S 12 SB 2153/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 12 SB 2153/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine bloße Verdachtsdiagnose kann im Einzelfall der Versorgungsverwaltung Anlass geben, den Beweis des Ausmaßes einer Behinderung mithilfe einer ambulanten Begutachtung zu erheben, wenn sich die Sachverhaltsaufklärung nicht auf die Beiziehung unzulänglicher Berichte Dritter beschränken kann, da es unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls begründete Zweifel an der Annahme gibt, dass die bisher geringe Untersuchungs- und Behandlungsintensität mit einem niedrigen Leidensdruck korreliert, etwa, weil ein kranker Mensch aus individuellen (z. B. fehlende Krankheitseinsicht, fehlender Antrieb, noch schwerer wiegenden Parallelbelastungen, religiös bzw. kulturell geprägten Überzeugungen etc.) oder strukturellen Gründen (z. B. finanzielle, zeitliche oder wegespezifische Zugangshindernisse, etc.) ausnahmsweise oder vorübergehend daran gehindert oder weniger willens sein könnte, fachlich qualifizierte Hilfe in angemessenem Umfang in Anspruch zu nehmen, so auch hier.

Wenn die Ärzte einer Reha-Abteilung es im Rahmen ihres ausführlichen Entlassungsberichts bei einer für sie fachfremden Diagnosestellung wohlweislich bei einer bloßen Verdachtsdiagnose belassen, obwohl die besonders aussagekräftigen, detaillierten, unzweifelhaft pathologischen fachfremden Befunde und anamnestische Angaben bereits den Vollbeweis einer Beeinträchtigung rechtfertigen, beruht die fehlende Bezeichnung der Diagnose als „gesichert“ nicht auf Zweifeln am Vorliegen einer Erkrankung, sondern auf der bedachtsamen Einsicht, die Art der Erkrankung mangels Sachverstand nicht mit der gebotenen Sicherheit zutreffend bezeichnen zu können.

Der vom Beklagten nicht näher zitierten, vermeintlich ständigen Rechtsprechung des LSG Baden-Württemberg, wonach eine für den Gesamt-GdB relevante Gesundheitsstörung im Funktionssystem Kopf einschließlich Psyche auf Grundlage des Teil B Ziff. 3. 7 der VG ohne fachärztliche Behandlung und Durchführung einer engmaschigen Psychotherapie niemals in Betracht komme, wäre in dieser Pauschalität nicht zu folgen, weil es schlechterdings keinen allgemeinen Erfahrungssatz gibt, wonach das Nichtausschöpfen therapeutischer Möglichkeiten Ausdruck eines geringen Leidensdrucks ist, und eine so oberflächliche Beweiswürdigung einen großen Teil der Menschen mit schweren Behinderungen ohne hinreichenden sachlichen Grund diskriminieren würde.

Mitnichten ist nach dem Verlassen des therapeutischen Milieus immer von einer allenfalls unerheblichen oder vorübergehenden Teilhabeeinschränkung auszugehen, nur, weil es bei der Entlassung aus einer stationären medizinischen Rehabilitationsbehandlung heißt, dass sehr gut von dem Behandlungsangebot profitiert und neue Perspektiven sowie Bewältigungsstrategien für die weitere Lebensführung entwickelt werden konnten, falls hierzu weitere Behandlungen nachdrücklich empfohlen werden.
Der Bescheid des Beklagten vom 04.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.06.2019 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung über den Neufeststellungsantrag vom 23.05.2018 für die Zeit ab dessen Eingang beim Beklagten am 25.05.2018 an das Landratsamt Karlsruhe zurückverwiesen. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) im Sinne des Neunten Buches Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX).

Bei der 1969 geborenen Klägerin hatte der Beklagte den Gesamt-GdB mit Bescheid vom 22.11.2017 zuletzt mit 20 ab 05.10.2017 unter Berücksichtigung folgender Funktionsstörungen festgestellt:

"GdB" Funktionsstörung(en) 20 - Funktionsbehinderung des rechten Kniegelenks - Knorpelschäden am rechten Kniegelenk 10 - Operierter Bandscheibenschaden

Die Klägerin beantragte am 24.05.2018 die Neufestsetzung des GdB. Sie teilte dem Beklagten zur Überprüfung ihrer gesundheitlichen Verhältnisse die sie behandelnden Ärzte mit, befreite diese von ihrer Schweigepflicht und legte zur Substantiierung der Verschlimmerung ihres Gesundheitszustandes einen Vorläufigen Entlassungsbericht über einen dreiwöchigen teilstationären Rehabilitations-Aufenthalt im Anschluss an die Implantation einer zementfreien medialen Schlittenprothese am rechten Kniegelenk Ende Januar 2019 vor.

Nach medizinischer Ermittlung des Sachverhalts im Wege der Beiziehung des ausführlichen Ärztlichen Entlassungsberichts sowie älterer Unterlagen aus dem Jahr 2016 von der für Klägerin zuständigen gesetzlichen Unfallversicherung und der sozialmedizinischen Auswertung der Aktenlage meinte der Ärztliche Dienst des Beklagten ohne jegliche Bezugnahme auf die VersMedV oder die VMG oder irgendwelche Ausführungen zur Bildung des Gesamt-GdB, es sei seit 25.05.2018 ein Gesamt-GdB von weiterhin 20 aufgrund folgender Funktionsbeeinträchtigungen nachgewiesen:

"GdB" Funktionsstörung(en) 20 - Funktionsbehinderung des rechten Kniegelenks - Kniegelenksteilendoprothese 10 - Operierter Bandscheibenschaden

Dementsprechend lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 04.10.2016 den Antrag der Klägerin ab. Hiergegen legte die Klägerin am 16.10.2018 im Wesentlichen mit der Begründung Widerspruch eingelegt, der GdB von 20 für das rechte Kniegelenk sei nicht nachvollziehbar, da sie ununterbrochen starke Schmerzen habe, permanent Schmerzmittel benötige, nur kurze Strecken gehen und nicht mehr Treppensteigen, Schwere-Taschen-Tragen oder auch nur für die Dauer eines Kinofilmes sitzen könne. Überdies machten die Schmerzen und die Hilflosigkeit sie krank, weshalb sie inzwischen starke Depressionen und Ängste habe, ohne einen geeigneten Therapeuten hierfür finden zu können.

