorliegende CE-Kennzeichnung grundsätzlich als erbracht (§ 139 Abs 5 Satz 1 SGB V). Ein weiterer Nachweis eines medizinischen Nutzens ist nicht erforderlich, denn es sind nicht für Hilfsmittel jeglicher Art klinische Prüfungsergebnisse vorzulegen. Das Nachweiserfordernis richtet sich vielmehr primär danach, ob es sich um Hilfsmittel handelt, die therapeutischen Zwecken dienen, oder um solche zum bloßen Behinderungsausgleich. In letzterem Fall ist der Nachweis eines medizinischen Nutzens, der über die Funktionstauglichkeit zum Ausgleich der Behinderung hinausgeht, weder von der Zielrichtung des Hilfsmittels geboten, noch in der Regel auch nur möglich (vgl BSG 16.09.2004, B 3 KR 20/04 R, SozR 4-2500 § 33 Nr 8 = SGb 2005, 349 mit Anm Beck; vgl auch LSG Berlin-Brandenburg 22.02. 2018, L 1 KR 56/14 – zu Laufrad mit Anm Knierim, MPR 2019, 33). Diese – von der Rspr bereits zur bisherigen Rechtslage entwickelte – Differenzierung hat sich der Gesetzgeber in der Neufassung von § 139 Abs 4 Satz 1 SGB V durch das HHVG (Aufnahme des Zusatzes "soweit erforderlich") ausdrücklich zu eigen gemacht (vgl BT-Drs 16/3100 S 150).

Entgegen der Auffassung des SG handelt es sich vorliegend jedoch nicht um ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich, sondern um ein solches zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung. Aufgrund einer fehlenden positiven Empfehlung des GBA ist die Versorgung mit gammaCore® daher über die Sperrwirkung des § 135 SGB V ausgeschlossen. Wird ein Hilfsmittel als untrennbarer Bestandteil einer neuen vertragsärztlichen Behandlungs- oder Untersuchungsmethode eingesetzt, hat die Krankenkasse die Kosten hierfür grundsätzlich erst zu übernehmen, wenn der GBA die Methode positiv bewertet hat. Im Hinblick auf die Sicherung von Nutzen und Wirtschaftlichkeit von Behandlungsmethoden ist das Prüfungsverfahren beim GBA vorgeschaltet. Erst wenn diese Prüfung positiv ausgefallen ist, sind die für den Einsatz der dann anerkannten Methode notwendigen Hilfsmittel Gegenstand der Leistungspflicht der Krankenkassen (BSG 08.07.2015, B 3 KR 6/14 R, SozR 4-2500 § 139 Nr 7 = NZS 2015, 860 – CAM-Schiene und B 3 KR 5/14 R, SozR 4-2500 § 33 Nr 47= BeckRS 2015, 727224 – Glucosemonitoring System; vgl auch § 139 Abs 3 Satz 3 bis 5 SGB V idF vom 04.04.2017). Die 1. Alternative des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V betrifft lediglich solche Gegenstände, die aufgrund ihrer Hilfsmitteleigenschaft spezifisch im Rahmen der ärztlich verantworteten Krankenbehandlung eingesetzt werden, um zu ihrem Erfolg beizutragen. Es ist ausreichend, aber auch notwendig, dass mit dem Hilfsmittel ein therapeutischer Erfolg angestrebt wird (BSG 16.09.2004, B 3 KR 19/03 R, BSGE 93, 176; BSG 08.07.2015, B 3 KR 5/14 R, aaO, Rn 20, mwN). Genau dies ist hier der Fall.

