L 1 KR 455/19 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 36 KR 1667/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 455/19 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 13. November 2019 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten für das Beschwerdeverfahren sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin (SG) vom 13. November 2019 ist nicht begründet. Das SG hat den am 26. Juli 2019 gestellten Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragsteller vorläufig bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens mit Cannabisblüten der Sorten Bedrocan oder Bakerstreet im ärztlich verordneten Umfang zu versorgen, zu Recht abgelehnt. Die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung lagen nicht vor.

Nach § 86b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung zulässig, wenn andernfalls die Gefahr besteht, dass ein Recht des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Voraussetzung sind das Bestehen eines Anordnungsanspruches und das Vorliegen eines Anordnungsgrundes. Der Anordnungsanspruch bezieht sich dabei auf den geltend gemachten materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtschutz begehrt wird. Die erforderliche Dringlichkeit betrifft den Anordnungsgrund. Die Tatsachen, die den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch begründen sollen, sind darzulegen und glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung). Entscheidungen dürfen dabei grundsätzlich auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Drohen dem Versicherten aber ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre, verlangt Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz (GG) von den Sozialgerichten grundsätzlich eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage, die sich von der im Hauptsacheverfahren nicht unterscheidet (vgl. BVerfGE 79, 69 (74); 94, 166 (216); NJW 2003, 1236f.). Sind die Sozialgerichte durch eine Vielzahl von anhängigen entscheidungsreifen Rechtsstreitigkeiten belastet oder besteht die Gefahr, dass die dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu Grunde liegende Beeinträchtigung des Lebens, der Gesundheit oder der körperlichen Unversehrtheit des Versicherten sich jederzeit verwirklichen kann, verbieten sich zeitraubende Ermittlungen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren. In diesem Fall, der in der Regel vorliegen wird, hat sich die Entscheidung an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen zu orientieren (BVerfG NJW 2003, 1236f.). Dabei ist in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine Folgenabwägung vorzunehmen, bei der die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat. Abzuwägen sind stattdessen die Folgen, die eintreten würden, wenn die Anordnung nicht erginge, obwohl dem Versicherten die streitbefangene Leistung zusteht, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, obwohl er hierauf keinen Anspruch hat. Hierbei ist insbesondere die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch den Verfassungsgeber getroffene objektive Wertentscheidung zu berücksichtigen. Danach haben alle staatlichen Organe die Pflicht, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Lebens, der Gesundheit und der körperlichen Unversehrtheit zu stellen (vgl. BVerfGE 56, 54 (73)). Für das vorläufige Rechtsschutzverfahren vor den Sozialgerichten bedeutet dies, das diese die Grundrechte der Versicherten auf Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit zur Geltung zu bringen haben, ohne dabei die ebenfalls der Sicherung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG dienende Pflicht der gesetzlichen Krankenkassen (vgl. insbesondere aus §§ 1, 2 Abs. 1 und 4 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch [SGB V]), ihren Versicherten nur wirksame und hinsichtlich der Nebenwirkungen unbedenkliche Leistungen zur Verfügung zu stellen, sowie die verfassungsrechtlich besonders geschützte finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. BVerfGE 68, 193 ( 218)) aus den Augen zu verlieren. Besteht die Gefahr, dass der Versicherte ohne die Gewährung der umstrittenen Leistung vor Beendigung des Hauptsacheverfahrens stirbt oder er schwere oder irreversible gesundheitliche Beeinträchtigungen erleidet, ist ihm die begehrte Leistung regelmäßig zu gewähren, wenn das Gericht nicht auf Grund eindeutiger Erkenntnisse davon überzeugt ist, dass die begehrte Leistung unwirksam oder medizinisch nicht indiziert ist oder ihr Einsatz mit dem Risiko behaftetet ist, die abzuwendende Gefahr durch die Nebenwirkungen der Behandlung auf andere Weise zu verwirklichen. Besteht die Beeinträchtigung des Versicherten dagegen im Wesentlichen nur darin, dass er die begehrte Leistung zu einem späteren Zeitpunkt erhält, ohne dass sie dadurch für ihn grundsätzlich an Wert verliert, weil die Beeinträchtigung der in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG genannten Rechtsgüter durch eine spätere Leistungsgewährung beseitigt werden kann, dürfen die Sozialgerichte die begehrte Leistung im Rahmen der Folgenabwägung versagen. Nur durch eine an diesen Grundsätzen orientierte Vorgehensweise bei der Folgenabwägung wird dem vom Gesetzgeber in allen Prozessordnungen vorgesehenen Vorrang des nachgehenden Rechtschutzes vor dem vorläufigen Rechtsschutz, sowie dem sich aus Art. 20 Abs. 3 GG abzuleitenden Grundsatz Rechnung getragen, dass die Leistungsgewährung vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Ausnahme und nicht die Regel sein soll (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. z. B. Beschluss des Senats vom 29. März 2018 – L 1 KR 26/18 B ER –, juris-Rdnr. 2 mit weiteren Nachweisen).