Der Beklagte zog daraufhin eine Auskunft der die Klägerin behandelnden Fachärztin für Unfallchirurgie bei. Ohne die Klägerin selbst ambulant sozialmedizinisch zu untersuchen, meinte der Ärztliche Dienst des Beklagten in einer fünfzeiligen gutachterlichen Stellungnahme ohne Bezugnahme auf die VersMedV oder die VMG oder Ausführungen zur Bildung des Gesamt-GdB nach Aktenlage anschließend, der Befundbericht bestätige die bisherige Bewertung, weil die bei längerer Belastung auftretenden Beschwerden bei dem Tenor "Funktionsbehinderung des rechten Kniegelenks" erfasst und mitbewertet seien.

Daraufhin hat der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 03.06.2019 zurückgewiesen. Deswegen hat die Klägerin am 25.06.2019 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben, eine Schweigepflichtentbindungserklärung abgegeben, ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren zu Art und Ausmaß ihrer krankheitsbedingten Teilhabebeeinträchtigungen durch ihre Funktionseinbußen in den Bereichen Psyche, Untere Gliedmaßen und Rumpf unter teilweiser Bezugnahme auf die einschlägigen Bewertungsvorgaben wiederholt und vertieft.

Die fachkundig vertretene Klägerin beantragt wörtlich:

Die Beklagte wird verurteilt unter Abänderung des Bescheides vom 04.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.06.2019 bei der Klägerin einen Grad der Behinderung von zumindest 50 seit Antragstellung festzustellen.

Die Kammer hat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass sie nach intensiver Auseinandersetzung mit dem Klagebegehren, den rechtlichen Beurteilungsgrundlagen und den aktenkundigen sozialmedizinischen Erkenntnissen noch erheblichen Ermittlungsbedarf auf dem psychiatrischen Fachgebiet sehe. Über den geltend gemachten höheren Grad der Behinderung könne das Gericht nicht ohne Weiteres entscheiden. Es verfüge nicht über hinreichend eigene sozialmedizinische Sachkunde. Auch könne es sich nicht auf die aktenkundigen gutachterlichen Stellungnahmen des Ärztlichen Dienstes des Beklagten stützen. Diese ließen keine über vernünftige Zweifel erhabene Überzeugungsbildung zu. Sie seien viel zu kurz bzw. inhaltlich nicht nachvollziehbar. Überdies seien sie ohne eine – in diesem Einzelfall nach Meinung der Kammer unerlässliche – ambulante psychiatrische Untersuchung zu sozialmedizinischen Zwecken ergangen. Anlass hierzu habe aufgrund des Entlassungsberichts vom 27.02.2018 bestanden. Dort sei als Entlassungsdiagnose der Verdacht auf depressive Störung geäußert worden. Die Klägerin habe über depressive Beschwerden, herabgesetzte Stimmung, fehlende Motivation, häufiges Grübeln, Schafstörungen und Zukunftsängste berichtet. Sie sei fachkundig als antriebsarm, grüblerisch und depressiv beschrieben worden. Der Ärztliche Dienst des Beklagten werde die erforderliche Begutachtung mitsamt ambulanter Untersuchung mithilfe der von ihm vorzuhaltenden persönlichen und sächlichen Ausstattung schnell und kosteneffizient bewerkstelligen und binnen maximal sechs Monaten erneut über die Sache entscheiden müssen. Das angerufene Gericht verfüge hingegen über keinen eigenen Ärztlichen Dienst und wäre auf teure, externe und langsame Gutachter angewiesen. Die Kammer erachte daher die Zurückweisung der Sache an den Beklagten unter Aufhebung seiner angefochtenen Entscheidung für sachdienlich, damit es möglichst schnell und nicht erst in vielen Monaten oder Jahren eine in der Sache zutreffende Entscheidung geben könne. Das Gericht beabsichtige, ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, da die Sache nach vorläufiger Prüfung der Sach- und Rechtslage keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweise und der Sachverhalt geklärt sei.

Der seitens des Gerichts mitgeteilten Absicht, die Sache zur erneuten behördlichen Ermittlung und Entscheidung ohne vorherige mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Gerichtsbescheid zurückzuweisen, ist die Klägerin nicht entgegengetreten.

Der Beklagte beantragt,

die Anordnung des Ruhens des Verfahrens, hilfsweise die Durchführung der mündlichen Verhandlung.

