S 5 (11) RJ 36/02

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
5
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 5 (11) RJ 36/02
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin Anspruch auf Zahlung von Regelaltersrente nach Maßgabe des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) hat.

Die Klägerin wurde am 00.00.1927 in T/Q geboren. Sie ist jüdi-schen Glaubens und Verfolgte i.S.d. § 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG). Im Anschluss an die Befreiung wanderte die Klägerin im Jahre 1946 in das heute Israel aus. Dort lebt sie noch heute und besitzt die israelische Staatsbür-gerschaft.

Am 04.11.1998 beantragte die Klägerin Altersrente unter Anerkennung von Ghetto-Arbeitszeiten. Im Versicherungsverlauf gab sie unter dem 06.06.1999 an, sie habe von Anfang 1940 bis Anfang März 1943 zunächst im Leder- später im Schustershop im jüdischen Viertel in T als Zwangsarbeiterin in der Ledersortierung gearbeitet. Von Ende März 1943 bis zur Befreiung am 09.05.1945 habe sie im Lager Faulbruek gewöhnt. Dort habe sie Zwangsarbeiten bei der Produktion von Fallschirmen geleistet. Zur Höhe zum Arbeitsverdienst gab die Klägerin an "nur Hungerverpflegung" erhalten zu haben.

Die Beklagte hat die Entschädigungsakte über die Klägerin beigezogen und dar¬aus Unterlägen in Kopie zur Akte genommen. In der Entschädigungsakte sind u.a. Zeugenaussagen enthalten. Die Zeugin S hat am 10.04.1956 u.a. aus¬gesagt, die Klägerin sei im Ghetto T bei der Firma B E im Ledershop beschäftigt gewesen. Gleiches bestätigt die Zeugin N1 am 15.11.1956. Im Antragsformular zur Entschädigung für Schäden an Körper oder Gesundheit nach dem BEG hatte die Klägerin am 06.01.1964 ausgeführt, sie sei im Ghetto T als Kind zu Zwangsarbeiten herangezogen worden. Sie habe im Ledershop beim Sortieren der Lederabfälle gearbeitet. Im März/April 1943 sei sie ihren Eltern entrissen worden und in das Zwangsarbeitsiager H eingeliefert worden und nach kurzer Zeit in das Zwangsarbeitslager G überstellt worden.

Die Beklagte hat ferner die Versichertenakte der Zeugin S beigezogen und auch daraus Unterlagen in Kopie zur Akte genommen.

Zur Stützung ihres Vorbringens überreichte die Klägerin eine schriftliche Zeugenerklärung der Zeugin B vom 27.08.2000. Auch die Zeugin B bestätigt die von der Klägerin behauptete Arbeitszeit im Ghetto T im Leder- und später im Schustershop von Anfang 1940 bis Anfang März 1943.

Auch die Zeugin S hat in einer weiteren schriftlichen Erklärung vom 27.08.2000 den Vortrag der Klägerin insoweit bestätigt. Mit Bescheid vom 27. September 2000 lehnte die Beklagte den Antrag der Kläge¬rin auf Gewährung eines Altersruhegeldes ab. Die Wartezeit sei nicht erfüllt. Die von der Klägerin geltend gemachten Beschäftigungszeiten im Ghetto T und im Zwangsarbeitslager G könnten nicht anerkannt werden. Es habe sich nicht um ein aus "freien Willen" aufgenommenes Beschäftigungs¬verhältnis gegen Entgelt gehandelt.

Gegen den Bescheid legte die Klägerin am 05.10.2000 Widerspruch ein.

Zur Begründung ließ sie ausführen, sie habe von Anfang 1940 bis März 1943 im Ghetto T als Näherin im Schneidershop gearbeitet. Die Tätigkeit sei ihr vom Judenrat vermittelt worden und sie habe ein Gehalt erhalten. Gleich¬wohl habe sie diese Tätigkeit als Zwangsarbeit empfunden.

Die Klägerin hat in einer weiteren eigenen schriftlichen Erklärung vom 26.11.2000 u.a. ausgeführt, sie habe für ihre Zwangsarbeit im Ghetto T Geld erhalten. Dieses habe nur innerhalb des Ghettos benutzt werden können. Sie könne sich nicht mehr an die Höhe des gezahlten Entgelts erin¬nern. Sie wisse nur so viel, dass das Geld, dass sie für einen ganzen Monat bezogen habe, nur dazu ausreichte, für zwei Tage im Monat Essen zu besorgen. Ihre Eltern hätten das gleiche Entgelt bezogen. Ferner führte die Klägerin aus: "Die Tätigkeit habe ich mir damals nicht selbst ausgesucht, ich wurde zur Zwangsarbeit zugeteilt mit der sofortigen Verwarnung, dass falls ich nicht zur Zwangsarbeit bereit wäre, man mich schon jetzt sofort in ein Kon-zentrationslager deportieren würde." Ihr Bruder N2 sei umgekommen und ein tragisches Beispiel dafür, dass man die Verwarnung sehr ernst zu nehmen hatte. Vorgelegt wurde ferner ein Auszug aus der Schrift von Natan Eliasz Szternfinkiel "Vernichtung der Juden von T" sowie die Kopie einer Lohnliste der Straßenreinigung in T aus dem Jahre 1941 nebst weiteren Unterlagen.