GammaCore® soll im konkreten Fall des Klägers eingesetzt werden zur Prophylaxe des Clusterkopfschmerzes. Dies folgt nicht nur aus dem eigenen Vorbringen des Klägers, sondern auch aus den Berichten der DRK-Kliniken N ... Dort konnte im Rahmen der erprobungsweisen Behandlung im Jahr 2017 eine Reduzierung der Häufigkeit der Attacken erreicht werden. Damit dient das Hilfsmittel der Krankenbehandlung zur Linderung der Symptome der Erkrankung bzw zur Prophylaxe. Während der Kläger bei akuten Attacken mit Sauerstoff behandelt werden kann, sind die für die Prophylaxe üblicherweise eingesetzten Medikamente bei ihm entweder nicht wirksam oder wegen der Herzerkrankung kontraindiziert. Insoweit stützt sich der Senat auf das gerichtliche Sachverständigengutachten von Dr. F. und die letzten Berichte der DRK-Kliniken N ... Auch in der Veröffentlichung zur PREVA-Studie (Gaul et al, https://doi.org/10.1177/0333102415607070) wird ausgeführt, dass hochdosiertes Verapamil mit schwerwiegenden kardiovaskulären Effekten (wie Arrhythmien, Bradykardie, Ödem) und Lethargie assoziiert ist. Die nVNS zur Prävention von chronischem Clusterkopfschmerz wurde im Rahmen der PREVA-Studie in der Form angewendet, dass drei 2-minütige Stimulationen (dh drei Zyklen) im Abstand von 5 Minuten zweimal täglich (dh sechs Zyklen pro Tag) erfolgten. Die im Rahmen der Studie erfolgte optionale Anwendung der nVNS als Akuttherapie hatte keine Auswirkungen auf die Dauer oder Schmerzintensität der Clusterkopfschmerzattacke. Die prophylaktische Behandlung ergab einen therapeutischen Benefit von durchschnittlich 3,9 weniger Attacken pro Woche bei einer Responderrate (ie Anteil an Patienten mit Reduktion der durchschnittlichen wöchentlichen Clusterkopfschmerz-Attacken-Zahl &8805; 50%) von 40% (vs 8,3% in der Kontrollgruppe, vgl Gaul et al aaO). Da die Pathophysiologie des Clusterkopfschmerzes bisher nicht vollständig geklärt ist, sind die Behandlungsstrategien bislang vorrangig aus empirischer Evidenz abgeleitet worden. Das genaue Wirkprinzip der Behandlungsmethode nVNS ist noch nicht bekannt.

Als Hilfsmittel zur nVNS ist gammaCore® untrennbarer Bestandteil einer neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode. Ärztliche bzw ärztlich verordnete Behandlungsmethoden iS der gesetzlichen Krankenversicherung sind medizinische Vorgehensweisen, denen ein eigenes theoretisch-wissenschaftliches Konzept zu Grunde liegt, das sie von anderen Therapieverfahren unterscheidet und das ihre systematische Anwendung in der Behandlung bestimmter Krankheiten rechtfertigen soll. "Neu" ist eine Methode, wenn sie zum Zeitpunkt der Leistungserbringung nicht als abrechnungsfähige ärztliche Leistung im EBM-Ä enthalten ist (BSG 27.09.2005, B 1 KR 28/03 R). So liegt der Fall hier. Es handelt sich um eine rein formale Abgrenzung. Ob in Leitlinien die entsprechende Behandlungsmethode bereits empfohlen wird oder sie bereits seit Jahren durchgeführt wird, ist nicht entscheidend. Davon abgesehen wird das Verfahren bislang in Leitlinien noch nicht empfohlen. In der vom 14.05.2015 bis 13.05.2020 geltenden S1-Leitlinie "Clusterkopfschmerz und trigeminoautonome Kopfschmerzen" (AWMF-RegNr 030/036) werden zur Therapie des Clusterkopfschmerzes medikamentöse Behandlung und operative Verfahren dargelegt, nVNS wird nicht erwähnt. In der Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Prophylaxe von Clusterkopfschmerz, anderen trigeminoautonomen Kopfschmerzen, schlafgebundenem Kopfschmerz und idiopathisch stechenden Kopfschmerzen – Überarbeitete Therapieempfehlung der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft in Zusammenarbeit mit der DGN, ÖKSG, SKG wird lediglich darauf hingewiesen, dass zunehmend nicht invasive Verfahren der Nervenstimulation (N supraorbitalis und N Vagus) zur Verfügung stünden, deren Wirksamkeit allerdings noch in kontrollierten Studien nachgewiesen werden müsse (May et al, Nervenheilkunde 2016, 137, 145). Auch nach der Produktinformation (Blatt 122 V-Akte) wird vom Vertriebsunternehmen selbst davon ausgegangen, dass die Kosten für das Gerät nicht von den Krankenkassen übernommen werden unter Hinweis auf die Möglichkeit der Stellung eines Antrags auf Einzelfallerstattung. Eine Empfehlung des GBA zur Behandlung mit gammaCore® liegt nicht vor, es wurde bislang auch kein entsprechender Antrag zur Bewertung dieser Behandlungsmethode gestellt (www.g-ba.de).

Entgegen der Auffassung des Klägers kann nicht unter Hinweis auf die TENS-Therapie davon ausgegangen werden, dass es sich um das bekannte Verfahren der Elektrotherapie zur Schmerzbehandlung handele. Bei der Transkutanen Elektrischen Nervenstimulation handelt es sich um eine elektromedizinische Reizstromtherapie zur Behandlung von (akuten und chronischen) Schmerzen. Die Anleitung der Patienten zur Selbstanwendung entsprechender Therapiegeräte wird durch die Gebührenordnungsposition (GOP) 30712 EBM-Ä (Anleitung des Patienten zur Selbstanwendung der transkutanen elektrischen Nervenstimulation) erfasst, die im Krankheitsfall höchstens fünf Mal berechnungsfähig ist. Einer Übertragung auf die hier streitige Behandlung steht schon entgegen, dass mit der nVNS zur Prophylaxe des Clusterkopfschmerzes ein therapeutischer Effekt auf ein bisher nicht der Elektrotherapie zugängliches Krankheitsbild beansprucht wird. Der Senat stützt sich insoweit auf die MDK-Gutachten (zB Gutachten vom 29.11.2017, Seite 2).