Er hat der Kammer am 12.08.2019 seine Verwaltungsakte vorgelegt. Er meint, ein erheblicher Ermittlungsbedarf lasse sich aus der Verwaltungsakte nicht ableiten. Der Änderungsantrag enthalte keine Hinweise auf eine psychische Gesundheitsstörung oder eine entsprechende fachärztliche Behandlung. Anhaltspunkte hierzu fänden sich erstmals in dem im Antragsverfahren beigezogenen Entlassungsbericht einer Klinik über den Aufenthalt der Klägerin vom 06.02.2018 bis zum 26.02.2018. Hier sei der Verdacht auf eine depressive Störung geäußert und eine psychotherapeutische Weiterbehandlung empfohlen worden. Gleichzeitig sei dokumentiert, die Klägerin habe sehr gut von dem psychologischen Behandlungsangebot profitieren und neue Perspektiven sowie Bewältigungsstrategien für die weitere Lebensführung entwickeln können. Die Klägerin selbst habe erstmals in der Widerspruchsbegründung vom 29.11.2018 auf starke Depressionen und Ängste hingewiesen und mitgeteilt, sie hätte noch keinen geeigneten Therapeuten gefunden. Die Inanspruchnahme fachärztlicher Behandlung durch einen Psychiater sei offenbar nicht in Erwägung gezogen worden. Eine Gesundheitsstörung sei zu diesem Zeitpunkt auf psychischem Fachgebiet noch nicht diagnostiziert worden. Bei diesem Sachverhalt vom Landratsamt eine Begutachtung einzufordern, stelle schlichtweg eine Ermittlung "ins Blaue hinein" dar. Die Feststellung von Diagnosen könne nicht die Aufgabe des Landratsamtes sein. Hinzu komme, dass nach ständiger Rechtsprechung des LSG Baden-Württemberg eine für den Gesamt-GdB relevante Gesundheitsstörung im Funktionssystem Kopf einschließlich Psyche auf Grundlage des Teil B Ziff. 3. 7 der VG ohne fachärztliche Behandlung und Durchführung einer engmaschigen Psychotherapie nicht in Betracht komme. Die Situation stelle sich im Klageverfahren nun anders dar. Die Klägerbevollmächtigte habe mit Schreiben vom 12.11.2019 mitgeteilt, dass sich die Klägerin in psychologischer Behandlung befinde. Um die Entscheidungsreife in diesem Klageverfahren herzustellen, sei hier die Einholung einer sachverständigen Zeugenaussage angezeigt. Bezüglich der von Seiten des Beklagten bereits in vergleichbaren Fällen der 12. Kammer mehrfach reflexartig mittels Textbaustein vorgebrachten Argumenten gegen den angekündigten Erlass eines Gerichtsbescheides bzw. für die Anordnung des Ruhens des Verfahrens wird exemplarisch auf die erschöpfende Darstellung der Kammer im Tatbestand des Gerichtsbescheides zum Vorverfahren 12 SB 981/19 vom 10.10.2019 (veröffentlicht in "juris") Bezug genommen.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakte des Beklagten sowie den der Prozessakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die Klage ist als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig und gemäß § 131 Abs. 1 und 5 SGG begründet im Sinne der Aufhebung der angefochtenen Bescheide unter Zurückverweisung der angegriffenen Entscheidung an den Beklagten zur neuerlichen Prüfung.

Nach § 131 Abs. 5 Satz 1 und 5 SGG kann das Gericht, hält es eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten seit Eingang der Behördenakten aufheben, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Das gilt nach § 131 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 1 SGG auch bei Klagen auf Verurteilung zum Erlass eines Verwaltungsakts der hier vorliegenden Art.

Die Frist für die Zurückverweisung ist zum Zeitpunkt dieser Entscheidung am 05.01.2020 noch nicht abgelaufen, weil seit dem erstmaligen Eingang der Verwaltungsakte 12.08.2019 bei Gericht noch keine sechs Monate verstrichen sind.

Die Kammer sieht noch erheblichen Ermittlungsbedarf, bevor über das Klägerbegehren entschieden werden kann. Das materiell-rechtliche Begehren der Klägerin ist auf die Feststellung eines höheren GdB von mindestens 30 ab 25.05.2018 gerichtet. Der seinem Wortlaut nach auf die Feststellung eines GdB von mindestens 50 gerichtete Antrag umfasst bei einer nach § 106 Abs. 1, § 123 SGG gebotenen, sachdienlichen Auslegung die hilfsweise Geltendmachung eines GdB von 40, höchsthilfsweise von 30, da bislang lediglich ein GdB von 20 anerkannt ist.

Ermittlungsbedarf besteht, da für die Kammer noch nicht mit dem erforderlichen Beweismaß – dem Vollbeweis – feststellbar ist, ob das Ausmaß der durch die Klägerin zu ertragenden Teilhabebeeinträchtigungen 20 übersteigt, ohne das die vorhandenen Beweismittel ausgeschöpft wären.

Rechtsgrundlage für die Feststellung eines GdB ist § 152 Abs. 1 S 1 SGB IX. Nach dieser Vorschrift stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den Gesamt-GdB fest. Als Gesamt-GdB werden dabei nach § 152 Abs. 1 S 5 SGB IX die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt, wenn nicht ein niedrigerer Gesamt-GdB als 20 gegeben ist, § 152 Abs. 1 S. 6 SGB IX.

Durch den bis zum 14.01.2015 in der Vorgängervorschrift des § 69 Abs. 1 S 5 SGB IX enthaltenen Verweis auf die im Rahmen des § 30 BVG festgelegten Maßstäbe wurde auf das versorgungsrechtliche Bewertungssystem abgestellt, dessen Ausgangspunkt die "Mindestvomhundertsätze" für eine größere Zahl erheblicher äußerer Körperschäden sind. Von diesen Mindestvomhundertsätzen leiten sich die aus den Erfahrungen der Versorgungsverwaltung und den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft gewonnenen Tabellenwerte der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung) vom 10.12.2008 (VersMedV) ab, wobei die nähere Ausgestaltung in der Anlage zu § 2 der VersMedV, den sogenannten Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG), erfolgt ist. Als Rechtsverordnung binden sie grundsätzlich sowohl Verwaltung als auch Gerichte.

Unter Berücksichtigung der sozialgerichtsverfahrensrechtlichen Vorgaben können in Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts zur sozialmedizinischem Aufklärung von Amts wegen je nach Einzelfall sachverständige ambulante Untersuchungen und Begutachtungen dann zu veranlassen sein, wenn der Kläger mithilfe fachärztlicher Atteste einerseits das Vorliegen einer Behinderung hinreichend substantiiert hat, andererseits die aktenkundigen Berichte der den Antragsteller behandelnden Mediziner für eine abschließende Beurteilung noch nicht zur Bejahung der für den Vollbeweis erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausreichen, etwa wenn tatsächliche Zweifel fortbestehen, weil in den (Untersuchungs-, Behandlungs- bzw. Entlassungs ) Berichten die für die sozialmedizinische Beurteilung maßgeblichen Befunde entweder gar nicht dokumentiert, nicht hinreichend validiert, unschlüssig, nicht nachvollziehbar, veraltet oder anderweitig unzureichend sind und auch nicht durch die Beiziehung von medizinischen Unterlagen oder Auskünften behandelnder Ärzte beschafft werden können (SG Karlsruhe, 29.07.2019, S 12 SB 877/19).

