S 51 R 657/15

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Gelsenkirchen (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
51
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 51 R 657/15
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob Zeiten der schulischen Ausbildung während des Strafvollzugs als Anrechnungszeiten zu berücksichtigen sind.

Der am 14.04.1973 geborene Kläger verbüßte auf Grund eines Urteils des Landgerichts F – 2. Große Strafkammer - vom 23.02.2010 eine mehrjährige Freiheitsstrafe. Am 04.08.2011 wurde der Kläger in der Justizvollzugsanstalt T untergebracht. In der Zeit vom 07.11.2012 bis zum 05.07.2013 hielt er sich in der Justizvollzugsanstalt G und im Anschluss wieder in der Justizvollzugsanstalt T auf.

Während seiner Inhaftierung besuchte der Kläger in der Zeit vom 07.11.2012 bis zum 05.07.2013 die Berufsoberschule Wirtschaft im Bildungszentrum der Justizvollzugsanstalt G. Die wöchentliche Lern- und Unterrichtszeit betrug 41 Stunden. Er beendete den Kurs mit der Fachhochschulreife.

Auf Antrag des Klägers gewährte die Beklagte diesem mit Bescheid vom 12.11.2013 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01.06.2011.

Eine Anfrage der Beklagten an die Justizvollzugsanstalt G vom 09.01.2014, in der um Stellungnahme gebeten wurde, ob für den Kläger in der Zeit der schulischen Ausbildung die Voraussetzungen für die Lockerung des Vollzuges gegeben waren, leitete diese an die Justizvollzugsanstalt T weiter. Mit Schreiben vom 21.01.2014 beantwortete die Justizvollzugsanstalt T die Frage dahingehend, dass beim Kläger in der Zeit vom 07.11.2012 bis zum 05.07.2013 die Voraussetzungen für die Lockerung des Vollzuges nicht gegeben waren.

Mit Bescheid vom 29.04.2014 stellte die Beklagte die Rente neu fest. In diesem Rahmen stellte sie insbesondere fest, dass die Zeit vom 07.11.2012 bis zum 05.07.2013 nicht als Anrechnungszeit anerkannt werde, weil die Ausbildung keine Lehrzeit, Schul-, Fach-schul-, Fachhochschul- oder Hochschulausbildung sei.

Den hiergegen gerichteten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05.11.2014 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie aus, Zeiten einer schulischen Ausbildung, die während des Strafvollzuges zurückgelegt wurden, seien nur als Anrechnungszeiten gemäß § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Sozialgesetz-buch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) zu berücksichtigen, wenn für die Versicherten die – theoretische – Möglichkeit bestanden habe, während des Strafvollzuges aufgrund einer Beschäftigung Pflichtbeiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung zu erwerben. Für den Kläger seien die Voraussetzungen für die Lockerung des Vollzuges gem. § 11 Abs. 1 Nr. 1 Strafvollzugsgesetz (StVollzG) nicht gegeben, so-dass die schulische Ausbildung nicht angerechnet werden könne.

Mit der am 24.11.2014 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Zur Begründung führt er aus, da er sich in der Zeit der schulischen Ausbildung in der Justizvollzugsanstalt G aufgehalten habe, sei diese für die Prüfung der Voraussetzungen für die Lockerung des Vollzuges zuständig gewesen.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

den Bescheid vom 29.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2014 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Zeiten vom 07.11.2012 bis zum 05.07.2013 als Anrechnungszeit wegen Schulausbildung anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist insbesondere auf ihre Ausführungen im Widerspruchsverfahren.

Mit Schreiben vom 15.08.2016 hat die Justizvollzugsanstalt G auf eine Anfrage des Klägers bezüglich der Eignung zum offenen Vollzug mitgeteilt, dass eine Entscheidung über die Gewährung von vollzugsöffnenden Maßnahmen in der Justizvollzugsanstalt G nicht veranlasst sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der Kammerberatung geworden.

Die Beteiligten haben im Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 18.10.2017 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Entscheidungsgründe:

Im Einverständnis der Beteiligten kann die Kammer gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 29.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2014 ist – soweit über ihn im hiesigen Rechtsstreit zu entscheiden war – rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Anerkennung der Zeit vom 07.11.2012 bis zum 05.07.2013 als Anrechnungszeit wegen Schulausbildung.

Die von dem Kläger geltend gemachten Zeiten der Schul- bzw. Hochschulausbildung sind keine Anrechnungszeiten im Sinne des § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI.