Für eine solche Abwägungsentscheidung ist vorliegend indessen kein Raum, weil es schon an den formellen Voraussetzungen für den vom Antragsteller geltend gemachten Anspruch fehlt. Gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol ((–)-&916;9-trans-Tetrahydrocannabinol - = THC) oder Nabilon (ein synthetisches Cannabinoid), wenn 1.) a) eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann, 2.) eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist (Satz 2). Die Vertragsärztin oder der Vertragsarzt, die oder der die Leistung nach Satz 1 verordnet, übermittelt die für die Begleiterhebung erforderlichen Daten dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in anonymisierter Form; über diese Übermittlung ist die oder der Versicherte vor Verordnung der Leistung von der Vertragsärztin oder dem Vertragsarzt zu informieren (Satz 5). Im Rahmen des Anspruchs aus § 31 Abs. 6 SGB V wollte der Gesetzgeber in materiell-rechtlicher Hinsicht die Therapiehoheit des Vertragsarztes bei der Entscheidung über die medizinische Verwendung von Cannabis stärken, wie sich aus der Formulierung des § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V ergibt (vgl. BT-Drucks 18/10902 S. 20). Die Therapiehoheit des Arztes endet auch nicht wegen einer möglicherweise vorhandenen Suchtproblematik. Selbst insoweit bliebe es eine medizinische Entscheidung des behandelnden Arztes, ob er die Gabe von Cannabis verantworten kann, weil der Nutzen mögliche Nachteile überwiegt.

Allerdings setzt der Anspruch eines Versicherten auf Versorgung mit Cannabis voraus, dass eine entsprechende ärztliche Therapieentscheidung tatsächlich getroffen wurde und auch dokumentiert ist. Die Verordnung von Arzneimitteln, zu denen nach § 31 Abs. 6 auch Cannabis in der Form von getrockneten Blüten oder standardisierten Extrakten zählt, ist nach § 73 Abs. 2 Nr. 7 SGB V Gegenstand der vertragsärztlichen Versorgung. Zusätzlich verlangt § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b), dass der behandelnde Vertragsarzt eine begründete Einschätzung abgibt, warum eine andere anerkannte dem medizinischen Standard entsprechende und zur Verfügung stehende Therapie nicht zur Anwendung kommen kann. Sie setzt nämlich voraus, dass unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung der Entwicklung des Krankheitszustandes dargestellt wird, weshalb zur Behandlung einer schwerwiegenden Krankheit anerkannte Behandlungsmethoden nicht zur Anwendung kommen können und die Verordnung von Medizinal-Cannabis demnach sinnvoll ist. Nicht ausreichend ist hingegen, dass sich der Arzt die positiven Erfahrungen des Patienten mit Cannabis zu Eigen macht und/oder ganz allgemein Krankheiten behandelt werden sollen, für welche eine positive Wirkung von Cannabis-Medikamenten beschrieben worden ist, hier also in Bezug auf Schmerzlinderung, Tremor, Depression und Schlafstörungen.

Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, dass einer seiner behandelnden Ärzte eine Therapieentscheidung für Cannabis in diesem Sinne in begründeter Auseinandersetzung mit anderen Therapieoptionen getroffen hat. Dies hat bereits das Sozialgericht im angefochtenen Beschluss ausführlich dargestellt. Zur Vermeidung bloßer Wiederholungen wird hierauf verwiesen, § 142 Abs. 2 S. 3 SGG. In seiner Stellungnahme vom 26. März 2019 führt der den Antragsteller erst seit rund einem Jahr behandelnde Allgemeinmediziners A aus, er befürworte eine Cannabistherapie. Er hat aber die Angaben zur bisherigen Behandlung des chronischen Schmerzsyndroms mit Analgetika (NSAR; Opioide) nur übernommen. Die Auffassung des Antragstellers selbst, keinerlei Schmerzmedikamente mehr vertragen zu können, weil er auch an chronischer Gastritis leide, hat sich der Behandler nicht zu Eigen gemacht. Dass der Vorbehandler Bnoch Therapiemöglichkeiten gesehen hat und ferner unklar ist, weshalb die weiteren mit Schmerzen verbunden Leiden (Femurnekrose links, Morbus Bechterew) nicht adäquat behandelt werden, hat bereits das SG dargestellt. Eine Schmerzbehandlung nach dem WHO-Stufenschema ist noch nicht erfolglos durchlaufen worden. Nach den eigenen Angaben des Antragstellers soll jetzt (erstmals) ein Schmerztherapeut aufgesucht werden.

Aus dem im Nachgang durch den Facharzt für Allgemeinmedizin A eingereichten Befundbericht vom 11. November 2019 ergibt sich nichts anderes. Dieser erschöpft sich hinsichtlich der Behandlungsalternativen in der Aussage, die bisherige Behandlung durch herkömmliche/konservative Medikamente (Analeptika/Antidepressiva) seien "frustran". Zu den Behandlungsmöglichkeiten mit cannabishalten Arzneimitteln wird nur auf die "Erfahrungen des Patienten" verwiesen, der subjektive, "nicht objektive", Besserung geschildert habe.

Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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