Gemessen an diesen Beurteilungsmaßstäben ist die durch die Klägerin erhobene kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage noch nicht spruchreif. Spruchreif wird sie erst sein, wenn nach Ausschöpfung der Aufklärungsmöglichkeiten entweder festgestellt oder nicht feststellbar sein wird, dass der geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines GdB von mindestens 30 ab 25.05.2018 besteht. Bevor hier über das Ausmaß der Teilhabebeeinträchtigungen der Klägerin abschließend entschieden werden kann, besteht noch erheblicher Ermittlungsbedarf, weil zuvor die sie behandelnden Ärzte (ggfs. schriftlich) als sachverständige Zeugen anzuhören und anschließend (d. h. unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der behandelnden Ärzte) eine sachverständige ambulante Untersuchung auf psychiatrischem Fachgebiet zu veranlassen ist durch einen ärztlichen Gutachter, für den die Klägerin nicht Patientin, sondern sozialmedizinische Probandin ist. Auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG wäre überdies noch die Anhörung eines von ihm benannten Arztes und/oder auf Inanspruchnahme des Fragerechts nach § 116 SGG die Einholung ergänzender Stellungnahmen der gehörten Ärzte durch das angerufene Sozialgericht zu veranlassen.

Im vorliegenden Einzelfall ist der Vollbeweis bezüglich des geltend gemachten Gesamt-Ausmaßes aller Teilhabe-Einschränkungen allein durch die aktenkundigen medizinischen Unterlagen und Auswertungen noch nicht erbracht. Es bestehend jedoch hinreichend für das Vorliegen eines GdB von mindestens 30 aufgrund der substantiierten Vorbringens der Klägerin im Verwaltungs- und Widerspruchs- und Klageverfahren sowie aufgrund der Vorlage bzw. Beiziehung aussagekräftiger Entlassungs- und Befundberichte. Die tatrichterliche Überzeugungsbildung erforderte hier die Einholung eines Sachverständigengutachtens, weil die beiden aktenkundigen gutachterlichen Stellungnahmen des Ärztlichen Dienstes des Beklagten sowie die ihnen zugrundeliegenden Berichte über die Gesundheitsstörungen der Klägerin keine abschließende sozialmedizinische Bewertung erlauben. Sie beruhen – erstens – nicht auf einer hinreichend aktuellen, vollständigen, fachlich fundierten, von den Zwängen eines Patientenverhältnisses unabhängigen Anamnese, Befunderhebung, Diagnostizierung und unvoreingenommener Würdigung des bisherigen Therapieverlaufs auf denjenigen medizinischen Fachgebieten, auf denen für den Gesamt-GdB erhebliche Funktionsstörungen vorliegen könnten. Die beiden gutachterlichen Stellungnahmen des Ärztlichen Dienstes lassen – zweitens – keine hinreichend nachvollziehbare sozialmedizinische Würdigung erkennen, welche seitens des Gerichts auf ihre Schlüssigkeit hin überprüfbar wäre.

Weiterer Ermittlungsbedarf besteht zuvörderst im Hinblick auf die sozialmedizinische Bildung des Gesamt-GdB.

Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der Gesamt-GdB gemäß § 152 Abs. 3 S. 1 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Folglich werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen (§ 2 Abs. 1 SGB IX) und die sich daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen bestimmt. In einem zweiten Schritt sind diese mit einem Einzel-GdB zu bewerten und den jeweils unter Teil A Ziff. 2 Buchstabe e) der VMG genannten Funktionssystemen zuzuordnen. Innerhalb der Funktionssysteme sind die jeweiligen Einzel-GdB sodann zu einem Teil-GdB zusammen zu fassen. In einem dritten Schritt ist gemäß Teil A Ziff. 3 der VMG dann – in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Teil-GdB – in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinanderstehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle feste Grade angegeben sind.

Gemessen hieran kann die Kammer noch keine abschließende Bewertung des Gesamt-GdB vornehmen. Sie verfügt selbst nicht über hinreichend eigene sozialmedizinische Expertise, um die wechselseitigen Auswirkungen der durch den Beklagten wegen der einzelnen Funktionssysteme als Behinderungen anerkannten Teilhabebeeinträchtigungen der Klägerin zu bewerten. Die Kammer kann sich insofern auch nicht auf eine nachvollziehbare und schlüssige sozialmedizinische Auswertung eines hierzu qualifizierten Arztes stützen.

Zwar ist die Bewertung des GdB nicht die vordringliche Aufgabe des medizinischen Sachverständigen. Wenn es indessen darum geht, alle Behinderungsmomente in einer Gesamtschau unter Beachtung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander einzuschätzen sind ärztliche Meinungsäußerungen jedoch unerlässlich. Ihnen kommt zwar bei der GdB-Schätzung keine bindende Wirkung zu; sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage (Fortführung von BSG, 27.01.1987, 9a RVs 53/85), so auch hier.