Soweit das SG von einem Hilfsmittel allein zum Behinderungsausgleich ausgeht, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Da es nicht um die Vorbeugung einer drohenden Behinderung geht (eine Behinderung ist bereits eingetreten), kommt allein ein Behinderungsausgleich nach § 33 Abs 1 Satz 1, 3. Variante SGB V in Betracht. Zur Frage der Erforderlichkeit eines Hilfsmittels zum Behinderungsausgleich iS des § 33 Abs 1 Satz 1 3. Variante SGB V wird nach ständiger Rechtsprechung stets unterschieden zwischen dem unmittelbaren Behinderungsausgleich, bei dem das Hilfsmittel unmittelbar zum Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst eingesetzt wird, und dem mittelbaren Behinderungsausgleich, bei dem das Hilfsmittel zum Ausgleich der direkten und indirekten Behinderungsfolgen eingesetzt wird (vgl BSG 18.05.2011, B 3 KR 10/10 R, Behindertenrecht 2012, 145 (Sportrollstuhl)). Ein unmittelbarer Behinderungsausgleich kommt hier nicht in Betracht, denn es wird durch gammaCore® keine ausgefallene oder beeinträchtigte Körperfunktion ersetzt. Davon geht auch das SG aus. Allerdings hat dieses Hilfsmittel auch nicht den Zweck, die direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen (sog mittelbarer Behinderungsausgleich). Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist von der gesetzlichen Krankenversicherung nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft (stRspr, vgl BSG 18.05.2011, B 3 KR 10/10 R, Behindertenrecht 2012, 145 (Sportrollstuhl) mwN; BSG 25.02.2015, B 3 KR 13/13 R, aaO).

Anknüpfungspunkt ist auch beim mittelbaren Behinderungsausgleich der Ausgleich für einen entsprechenden Funktionsverlust. Menschen sind nach § 2 Abs 1 Satz 1 SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Beim Kläger ist die Schwerbehinderteneigenschaft festgestellt. Allerdings darf die Behandlung der Schmerzerkrankung nicht verwechselt werden mit einem Ausgleich von direkten und indirekten Folgen der Behinderung. Durch jede mit erheblichen Schmerzen verbundene chronische Erkrankung wird die Teilhabe des Betroffenen am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt. Eine Behandlung mit dem Ziel der Beseitigung oder Reduzierung der Schmerzen führt damit mittelbar auch stets zu einer verbesserten Teilhabemöglichkeit. Dies ändert jedoch nichts daran, dass primäres Ziel hier die Therapie des Clusterkopfschmerzes ist. Würde man die durch Erreichen des Behandlungsziels eintretenden Folgewirkungen in den Vordergrund stellen, könnte in Fällen der vorliegenden Art zwischen mittelbarem Behinderungsausgleich und Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung nicht mehr unterschieden werden. Damit wären zugleich auch jegliche Schutzmechanismen zugunsten der Patienten über § 135 SGB V außer Kraft gesetzt.

Es liegt auch kein Ausnahmefall vor, in dem es keiner Empfehlung des GBA bedarf. Ein sogenanntes Systemversagen unter dem Aspekt, dass der GBA zu der fraglichen Methode noch keine Empfehlung abgegeben hat und das vorgesehene Anerkennungsverfahren für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden trotz Anhaltspunkten für eine therapeutische Zweckmäßigkeit der Methode aus willkürlichen oder sachfremden Erwägungen heraus nicht oder nicht rechtzeitig durchgeführt wurde bzw eine Aktualisierung der Richtlinien unterblieben ist (BSG 07.11.2006, B 1 KR 24/06 R, BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12; BSG 10.05.2012, B 1 KR 78/11 B, SozR 4-2500 § 140f Nr 1), liegt nicht vor. Dem steht schon die bislang nur dürftige Studienlage entgegen. Dass die anderen Behandlungsmethoden aus Sicht des Klägers eventuell nicht optimal sein könnten, bleibt ohne Belang. Denn die gesetzlichen Krankenkassen sind von Verfassungs wegen nicht gehalten, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit überhaupt verfügbar ist. Dem Gesetzgeber ist es nicht verwehrt, neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zunächst auf ihren diagnostischen und therapeutischen Nutzen sowie auf ihre medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu prüfen, um die Anwendung dieser Methoden zu Lasten der Krankenkasse auf eine fachlich-medizinisch zuverlässige Grundlage zu stellen.