Gem. § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI sind Anrechnungszeiten Zeiten, in denen Versicherte nach dem vollendeten 17. Lebensjahr eine Schule, Fachschule oder Hochschule besucht oder an einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme teilgenommen haben (Zeiten einer schulischen Ausbildung), insgesamt jedoch höchstens bis zu acht Jahren. Der Begriff der Schulausbildung ist im Gesetz nicht definiert. Die Rechtsprechung (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 23.08.1989 - 10 RKg 5/86 und 10 RKg 8/86) geht bei der Auslegung des Begriffs "Schulausbildung" vom allgemeinen Sprachgebrauch aus. Danach ist unter diesem Begriff der Besuch allgemeinbildender und weiterführen-der Schulen zu verstehen. Außerdem wird verlangt, dass die Ausbildung an allgemein-bildenden, öffentlichen oder privaten Schulen erfolgt und der Unterricht nach staatlich genehmigten Lehrplänen erteilt wird. Dabei muss es sich - unbeschadet der Hochschulausbildung - um eine Ausbildung handeln, die zumindest annähernd derjenigen an (weiterführenden) Schulen im herkömmlichen Sinn entspricht (BSG, Urteil vom 25.11.1976 - 11 RA 146/75). Des Weiteren muss die Schulausbildung die Zeit und Arbeitskraft des Auszubildenden überwiegend in Anspruch genommen haben, wobei auch die notwendige Vorbereitung hinzuzählt.

Bei einer wöchentlichen Lern- und Unterrichtszeit des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum von 41 Stunden ist zwar beim Kurs zur Erlangung der Fachhochschulreife grundsätzlich von einer schulischen Ausbildung auszugehen. Allerdings waren entgegen der Auffassung des Klägers die Zeiten des Kurses zur Erlangung der Fachhoch-schulreife bereits deshalb nicht zu berücksichtigen, weil der Kläger nicht wegen der Ausbildung an einer versicherungspflichtigen Beschäftigung gehindert war und dies ausgehend vom Zweck der Regelung des § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI Voraussetzung für das Vorliegen eines Anrechnungszeittatbestandes ist.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (vgl. Urteil vom 06.05.2010 – B 13 R 118/08 R; Urteil vom 24.10.1996, 4 RA 52/95) stellt die an sich dem Versicherungsprinzip widersprechende Berücksichtigung von Ausbildungs-/Anrechnungszeiten als Zeiten ohne Beitragsleistung einen rentenrechtlichen Ausgleich dafür dar, dass der Versicherte durch die Ausbildungszeiten ohne sein Verschulden gehindert war, einer rentenversicherungspflichtigen Tätigkeit nachzugehen und so Pflichtbeiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung zu leisten. Diese gesetzliche Konzeption ist Ausdruck besonderer staatlicher Fürsorge und ein Akt des sozialen Ausgleichs. Damit stellt die schulische Ausbildung des Versicherten keine Eigenleistung des Versicherten zugunsten der Rentenversicherung dar; sie liegt vielmehr laut dem BSG in seinem eigenen Interesse und Verantwortungsbereich. Zweck ist es demnach, dem Versicherten einen rentenrechtlichen Ausgleich dafür zu verschaffen, dass er durch bestimmte Umstände aus seinem persönlichen Bereich unverschuldet an der Zahlung von Pflichtbeiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung gehindert war (vgl. BSG, Urteil vom 06.05.2010 – B 13 R 118/08 R). Dementsprechend können Zeiten, für die aus Rechtsgründen keine wirksamen Pflichtbeiträge entrichtet werden konnten, auch keine Anrechnungszeiten sein.

Während der Strafhaft können aus Rechtsgründen keine wirksamen Pflichtbeiträge entrichtet werden. Grundsätzlich besteht während der Strafhaft gemäß § 41 StVollzG Arbeitspflicht. Häftlinge, die während der Haft auf Grund dieser Arbeitspflicht arbeiten, sind allerdings mangels eines besonderen Bundesgesetzes, das die in § 190 Nr. 13 des StVollzG vom 16.03.1976 (BGBl I S. 581) vorgesehene Einbeziehung von Strafgefangenen in das System der gesetzlichen Rentenversicherung in Kraft setzen würde (§ 198 Abs. 3 StVollzG), nicht versicherungspflichtig. Hierin ist kein Verstoß gegen das Grund-gesetz zu sehen (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Urteil vom 01.07.1998, 2 BvR 441/90, 2 BvR 493/90, 2BvR 618/92, 2 BvR 212/93, 2 BvL 17/94, vgl. auch BSG, Urteil vom 26.05.1988, 5/5b RJ 20/87).