Im Fall der Klägerin kann sich die Kammer insbesondere nicht auf die im Verwaltungs- bzw. Widerspruchsverfahren eingeholten gutachterlichen Stellungnahmen stützen. Sie enthalten zwar die Nennung eines "Gesamt-GdB" sowie eine Auflistung verschiedener (Einzel- oder Teil-?) "GdB". Es fehlen jedoch jeweils erschöpfende Ausführungen über die Bildung des Gesamt-GdB unter Anwendung der oben zitierten Vorgaben. Die gutachterlichen Stellungnahmen sagen letztlich viel zu wenig darüber aus, wie sich alle festgestellten Behinderungen im Zusammenwirken zueinander funktional auswirken. Hierzu hätte es in Anbetracht der Art und des Ausmaßes der Gesundheitsstörungen bzw. Teilhabebeeinträchtigungen überzeugender sozialmedizinischer Ausführungen bedurft. Insbesondere ist für die Kammer nicht ersichtlich, ob der führende Gesamt-GdB von 20 für die Teilhabeeinschränkungen, welche durch die Gesundheitsstörungen an den unteren Gliedmaßen in Gestalt der Funktionseinbußen am rechten Kniegelenk entstehen, einmalig um 10 zu erhöhen sind wegen der Teilhabeeinschränkungen, welche durch die Gesundheitsstörungen im Bereich des Rumpfes in Form des operierten Bandscheibenschadens an der Lendenwirbelsäule bedingt sind, weil sich beide seitens des Beklagten als solche anerkannten Behinderungen wesentlich verstärken könnten, da sie beiden den Haltungs- und Bewegungsapparat bzw. das Gehvermögen betreffen.

Überdies steht im vorliegenden Einzelfall einer abschließenden Bewertung des Gesamt-GdB auch entgegen, dass die Kammer schon die vom Ärztlichen Dienst des Beklagten denknotwendig vor dem Gesamt-GdB gebildeten und später zusammengefassten "GdB" teilweise nicht nachvollziehen kann. Für die Kammer ist in den gutachterlichen Stellungnahmen hinsichtlich sämtlicher Einzel-Funktionsstörungen bereits nicht erkennbar, anhand welcher konkreten Beurteilungsmaßstäbe die einzelnen, durch den Ärztlichen Dienst als nachgewiesen angesehenen Funktionsstörungen bewertet wurden. Es fehlt insofern zunächst jeweils eine Bezugnahme auf VersMedV bzw. VMG. In Unkenntnis der konkret heranzuziehenden Beurteilungsmaßstäbe vermag die Kammer erst recht nicht mit einer hinreichend hohen Wahrscheinlichkeit festzustellen, dass dahingehend keine vernünftigen Zweifel mehr geboten wären, inwieweit diesbezügliche Beurteilungsspielräume bestehen bzw. auszuschöpfen sind.

Die Klage wäre außerdem selbst dann nicht spruchreif, wenn sich die Kammer die sozialmedizinische Kompetenz anmaßte, allein mithilfe der rudimentären Tabellen und Bemerkungen des Ärztlichen Dienstes des Beklagten sowie unter Heranziehung des für den medizinischen Laien nicht selbstverständlichen Wortlauts der VMG selbst (Einzel-, Teil- bzw. Gesamt-) GdB zu bestimmen, weil in tatsächlicher Hinsicht zu starke Zweifel über Art und Ausmaß der Behinderungen der Klägerin verblieben.

Zur Überzeugung der Kammer reichen in diesem Einzelfall die durch die Klägerin vorgelegten und die durch den Beklagten beigezogenen medizinischen Unterlagen für eine abschließende Beurteilung noch nicht zur Bejahung der für den Vollbeweis erforderlichen Wahrscheinlichkeit aus, da Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die für die sozialmedizinische Beurteilung maßgeblichen Befunde darin nach unzureichender Validierung und zudem unvollständig dokumentiert worden sind und überdies nicht (mehr) den hier maßgeblichen Zeitraum abdecken. Ebenso wenig wird unter Berücksichtigung der vorliegenden Umstände allein durch die Beiziehung medizinischer Unterlagen bzw. Auskünfte seitens der behandelnden Ärzte eine hinreichende Beweismittellage erreicht werden können.

Bei lebensnaher Betrachtung sind im Zuge der Auswertung der Angaben behandelnder Ärzte Zweifel geboten, ob und ggfs. inwiefern die Belastbarkeit ihrer Befundberichte, Diagnosen und sozialmedizinischen Einschätzungen unter legitimen Eigeninteressen sowie Ansprüchen ihrer Patienten leidet. Eine über vernünftige Zweifel regelmäßig erhabene Richtigkeit jeglicher Angaben seitens behandelnder Ärzte kann nicht für jeden Einzelfall unterstellt werden. Vielmehr ist bei deren Auswertung dem Umstand Rechnung zu tragen, dass medizinische Behandler bei der Dokumentation ihrer Untersuchungen und Therapien sowie bei der Auskunft-Erteilung gegenüber Behörden und Gerichten einen wahren Drahtseilakt meistern müssen (SG Karlsruhe, 29.07.2019, S 12 SB 877/19). Dem nach alldem noch einzuholenden Sachverständigengutachten selbst muss zur Ausschöpfung der Erkenntnismöglichkeiten bzw. Abrundung der Aktenlage hier eine Beiziehung medizinischer Auskünfte seitens der von der Klägerin zur Untersuchung und Behandlung seiner Gesundheitsstörungen in Anspruch genommenen Mediziner vorausgehen (vgl. SG Karlsruhe, 29.07.2019, S 12 SB 877/19).

Unter Berücksichtigung des Vorbringens der Klägerin im Verwaltungs-, Widerspruchs- und Klageverfahren sowie des Inhalts des von Amts wegen beigezogenen medizinischen Unterlagen ist in diesem Einzelfall die ernsthafte Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, dass der Gesamt-GdB höher zu bewerten sein könnte, als der Beklagte außergerichtlich festgestellt hat. Bereits eine Gegenüberstellung der im Fall der Klägerin vom Beklagten als nachgewiesen angesehenen Funktionsstörungen mit den diesbezüglich aktenkundigen medizinischen Unterlagen zeigt, dass eine der Amtsermittlungspflicht und dem (Voll-) Beweismaß genügende Sachaufklärung erfordert, zur sozialmedizinischen Bewertung der Einzel- bzw. Teil-GdB auf psychiatrischen – und je nach dem Ergebnis gegebenenfalls zusätzlich auf fachorthopädischem und/oder schmerztherapeutischen – Fachgebiet sozialmedizinisch motivierte Untersuchungen und Begutachtungen durchführen zu lassen, weil andernfalls die für die sozialmedizinische Beurteilung maßgeblichen Befunde ohne Ausschöpfung der vorhandenen Erkenntnismittel für die tatrichterliche Überzeugungsbildung unzureichend blieben.