Die Beklagte ließ im Wege der Amtshilfe die Zeuginnen B und S durch den israelischen Sozialversicherungsträger befragen.

In dem Protokoll vom 27.02.2001 bekundet die Zeugin S, die Tätigkeit sei von der Klägerin nicht selbst ausgesucht worden. Sie sei zur Zwangsarbeit zu¬geteilt worden mit der Verwarnung, sollte sie nicht zur Arbeit im Ghetto bereit sein, würde sie in ein Konzentrationslager deportiert. Sie ging und kam von der Arbeit zu Fuß und sei dort von Schutzpolizei bewacht worden. Auch während der Arbeit habe Schutzpolizei die Klägern bewacht. Ihr sei gedrucktes Entgelt für die Arbeit gezahlt worden, dass nur innerhalb des Ghettos Gültigkeit gehabt hätte.

Die Zeugin B hat ausweislich des Vernehmungsprotokolls vom 27.02.2001 bekundet, die Klägerin habe sich nicht selbst um die Arbeit bemüht. Sie sei von der Polizei gewarnt worden, sollte sie nicht zur Arbeit gehen, würde man sie in ein Konzentrationslager schicken. Ferner bekundet auch diese Zeugin, dass die Klägerin auf dem Weg zur Arbeit und bei der Arbeit durch Schutzpoli¬zei überwacht worden wäre.

Die Klägerin ist der Auffassung, dass sie für ihre Arbeit entlohnt worden ist. Auch Lebensmittelkarten stellten einen geldwerten Vorteil dar, der als Gegenwert für geleistete Arbeit anzusehen sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 24.01.2002 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhält¬nis habe nicht Vorgelegen. Hiergegen richtet sich die Klage vom 29.01.2002.

Die Klägerin behauptet weiter, von Anfang 1940 bis März 1943 als Näherin im Schneidershop im Ghetto T tätig gewesen zu sein. Die Tätigkeit sei vom Judenrat vermittelt worden und sei damit für die Klägerin relativ frei¬willig gewesen. Auch sei ein Gehalt gezahlt worden. Nach Inkrafttreten der jeweiligen arbeitsrechtlichen Anordnungen {Warthegau ab August 1940 und Ober¬schlesien ab 01.11.1940) sei jeder Arbeitgeber im Ghetto zur tariflichen Ent¬lohnung verpflichtet gewesen.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27.09.2000 in der Ge¬stalt des Widerspruchsbescheides vom 24.01.2002 zu verurteilen, der Klä¬gerin unter Anerkennung einer fiktiven glaubhaft gemachten Beitragszeit von Februar 1940 bis März 1943 Regelaltersrente nach Maßgabe des ZRBG ab dem 01.07.1997 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält die angefochtene Verwaltüngsentscheidung nach wie vor für rechtmäßig. Wegen der weiteren Einzelheiten hinsichtlich des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte und der Entschädi¬gungsakte über die Klägerin, die Vorgelegen haben und Gegenstand der mündli¬chen Verhandlung gewesen sind, vollinhaltlich verwiesen.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 12.05.2004 ist die Klägerin weder selbst erschienen noch vertreten gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte im Termin zur mündlichen Verhandlung am 12.05.2004 verhan¬deln und entscheiden. Auf diese verfahrensrechtliche Möglichkeit (vgl. §§ 110, 126 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist der Bevollmächtigte der Klägerin in der Terminsmitteilung hingewiesen worden.

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Die Klägerin wird durch den angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 27.09.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2002 nicht in ihren Rechten gemäß § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert. Zu Recht lehnt die Be¬klagte die Gewährung von Regelaltersrente ab dem 01. Juli 1997 ab.

Ein Anspruch der Klägerin gemäß § 35 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) auf Regelaltersrente besteht nicht. Die Klägerin erfüllt nicht die allgemeine Wartezeit. Für die Klägerin liegen in der deutschen Rentenversicherung keine anrechenbaren Versicherungszeiten vor. Gemäß § 55 Abs. 1 SGB VI sind Beitragszeiten auch solche Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten (sogenannte fiktive Beitragszeiten). Flat eine Verfolgte eine rentenversicherungs¬pflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit in einem Ghetto, in dem sie sich zwangsweise aufgehalten hat, ausgeübt, so gelten diese Beiträge als gezahlt nach Maßgabe des § 2 ZRBG. Nach § 1 ZRBG findet dieses Gesetz für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgen in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, Anwendung, wenn 1. die Beschäftigung a) aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist, b) gegen Entgelt ausgeübt wurde und 2. das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, soweit für diese Zeit nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird.

