S 23 U 168/14

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
23
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 23 U 168/14
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 90/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Der Bescheid vom 15.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.11.2014 wird aufgehoben und die Beklagte wird verpflichtet, über den Abfindungsantrag des Klägers vom 19.03.2014 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Abfindung einer Rente.

Der 1932 geborene Kläger hatte am 08.07.2001 einen Arbeitsunfall erlitten. Die Beklagte hatte dem Kläger zunächst eine Rente als vorläufige Entschädigung nach einer MdE von 40 v. H. bewilligt (Bescheid vom 30.04.2003). Mit Bescheid vom 26.05.2004 hatte die Beklagte dem Kläger eine Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 40 v. H. bewilligt (jährliche Rente = 10.133,15 Euro). Auf seinen Antrag hin hatte die Beklagte mit Bescheid vom 12.07.2004 die Rente des Klägers nach einer MdE von 40 v. H. teilweise abgefunden. In medizinischer Hinsicht hatte sie zuvor bei dem Internisten Dr. D. ein ärztliches Gutachten eingeholt, aus dem sich eine normale (keine herabgesetzte) Lebenserwartung ergab. Als Risikofaktoren hatte der Sachverständige Übergewicht, leichte Aorteninsuffizienz und Grenzwerthypertonie genannt (Gutachten vom 28.05.2004).

Mit Schreiben vom 19.03.2014 beantragte der Kläger eine erneute Abfindung seiner Rente. Mit Bescheid vom 15.04.2014 lehnte die Beklagte eine erneute Rentenabfindung ab. Zur Begründung führte sie aus, dass unter Berücksichtigung des Geburtsjahrgangs des Klägers und seines bisher erreichten Lebensalters nach der aktuellen Generationensterbetafel die Gewährung einer Abfindung nach pflichtgemäßem Ermessen nicht möglich sei. Hierbei habe die Beklagte das "wohlverstandene" Interesse des Klägers mit den Interessen der Allgemeinheit abgewogen. Schutzwürdige Interessen der Allgemeinheit seien insbesondere dann betroffen, wenn die Gefahr bestehe, dass der Antragsteller vor Ablauf von 10 Jahren versterbe.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein. Dieser wurde durch seine damalige Bevollmächtigte dahingehend begründet, dass der Kläger sich bei der Beklagten mehrfach erkundigt habe, ob nach Ablauf der ersten Rentenabfindung eine weitere möglich sei, was immer wieder bejaht worden sei. Der Kläger habe seine finanzielle Lebensplanung auch aufgrund dieser Auskünfte vorgenommen. Gesundheitliche Gründe stünden der erneuten Rentenabfindung nicht entgegen, da sein Gesundheitszustand gut sei und keinerlei Anhaltspunkte dafür bestünden, dass sich dies in nächster Zeit ändern werde. Die ausschließliche Berücksichtigung des Lebensalters des Klägers sei im Gesetz nicht vorgesehen.

Die Beklagte beauftragte den Hausarzt des Klägers, Herrn Dr. E., mit der Erstattung eines Gutachtens zur Frage der Lebenserwartung. Unter dem 08.09.2014 legte Dr. E. einen ärztlichen Bericht mit Stellungnahme zur Lebenserwartung vor. Aus diesem ergeben sich die Dauerdiagnosen: Essentielle Hypertonie, Linksherzhypertrophie, cerebrale Mikroangiopathie, Hyperlipidämie, Aortenklappenstenose I mit Insuffizienz bei Aortensklerose, Diabetes mellitus Typ 2, Sudeck-Atrophie rechte Hand sowie beidseitige Gonarthrose. Die Dauertherapie bestehe in Ramipril 10 mg ½ -0-0 sowie ASS 100 mg 0-1-0. Bei der körperlichen Untersuchung am 22.07.2014 habe ein guter Allgemein- und ein normaler Ernährungszustand festgestellt werden können; der Blutdruck habe 130/80 mmHg betragen, der BMI 26,5. Es bestehe ein unauffälliger körperlicher Status. Die Lebenserwartung erscheine normal, nicht herabgesetzt.