Aufgrund der aktenkundigen Unterlagen lässt sich das Ausmaß der Teilhabebeeinträchtigungen durch eine depressive Verstimmung und ein chronisches Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Anteilen im Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche nicht abschließend beurteilen. Nach Teil B Ziff. 3.7 VMG sind leichtere psychovegetative oder psychische Störungen mit einem Einzel-GdB von 0 bis 20 zu versehen. Stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswerten, somatoforme Störungen) sind mit einem Einzel-GdB von 30 bis 40 zu bewerten. Für schwere Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten ist ein Einzel-GdB von 50 bis 70 vorgesehen. Bei schweren Störungen mit schweren sozialen Anpassungsstörungen beträgt der Einzel-GdB 80 bis 100.

Im vorliegenden Einzelfall lässt sich ohne eine zu sozialmedizinischen Zwecken nervenärztlich durchgeführte anamnestische Erhebung des Tagesablaufs, der sozialen Einbindung, und des psychischen Befundes anhand einer mehrstündigen Untersuchung unter ggfs. ergänzender testpsychologischer und/oder laborchemischer Objektivierung der hierbei gewonnenen Erkenntnisse und deren Abgleich mit den bereits aktenkundigen Anknüpfungstatsachen nicht mit einer über vernünftige Zweifel erhabenen Wahrscheinlichkeit feststellen, ob die Störungen der Klägerin im Vergleich zum alterstypischen Gesundheitszustand nur "leichterer" Natur sind, ob sie die Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit bereits "stärker behindern", sogar "mittelgradige" Anpassungsschwierigkeiten bedingen oder "schwere" soziale Anpassungsstörungen bereiten. Die Kammer vermag derartige Erhebungen und Bewertungen mangels eigener nervenärztlicher Sachkunde und der hierfür erforderlichen sächlichen Ausstattung nicht selbst zu bewerkstelligen und ist daher auf die Einholung externen Sachverstands angewiesen.

Für Zurückverweisungen nach § 131 Abs. 5 SGG bedarf es – anders als bei der Kostenauferlegung nach § 192 Abs. 4 SGG – nicht der gerichtlichen Feststellung, dass die Behörde außergerichtlich erkennbare und notwendige Ermittlungen unterlassen hat, weil Zurückverweisungen anlässlich von Verpflichtungsklagen beispielsweise auch in Fällen sachdienlich sein können, in denen erstmals im Klageverfahren überhaupt Anlass zur Einholung eines Sachverständigengutachtens besteht, etwa nachdem das Vorbringen eines Rechtssuchenden erst vor Gericht an Substanz gewonnen hat, oder, weil eine wesentliche Änderung der Sachlage in Form einer erheblichen Besserung oder Verschlimmerung des entscheidungserheblichen Gesundheitszustands hinreichend dargelegt oder von Amts wegen ersichtlich ist (SG Karlsruhe, Gerichtsbescheid vom 11. Dezember 2019 – S 12 SB 1642/19 –, juris).

Gemessen hieran kann es bereits aus Rechtsgründen dahinstehen, dass der Beklagte meint, ein erheblicher Ermittlungsbedarf lasse sich im vorliegenden Einzelfall aus der Verwaltungsakte nicht ableiten. Überdies beruht diese Fehleinschätzung auf einer selektiven Zusammenfassung des Akteninhalts. Richtigerweise bestand bereits außergerichtlich Ermittlungsbedarf auf psychiatrischem Fachgebiet. Zwar enthielt der Änderungsantrag keinen ausdrücklichen Hinweis auf eine psychische Gesundheitsstörung oder eine entsprechende fachärztliche Behandlung. Jedoch verwies die Klägerin bereits bei der Antragstellung auf die stattgehabte fachorthopädischen Reha vom 06.02.2018 bis zum 26.02.2018, von der sie ausdrücklich mit einer Verdachtsdiagnose auf psychiatrischem Fachgebiet entlassen worden ist.

Eine bloße Verdachtsdiagnose kann im Einzelfall der Versorgungsverwaltung Anlass geben, den Beweis des Ausmaßes einer Behinderung mithilfe einer ambulanten Begutachtung zu erheben, wenn sich die Sachverhaltsaufklärung nicht auf die Beiziehung unzulänglicher Berichte Dritter beschränken kann, da es unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls begründete Zweifel an der Annahme gibt, dass die bisher geringe Untersuchungs- und Behandlungs-intensität mit einem niedrigen Leidensdruck korreliert, etwa, weil ein kranker Mensch aus individuellen (z. B. fehlende Krankheitseinsicht, fehlender Antrieb, noch schwerer wiegenden Parallelbelastungen, religiös bzw. kulturell geprägten Überzeugungen etc.) oder strukturellen Gründen (z. B. finanzielle, zeitliche oder wegespezifische Zugangshindernisse, etc.) ausnahmsweise oder vorübergehend daran gehindert oder weniger willens sein könnte, fachlich qualifizierte Hilfe in angemessenem Umfang in Anspruch zu nehmen, so auch hier.

Wenn die Ärzte einer (fachorthopädischen) Reha-Abteilung es im Rahmen ihres ausführlichen Entlassungsberichts bei einer für sie fachfremden (psychiatrischen) Diagnosestellung wohlweislich bei einer bloßen Verdachtsdiagnose belassen, obwohl die besonders aussagekräftigen, detaillierten, unzweifelhaft pathologischen fachfremden Befunde und anamnestische Angaben bereits den Vollbeweis einer (psychischen) Beeinträchtigung rechtfertigen, beruht die fehlende Bezeichnung der Diagnose als "gesichert" nicht auf Zweifeln am Vorliegen einer Erkrankung, sondern auf der bedachtsamen Einsicht, die Art der Erkrankung mangels (psychiatrischem) Sachverstand nicht mit der gebotenen Sicherheit zutreffend bezeichnen zu können.