Damit knüpft das ZRBG an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu den sogenannten Ghetto-Fällen an (vgl. u.a. Urteile vom 14.07.1999 - B 13 RJ 75/98 R und B 13 RJ 71/98 R - in SozR 3-5070, § 14 Nr. 3 und vom 21.04.1999 - B 5 RJ 48/98 R - in SozR 3-2200, § 1248 Nr. 1 b). Vorliegend muss damit eine Vereinbarung zwischen einem konkreten Arbeitgeber und dem Beschäftigten über den Austausch von Arbeit und Lohn sowie das Eingebunden sein seines Arbeitnehmers in den organisatorischen Ablauf eines Betriebes gegeben. Ferner muss für die geleistete Arbeit ein Arbeitsentgelt gezahlt worden sein. Erforderlich ist mithin die Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit, lediglich die fehlenden Beiträge werden fingiert.

Die Beschränkung der Freizügigkeit schließt ein versicherungspflichtiges Be¬schäftigungsverhältnis nicht von vornherein aus. Der zwangsweise Aufenthalt der Klägerin im Ghetto T ist damit unschädlich.

Im vorliegenden Fall sieht die Kammer jedoch nach dem eignen Bekunden der Klägerin als auch nach den Aussagen der Zeuginnen S und B ein aus eigenem Willensentschluss zustande gekommenes Beschäftigungsverhältnis für die Klägerin nicht als gegeben an. Dabei ist für die Kammer ausschlaggebend, dass die Klägerin die Arbeit nicht aufgrund der allgemeinen Gefahr, ohne Arbeit deportiert zu werden, aufgenommen worden ist. Der Klägerin ist diese Ar¬beit nach ihrem eigenem Bekunden und durch die Aussagen der Zeuginnen bestä¬tigt zugeteilt worden. Zwar kann nach Meinung der Kammer auch in diesem Fall noch ein hinreichend frei eingegangenes Beschäftigungsverhältnis vorliegen, insbesondere wenn die zugewiesene Arbeit ohne unmittelbare Sanktionen obrigkeitlicher Gewalt hätte zurückgewiesen werden können. Im vorliegenden Fall ist die Klägerin jedoch durch eine konkrete Drohung unmittelbar zur Auf¬nahme der ihr zugewiesenen Arbeit genötigt worden. Der Klägerin wurde nach ihrem eigenem Bekunden und denen der Zeuginnen nämlich in Aussicht gestellt, sofort in ein Konzentrationslager verbracht zu werden, wenn sie sich wei¬gerte, die zugewiesene Arbeit aufzunehmen. Dieses unmittelbar in Aussicht ge¬stellte Übel als Sanktion«* auf eine Arbeitsverweigerung lässt einen freien f Willensentschluss nach Meinung der Kammer nicht mehr zu. Vielmehr hatte die Klägerin nach den Umständen keine andere Wahl als der Arbeit nachzugehen, da ihr andernfalls die sofortige Deportation unmittelbar mit der Zuweisung kon¬kret angedroht worden war. Ausweislich der Aussage der Zeugin B vom 27.02.2001 erfolgte diese Drohung auch durch ein staatliches Organ, nämlich der Polizei. Damit wurde der Klägerin eine Arbeit nicht nur zugeteilt, son¬dern im Falle der Weigerung, diese Arbeit zu leisten, unmittelbare Gewalt in Form der sofortigen Deportation angedroht. Mithin ist die Klägerin nach Mei¬nung der Kammer in einer Weise zu der von ihr verrichten Tätigkeit im streitbefangenen Zeitraum genötigt worden, die ihr einen hinreichenden Rest an Entscheidungsfreiheit, ob sie ein Beschäftigungsverhältnis eingehen wollte oder nicht genommen hatte, weil ihr eine unmittelbare gegen sie gerichtete Sanktion in Aussicht gestellt worden war. Die konkrete an die Klägerin ge¬richtete Androhung der Deportation in ein Konzentrationslager unterscheidet diesen Fall von anderen Verfolgten, die sich lediglich durch die allgemeine, noch nicht auf ihre Person konkretisierte Deportationsgefahr zur Arbeitsauf¬nahme veranlasst sahen.

Somit ist im streitbefangenen Zeitraum ein dem Grunde nach sozialver¬sicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nicht vorhanden gewesen.

Eine Beitragsfiktion nach den Vorschriften des ZRBG bzw. nach § 12 WGSVG kommt damit im Falle der Klägerin nicht in Betracht.

Ob die Klägerin für die von ihr entrichtete Arbeit entlohnt worden ist, lässt die Kammer dahinstehen. Denn die Beschäftigungsaufnahme aus eigenem Willensentschluss ist kumulativ mit der Entgeltlichkeit Voraussetzung für ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis i.S.d. § 1 ZRBG bzw., wie ausgeführt, nach den insoweit gleichen Kriterien des Bundessozialgerichts.

Dass für die Klägerin im Widerspruchs- und Klageverfahren vorgetragen worden ist, sie habe als Schneiderin im Schneidershop gearbeitet und die Arbeit sei ihr über den Judenrat vermittelt worden, bedarf ebenfalls keiner weiteren Er¬örterung mehr. Die damit verbundene Widersprüchlichkeit kann dahinstehen.

Die Klage konnte damit keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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