Zu diesem Gutachten und den diesem beigefügten aktuellen medizinischen Unterlagen (u. a. Befundberichte und Langzeit-EKG vom 04.07.2014) ließ sich die Beklagte durch Dr. F. beraten. Dieser führte in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 03.10.2014 aus, dass davon ausgegangen werden müsse, dass die Lebenserwartung des Klägers "signifikant herabgesetzt" sei. Er stimme der Bewertung von Dr. E. nicht zu. Zur Begründung für seine Beurteilung führte der Beratungsarzt aus, dass aus den vorliegenden Befunden hervorgehe, dass bei dem Kläger schwere Veränderungen im Bereich des Herz-/Kreislaufsystems und des Gehirns vorlägen. Zudem bestehe ein Diabetes mellitus, welcher per se als Ursache für Gefäßveränderungen in verschiedenen Körperregionen angeschuldigt werden müsse.

Den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 15.04.2014 wies die Beklagte daraufhin mit Widerspruchsbescheid vom 07.11.2014 zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass aufgrund der Krankheitsrisiken des Klägers noch nicht einmal mit Gewissheit von einer normalen Lebenserwartung, die bei 7,16 Jahren, also weniger als 10 Jahre, liege, ausgegangen werden könne. Eine Rentenabfindung sei daher mit einem so erheblichen Risiko auf Seiten der Beklagten verbunden, dass diese nach pflichtgemäßem Ermessen nicht gewährt werden könne.

Der Kläger hat durch seinen Prozessbevollmächtigten am 25.11.2014 Klage zum Sozialgericht Frankfurt erhoben.

Der Kläger trägt durch seinen Prozessbevollmächtigten vor,

die Beklagte sei ihrer Amtsermittlungspflicht zur Bewertung der Lebenserwartung des Klägers nicht korrekt nachgekommen und habe ermessensfehlerhaft gehandelt. Die Lebenserwartung des Klägers sei nicht herabgesetzt, sondern sogar weit überdurchschnittlich. Bei den jüngsten Untersuchungen seien nur geringfügige gesundheitliche Einschränkungen festgestellt worden. Insbesondere hätten sich keine Anhaltspunkte für einen Diabetes mellitus ergeben (unter Verweis auf den Bericht des Kardiologen Dr. G. vom 30.03.2016). Dieser habe bei der Untersuchung sogar geäußert, der Kläger könne in Anbetracht der wenigen körperlichen Beeinträchtigungen sicherlich 100 Jahre alt werden. Eine Prognose zur durchschnittlichen Lebenserwartung eines Antragstellers sei medizinisch möglich und der Kläger sei auch mit einer solchen Erhebung (durch Sachverständigengutachten) einverstanden.

Der Kläger beantragt durch seinen Prozessbevollmächtigten,
den Bescheid vom 15.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.11.2014 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über den Abfindungsantrag des Klägers vom 19.03.2014 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte beruft sich auf die "überwiegende Meinung in der einschlägigen Kommentarliteratur", wonach die Rente für einen festen Zeitraum von 10 Jahren abzufinden sei. Schon allein die nach der Generationensterbetafel im Zeitpunkt der Antragstellung noch bestehende normale Lebenserwartung von 7,16 Jahren sei ein Grund für die Ablehnung der Abfindung gewesen. Nach der beratungsärztlichen Stellungnahme des Dr. F., wonach die Lebenserwartung des Klägers signifikant herabgesetzt sei, sei die Gewährung der Rentenabfindung nach pflichtgemäßem Ermessen ausgeschlossen gewesen. Der medizinische Sachverhalt sei eindeutig.

Das Gericht hat im Rahmen der Sachverhaltsermittlungen die Verwaltungsakten der Beklagten zu dem Rechtsstreit beigezogen.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakte verwiesen, der Gegenstand der Entscheidungsfindung war.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden vorher gehört. Der Gerichtsbescheid wirkt als Urteil (§ 105 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Die Klage ist zulässig, sie ist insbesondere form- und fristgerecht bei dem zuständigen Sozialgericht Frankfurt erhoben worden. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (Verbescheidungsklage) statthaft.