Der vom Beklagten nicht näher zitierten, vermeintlich ständigen Rechtsprechung des LSG Baden-Württemberg, wonach eine für den Gesamt-GdB relevante Gesundheitsstörung im Funktionssystem Kopf einschließlich Psyche auf Grundlage des Teil B Ziff. 3. 7 der VG ohne fachärztliche Behandlung und Durchführung einer engmaschigen Psychotherapie niemals in Betracht komme, wäre in dieser Pauschalität nicht zu folgen, weil es schlechterdings keinen allgemeinen Erfahrungssatz gibt, wonach das Nichtausschöpfen therapeutischer Möglichkeiten Ausdruck eines geringen Leidensdrucks ist, und eine so oberflächliche Beweiswürdigung einen großen Teil der Menschen mit schweren Behinderungen ohne hinreichenden sachlichen Grund diskriminieren würde. Eine dermaßen fehlerträchtige Verkürzung des gesetzlichen Prüfungsauftrags wäre insbesondere auch durch den massiven Erledigungsdruck in Versorgungsverwaltung und Sozialgerichtsbarkeit nicht verfassungslegitim zu rechtfertigen, da diese Stellen bei der Feststellung des Grades der Behinderung und den diesbezüglichen Ermittlungen jeweils an Bundesgesetze gebunden sind, welche allein durch die haushaltspolitischen Irrwege eines in Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts das Rechtsstaats- und Gleichheitsgebot ungenügend achtenden Landeshaushaltsgesetzgebers nicht außer Kraft gesetzt werden (vgl. SG Karlsruhe, 29.07.2019, S 12 SB 877/19; SG Karlsruhe, 11.12.2019, S 12 SB 1642/19).

Mitnichten ist nach dem Verlassen des therapeutischen Milieus immer von einer allenfalls unerheblichen oder vorübergehenden Teilhabeeinschränkung auszugehen, nur, weil es bei der Entlassung aus einer stationären medizinischen Rehabilitationsbehandlung heißt, dass sehr gut von dem (hier: während der orthopädischen Reha aus gut dokumentiertem Anlass fachfremd erfolgen psychologischen) Behandlungsangebot profitiert und neue Perspektiven sowie Bewältigungsstrategien für die weitere Lebensführung entwickelt werden konnten, falls hierzu weitere Behandlungen nachdrücklich empfohlen werden. Diese Schlussfolgerung trägt jedenfalls dann unter Umständen nicht, wenn im selben Bericht erhebliche Teilhabebeeinträchtigungen detailliert und anschaulich geschildert werden. Dies gilt erst recht, wenn der Mensch mit Behinderung anschließend ausdrücklich auf eine Verschlimmerung desselben Krankheitsbildes hinweist und mitteilt, er habe trotz des nachgewiesenen Therapiebedarfs noch keinen geeigneten Therapeuten finden können.

Gerade im vorliegenden Einzelfall drängt sich in Anbetracht der Angaben im genannten Entlassungsbericht aus der Reha die Möglichkeit auf, dass die unterbliebene fachpsychiatrische Behandlung und die fehlende Durchführung einer engmaschigen Psychotherapie auch Folge einer krankheitsbedingt allenfalls sporadischen Krankheitseinsicht oder eines pathologisch reduzierten Antriebs sein könnten. Die – noch vor der ersten sozialmedizinischen Auswertung der Aktenlage durch den Ärztlichen Dienst beigezogenen – Erkenntnisse aus dem entsprechenden Entlassungsbericht der Klinik erschöpfen sich gerade nicht auf die Mitteilung des Verdachts einer depressiven Störung. Vielmehr wird eine psychotherapeutische Weiterbehandlung in außergewöhnlich nachdrücklicher Form – auf dem neunseitigen Bericht ist hiervon fünfmal die Rede – empfohlen. Im Fließtext ist die Rede von depressiven Beschwerden, von herabgesetzter Stimmung, von schneller Müdigkeit, vom ausgelaugt und kraftlos fühlen, vom häufigen Fehlen der Motivation, von vielem Grübeln, von Durchschlafstörungen und von Weinen aus heiterem Himmel. Es heißt, die Klägerin erkenne sich überhaupt nicht wieder, was sie wiederum betroffen mache und runterziehe. Auch ihren Töchtern sei schon aufgefallen, dass es ihr nicht gut gehe. Die älteste Tochter habe auch schon vorgeschlagen, eine Psychotherapie zu machen. Die Klägerin leide unter Zukunftsängsten. Aufgrund der depressiven Problematik habe die Klägerin keine Kraft, mit dem Rauchen aufzuhören.

Nach alldem war hier bereits im Ausgangsverfahren und erst recht im Widerspruchsverfahren das Vorliegen eines Teil-GdB von mindestens 20 für psychische Funktionsstörungen hinreichend substantiiert von der Klägerin dargelegt worden. All dies kann aber hier – wie gesagt – dahinstehen, da sich die Situation spätestens im Klageverfahren anders darstellt, wie der Beklagte selbst einräumt, weil sich die Klägerin inzwischen in psychologischer Behandlung befindet und sowohl die Beteiligten als auch das Gericht infolgedessen weitere Amtsermittlungen für erforderlich halten.

Ein Teil-GdB von 20 für das Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche könnte sich auch möglicherweise auf den bislang (ohne Rücksicht hierauf nur relativ niedrig festgestellten) Gesamt-GdB von ebenfalls 20 erhöhend auswirken. Bei diesem Sachverhalt stellt die Veranlassung einer ambulanten Untersuchung und Begutachtung keine Ermittlung "ins Blaue hinein" dar. Es waren und sind hinreichend Anhaltspunkte dafür gegeben, dass aufgrund einer Erkrankung aus dem depressiven Formenkreis ein Einzel-GdB von mindestens 20 vorliegt, welcher im Rahmen der integrativen Betrachtung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Erhöhung des führenden Teil-GdB von ebenfalls 20 für die unteren Gliedmaßen um 10 Punkte auf insgesamt 30 hätte führen könnte.