Ebenso wenig handelt es sich um einen sogenannten Seltenheitsfall, in dem sich eine Krankheit und ihre Behandlung einer systematischen Erforschung entzieht und bei dem eine erweiterte Leistungspflicht der Krankenkassen in Betracht zu ziehen wäre (BSG 27.03.2007, B 1 KR 17/06 R). Der hier der streitigen Behandlung zugrundeliegende Clusterkopfschmerz ist keine seltene Erkrankung. Die 1-Jahres-Prävalenz des Clusterkopfschmerzes liegt bei 0,1 und 0,2% (Leitlinie "Clusterkopfschmerz und trigeminoautonome Kopfschmerzen", AWMF-RegNr 030/036).

Der Kläger kann sich auch nicht auf § 2 Abs 1a SGB V berufen. Nach dieser Vorschrift können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Diese Vorschrift setzt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (06.12.2005, 1 BvR 347/98) und die diese Rechtsprechung konkretisierenden Entscheidungen des BSG (zB BSG 04.04.2006, B 1 KR 12/04 R und B 1 KR 7/05 R; BSG 16.12.2008, B 1 KR 11/08 R) zur Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für neue Behandlungsmethoden, die Untersuchungsmethoden einschließen würden, in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung um. Mit dem Kriterium einer Krankheit, die zumindest mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung in der Bewertung vergleichbar ist, ist eine strengere Voraussetzung umschrieben, als sie etwa mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden" Erkrankung für die Eröffnung des so genannten Off-Label-Use formuliert ist. Gerechtfertigt ist hiernach eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen ua nur, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist (vgl BVerfG 10.11.2015, 1 BvR 2056/12). Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich ein voraussichtlich tödlicher Krankheitsverlauf innerhalb überschaubaren Zeitraums mit Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird; Ähnliches kann für den nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gelten.

Die Erkrankungen des Klägers sind keine lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankungen. Sie sind auch nicht wertungsmäßig mit solchen Erkrankungen vergleichbar. Der Senat schließt sich insoweit dem Gutachten von Dr. F. an. Auch wenn es vereinzelt bei unter Clusterkopfschmerz leidenden Patienten zu Suiziden gekommen ist, liegt im konkreten Fall nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen keine lebensbedrohliche Erkrankung vor.

Die Beiladung weiterer Leistungsträger nach § 75 Abs 2 SGG ist nicht geboten, da Leistungsansprüche außerhalb des Bereichs der gesetzlichen Krankenversicherung insoweit nicht in Betracht kommen. Ansprüche auf Rehabilitationsleistungen, für die die Beklagte als erstangegangener Rehabilitationsträger nach § 14 Abs 2 SGB IX auch unter den Voraussetzungen der Leistungen zur Teilhabe nach anderen Leistungsgesetzen zuständig wäre, stehen hier nicht im Raum. Es geht allein um ein Hilfsmittel zur Krankenbehandlung.

Auch ein von der Beklagten nach § 40 Abs 5 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) zu prüfender Anspruch gegen die Pflegeversicherung kommt nicht in Betracht. Pflegebedürftige haben Anspruch auf Versorgung mit Pflegehilfsmitteln, die zur Erleichterung der Pflege oder zur Linderung der Beschwerden des Pflegebedürftigen beitragen oder ihm eine selbstständigere Lebensführung ermöglichen, soweit die Hilfsmittel nicht wegen Krankheit oder Behinderung von der Krankenversicherung oder anderen zuständigen Leistungsträgern zu leisten sind (§ 40 Abs 1 Satz 1 SGB XI). Pflegebegründende Diagnosen sind beim Kläger nach dem Pflegegutachten des MDK vom 13.07.2018: Angststörung, nicht näher bezeichnet (ICD-10 F41.9) und Persönlichkeits- und Verhaltensstörung aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns (ICD-10 F07). Die Behandlung des Clusterkopfschmerzes steht insofern nicht in einem direkten Zusammenhang mit der Pflege. Die Aspekte der Linderung der Beschwerden oder der Ermöglichung einer selbstständigeren Lebensführung sind lediglich mittelbare Folge einer Behandlung der Schmerzen des Klägers. Dient ein Hilfsmittel – wie hier – primär der Krankenbehandlung, kann nicht über mittelbare Folgewirkungen im Bereich der Pflege die Sperrwirkung des § 135 SGB V ausgehebelt werden (vgl Eichberger, WzS 2018, 38, 40).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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