Die Klage führt auch in der Sache zum Erfolg. Die angefochtene Entscheidung der Beklagten ist ermessensfehlerhaft und hat den Antrag des Klägers auf Rentenabfindung daher zu Unrecht abgelehnt. Daher war sie aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut über den Abfindungsantrag zu entscheiden.

Bei der angefochtenen Ermessensentscheidung der Beklagten nach § 78 SGB VII war durch das Gericht zu prüfen, ob die Beklagte die gesetzlichen Grenzen des eingeräumten Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Ermessensfehler sind: Ermessensüberschreitung, Ermessensfehlgebrauch, Ermessensunterschreitung und Ermessensausfall (Walter Böttiger in: Breitkreuz/Fichte, § 54, Rn. 95).

Vorliegend hat die gerichtliche Prüfung ergeben, dass die Beklagte in ihrer Ermessensausübung Erwägungen angestellt hat, die dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechen und sich damit als Ermessensfehlgebrauch darstellen.

Nach § 78 Abs. 1 Satz 1 SGB VII können Versicherte, die Anspruch auf eine Rente wegen einer MdE von 40 v. H. oder mehr haben, durch einen Geldbetrag abgefunden werden. § 79 SGB VII bestimmt, dass eine Rente in den Fällen einer Abfindung bei einer MdE ab 40 v. H. bis zur Hälfte für einen Zeitraum von zehn Jahren abgefunden werden kann.

Nach dem klaren Gesetzeswortlaut des § 79 SGB VII (anders als bei der Abfindung bei einer MdE von unter 40 v. H., vgl. § 76 SGB VII, der keinen Abfindungszeitraum nennt) und mit der herrschenden Meinung ist von einem festen Abfindungszeitraum von zehn Jahren auszugehen (vgl. Kranig in: Hauck/Noftz, SGB, 12/09, § 78 SGB VII, Rz. 11).

Die Beklagte hat die Ablehnung der Rentenabfindung im Ausgangsbescheid damit begründet, dass nach der Generationensterbetafel des Statistischen Bundesamtes die Lebenserwartung des Klägers den Abfindungszeitraum von 10 Jahren nicht erreiche; im Widerspruchsbescheid hat sie zusätzlich das Ergebnis der beratungsärztlichen Stellungnahme des Dr. F. vom 03.10.2014 herangezogen, wonach entsprechend dem tatsächlichen Gesundheitszustand des Klägers seine Lebenserwartung signifikant herabgesetzt sei. Damit hat die Beklagte ihr Ergebnis im Ausgangsbescheid ohne Prüfung des Einzelfalls nur aus der Sterbetafel abgeleitet; im Widerspruchsverfahren hat die Beklagte zwar eine Individualprüfung eingeleitet, aber ihre Entscheidung im Widerspruchsbescheid auf eine für die Fragestellung unzureichende beratungsärztliche Stellungnahme gestützt.

Zwar kann die Beklagte als zulässigen Ablehnungsgrund eine unzureichende Lebenserwartung des Klägers mit in ihre Ermessensentscheidung einbeziehen. Wegen des festen Abfindungszeitraums bezieht sich die Prüfung der Lebenserwartung der Versicherten nicht darauf, ob eine Abweichung von der üblichen Lebenserwartung anzunehmen ist, sondern darauf, ob tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass mit dem Tod vor Ablauf des Abfindungszeitraums von 10 Jahren zu rechnen ist. Dabei ist die Beurteilung der Lebenserwartung eine Prognoseentscheidung, bei der der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung keinen Beurteilungsspielraum hat.

• Die Abfindung kann versagt werden, wenn nach der besonderen Schwere des Gesundheitszustandes und der Entwicklungstendenz der Leiden des Berechtigten auf dessen Ableben vor Ablauf des Abfindungszeitraumes (s. o.) mit hoher Wahrscheinlichkeit geschlossen werden muss.