Im Einzelfall kann absehbar sein, dass allein die Einholung von Auskünften der Behandler unzureichend wäre, um umfassende, aktuelle und hinreichend objektivierte medizinische Befunde, anamnestische Angaben, fachärztliche Diagnosen und Therapieverläufe als sozialmedizinisch maßgebliche Anknüpfungstatsachen zu erheben bzw. eine schlüssige und nachvollziehbare Bewertung der strittigen Gesamt-Teilhabebeeinträchtigung zu ermöglichen, denn unter Umständen unterscheiden sich die Untersuchungsziele, -methoden und -ergebnisse in Abhängigkeit davon, ob eine Person entweder zu diagnostischen und therapeutischen Zwecken oder zum Zwecke der sozialmedizinischen Beurteilung ärztlich untersucht wird (vgl. SG Karlsruhe, 29.07.2019, S 12 SB 877/19) , so auch hier in Bezug auf die psychischen Leiden der Klägerin.

Bereits die Einholung eines einzigen Sachverständigengutachtens ist nach Art und Umfang "erheblich" im Sinne des § 131 Abs. 5 SGG (SG Karlsruhe, 10.10.2019, S 12 SB 981/19; Landessozialgericht Baden-Württemberg, 20.10.2015, L 11 R 2841/15).

Die Kammer hält es auch für sachdienlich, die Sache an den Beklagte zurückzuweisen. Die Entscheidung zur Zurückweisung nach § 131 Abs. 5 SGG steht im Ermessen des Gerichts. Es muss deshalb prüfen, ob es sich im Einzelfall zu einer Zurückweisung an die Behörde entschließt oder stattdessen die unterlassene Sachverhaltsaufklärung selbst nachholt und die Sache spruchreif macht. Nach Meinung der 12. Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe ist das diesbezügliche Entschließungsermessen des Gerichts wegen des fortbestehenden systematischen weiterhin auf Null reduziert. Jedenfalls im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Sozialgerichts Karlsruhe sind in allen Streitigkeiten des Schwerbehindertenrechts, in denen im Einzelfall nach Art und Umfang noch als erheblich anzusehende sozialmedizinische Ermittlungen über Art und Ausmaß behinderungsbedingter Teilhabeeinschränkungen nötig sind, bevor in der Sache entschieden werden kann, bis zur Beseitigung des langjährigen, diskriminierenden und rechtsstaatswidrigen Ermittlungsdefizits der Landesversorgungsverwaltung die Eignung, die Erforderlichkeit und die Sachdienlichkeit der Zurückverweisung an den Beklagten im Sinne des § 131 Abs. 5 SGG zu bejahen, weil die Zurückverweisung dem öffentlichen Interesse an einer verfassungsmäßigen Verwaltung, dem Interesse beider Beteiligten an der Beschleunigung des Verfahrens und dem pekuniären Interesse des Beklagten an einem möglichst niedrigen Kostenaufwand dienen (SG Karlsruhe, 29.07.2019, S 12 SB 877/19). Irgendwelche Gründe, aus denen eine Zurückweisung im vorliegenden Einzelfall nicht sachdienlich bzw. nicht ermessensgerecht sein sollte, sind weder zur Überzeugung der Kammer vorgetragen noch von Amts wegen ersichtlich. Bezüglich der von Seiten des Beklagten auch in diesem Verfahren mittels Textbaustein pauschal vorgebrachten Zweifeln an der Sachdienlichkeit von Zurückweisungen wird exemplarisch auf die erschöpfenden Ausführungen der Kammer im Gerichtsbescheid zum Vorverfahren 12 SB 1588/19 vom 10.10.2019 (veröffentlicht in "juris") Bezug genommen.

2. Der vom Beklagten wiederholt per Textbaustein begründete Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung wird gemäß § 105 Abs. 3 Satz 1 und 2 SGG als unzulässig verworfen, weil ein Antrag gegen eine Anhörung zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid nicht statthaft ist (und überdies selbst gegen diesen Gerichtsbescheid nicht statthaft ist, weil gegen ihn die Berufung gegeben ist, da eine solche nach § 143 SGG auch zulässig gewesen wäre, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte, denn eine Berufung hätte der keiner Zulassung bedurft, vgl. § 144 Abs. 1 SGG).

3. Der vom Beklagten ebenfalls wiederholt per Textbaustein begründete Antrag auf Anordnung des Ruhens des Verfahrens wird als unzulässig verworfen, weil er zur vollen tatrichterlichen Überzeugung der Kammer in rechtsmissbräuchlicher Weise zum Zwecke der Verschleppung des Verfahrens über die Sechs-Monats-Frist für Zurückverweisungen aus § 131 Abs. 5 SGG gestellt worden ist. Zur Begründung wird ebenfalls auf die Ausführungen im Gerichtsbescheid zum Vorverfahren 12 SB 1588/19 vom 10.10.2019 (veröffentlicht in "juris") verwiesen.

4. Das Gericht entscheidet über all dies nach vorangegangener Anhörung der Beteiligten gemäß §§ 105, 3 Abs. 1 Satz 2 Fall 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne Beteiligung ehrenamtlicher Richter und ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Bezüglich der insofern wiederholt mittels Textbaustein vorgebrachten Einwendungen gegen das Vorliegen der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen dieser Entscheidungsform in Fällen der vorliegenden Art sowie wegen der Ausübung des gerichtlichen Entschließungs-ermessens wird ebenfalls exemplarisch auf die in jeder Hinsicht übertragbaren und bereits erschöpfenden Ausführungen der Kammer im Gerichtsbescheid zum Vorverfahren 12 SB 1588/19 vom 10.10.2019 (veröffentlicht in "juris") Bezug genommen.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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