Seit dem 01.01.1976 unterliegen allerdings Freigänger bei Abschluss eines freien Arbeitsvertrages der Sozialversicherungspflicht. Es besteht demnach die Möglichkeit, als Freigänger Pflichtbeiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung zu erwerben.

Aus diesen Grundsätzen folgt, dass der Kläger in der Zeit der schulischen Ausbildung nicht wegen der Ausbildung daran gehindert war, einer rentenversicherungspflichtigen Tätigkeit nachzugehen, denn er befand sich, nachdem er (rechtskräftig) verurteilt worden war, in Strafhaft. Während des Kurses zur Erlangung der Fachhochschulreife war der Kläger ausschließlich wegen Verbüßung der Strafhaft an der Ausübung einer versicherungspflichtigen Tätigkeit gehindert.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Ausnahmeregelung für Freigänger. Für den Kläger bestand nicht die – theoretische – Möglichkeit während des Strafvollzuges aufgrund einer Beschäftigung Pflichtbeiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung zu erwerben. Die Justizvollzugsanstalt T hat mit Schreiben vom 21.01.2014 mitgeteilt, dass für den Kläger im Zeitraum der schulischen Ausbildung die Voraussetzungen für die Lockerung des Vollzuges gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 1 StVollzG nicht gegeben waren. Entgegen der Ansicht des Klägers war die Justizvollzugsanstalt T für die Abgabe dieser Erklärung auch zuständig. Zum einen wurde die Anfrage an die Justizvollzugsanstalt G an die Justizvollzugsanstalt T weitergeleitet und zum anderen hat die Justizvollzugsanstalt G auch im Rahmen des Klageverfahrens erklärt, dass eine Entscheidung über die Gewährung von vollzugsöffnenden Maßnahmen in der Justizvollzugsanstalt G nicht veranlasst war. Die Justizvollzugsanstalt T konnte eine eigene Prüfung vornehmen, da die Voraussetzungen für die Lockerung des Vollzugs einheitlich festgeschrieben sind und die Justizvollzugsanstalt T anhand der dortigen Verwaltungsakte eine Entscheidung treffen konnte.

Rechtsmittelbelehrung:

Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden.

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim

Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Zweigertstraße 54, 45130 Essen

schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem

Sozialgericht Gelsenkirchen, Bochumer Straße 79, 45886 Gelsenkirchen

schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

Die Berufungsschrift muss bis zum Ablauf der Frist bei einem der vorgenannten Gerichte eingegangen sein. Sie soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten An-trag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Die elektronische Form wird durch Übermittlung eines elektronischen Dokuments gewahrt, das für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet ist und

- von der verantwortenden Person qualifiziert elektronisch signiert ist und über das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) eingereicht wird oder

- von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gem. § 65a Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingereicht wird.

Weitere Voraussetzungen, insbesondere zu den zugelassenen Dateiformaten und zur qualifizierten elektronischen Signatur, ergeben sich aus der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung - ERVV) in der jeweils gültigen Fassung. Über das Justizportal des Bundes und der Länder (www.justiz.de) können nähere Informationen abgerufen werden.

Zusätzlich wird darauf hingewiesen, dass einem Beteiligten auf seinen Antrag für das Verfahren vor dem Landessozialgericht unter bestimmten Voraussetzungen Prozesskostenhilfe bewilligt werden kann.

Gegen das Urteil steht den Beteiligten die Revision zum Bundessozialgericht unter Übergehung der Berufungsinstanz zu, wenn der Gegner schriftlich zustimmt und wenn sie von dem Sozialgericht auf Antrag durch Beschluss zugelassen wird. Der Antrag auf Zulassung der Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Sozialgericht Gelsenkirchen schriftlich zu stellen. Die Zustimmung des Gegners ist dem Antrag beizufügen.

Lehnt das Sozialgericht den Antrag auf Zulassung der Revision durch Beschluss ab, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Berufungsfrist von neuem, sofern der Antrag auf Zulassung der Revision in der gesetzlichen Form und Frist gestellt und die Zustimmungserklärung des Gegners beigefügt war.

Die Einlegung der Revision und die Zustimmung des Gegners gelten als Verzicht auf die Berufung, wenn das Sozialgericht die Revision zugelassen hat.
Rechtskraft
Aus
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