• Kann mit dem Tod in einem weitgehend zuverlässigen überschaubaren Zeitraum (etwa 3 Jahre) nicht gerechnet werden, ist die hohe Wahrscheinlichkeit zu verneinen.

Ob im Einzelfall die negative Prognose, dass mit dem Tod in einem weitgehend zuverlässigen überschaubaren Zeitraum gerechnet werden kann, zutrifft, haben die UV-Träger aufgrund ermittelbarer medizinischer Daten in der Regel durch Einholung ärztlicher Gutachten zu ermitteln (zum Vorstehenden insgesamt Bereiter-Hahn, § 76 SGB VII, Rn. 3.1; LSG Rheinland-Pfalz, 21. Dezember 1994, HV-Info 21/1995, 1790 – Breithaupt 1995, 613; zitiert nach SG Kiel, Urteil vom 18. September 2002 – S 2 U 123/01 –, Rn. 24, juris; Bereiter-Hahn/Mehrtens, § 78 SGB VII, Rn. 7 mit Hinweis auf Schreiben des BMA, 20. Dezember 1971, Va 3/52 zu § 73 BVG; zitiert nach Kranig in: Hauck/Noftz, SGB, 12/09, § 78 SGB VII, Rn. 11; Jung in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 2. Aufl. 2014, § 78 SGB VII Rz. 11).

Vorliegend hat Dr. F. keine die Entscheidung der Beklagten rechtfertigende negative Prognose getroffen. Dr. F. hat gerade keinen Zeitraum genannt, in dem mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem Tod des Klägers zu rechnen ist. Wie der Beklagten bereits mit gerichtlichem Hinweis mitgeteilt worden war, ist die Aussage, dass die Lebenserwartung "signifikant" herabgesetzt sei, nach dem oben Ausgeführten nicht ausreichend, um eine negative Prognose bejahen und damit die Ablehnung der Abfindung begründen zu können. Dass der Beratungsarzt ganz offensichtlich keine negative Prognose im o. g. Sinne stellen konnte, ist allein schon der beste Anhaltspunkt dafür, dass eine solche nicht gegeben ist. Hierfür spricht auch die Stellungnahme des Hausarztes Dr. E. vom 08.09.2014, aus der gerade keine negative Prognose ableitbar ist. In diesem Zusammenhang sei – ohne dass es hierauf noch ankäme – erwähnt, dass Dr. E. im Gegensatz zu Dr. F. in seine Beurteilung nicht nur die Aktenlage, sondern seine persönlichen Befunderhebungen einfließen lassen konnte.

Mit der Ablehnung der Rentenabfindung auf der Grundlage der beratungsärztlichen Stellungnahme des Dr. F. hat die Beklagte somit von dem ihr zustehenden Ermessen in fehlerhafter Weise Gebrauch gemacht.

Die ermessensfehlerhafte Entscheidung der Beklagten war aufzuheben und die Beklagten zu verurteilen, über den Abfindungsantrag unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Hierbei hat sie zu berücksichtigen, dass sie eine negative Prognoseentscheidung nur treffen und hiermit eine Ablehnungsentscheidung begründen kann, wenn sich aus der Prognoseentscheidung nachvollziehbar ableiten lässt, dass mit dem Tod des Klägers in einem Zeitraum von etwa 3 Jahren zu rechnen ist. Sollte diese negative Prognose nicht zutreffen, kann die Abfindung nicht mit einer verkürzten Lebenserwartung des Klägers abgelehnt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Über die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Widerspruchsverfahren ist im Rahmen der Kostenfestsetzung zu befinden; eine diesbezügliche gerichtliche Erklärung ist nicht vorgesehen (arg. e. § 197 a Abs. 1 SGG, § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO).

Die Rechtsmittelbelehrung folgt aus §§ 105 Abs. 2, 143, 144 SGG.
Rechtskraft
Aus
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