L 1 KR 505/17

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 112 KR 218/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 505/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 3. November 2017 wird aufgehoben. Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 27. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Januar 2016 verurteilt, den Kläger mit einem Fußhebersystem Typ zu versorgen. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit steht die Versorgung mit einem sogenannten Fußhebersystem. Der im Dezember 2002 geborene Kläger ist bei der Beklagten als Familienangehöriger gesetzlich krankenversichert. Er leidet an einer akuten disseminierten Enzephalomyelitis (ADEM) (G 37.8 sonstige näher bezeichnete demyelinisierende Krankheiten des zentralen Nervensystems) mit der Folge einer Halbseitenlähmung rechts (G 81.1 spastische Hemiparese rechts Pes planovalgus). Am 9. März 2015 verordnete das Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) für chronisch kranke Kinder der C ein Fußhebersystem. Gestützt hierauf beantragte das Sanitätshaus O GmbH mit Schreiben vom 26. März 2015 für den Kläger ein solches Systems unter Einreichung eines Kostenvoranschlags, einschließlich zehn Sätzen Elektroden, Dokumentation und Anpassung für eine Gesamtsumme von 5.864,67 EUR. Die Beklagte teilte dem Kläger mit vom 31. März 2015 zunächst mit, sie habe ergänzende Informationen beim Hilfsmittellieferanten angefordert. Am 8. April 2015 informierte sie außerdem, dass für die Beurteilung der Leistungsvoraussetzungen eine Stellungnahme des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) eingeholt werden müsse. Der MDK erstattete am 20. April 2015 ein sozialmedizinisches Gutachten nach Aktenlage, in dem er zu dem Ergebnis gelangte, die Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung seien eingeschränkt erfüllt. Es würden (jedoch) andere Maßnahmen empfohlen.

Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 27. April 2015 die Versorgung mit dem Fußhebersystem ab.

Den Widerspruch hiergegen wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14. Januar 2016 zurück. Zur Begründung führte sie u.a. aus, das Fußhebersystem sei nicht im Hilfsmittelverzeichnis des Spitzenverband Bund der Krankenkassen gemäß § 139 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) aufgeführt. Zwar könne unter bestimmten Bedingungen auch ein Hilfsmittel bewilligt werden, welches nicht im Hilfsmittelverzeichnis gelistet sei. Jedoch müsse u.a. im konkreten Einzelfall nachgewiesen sein, dass gegenüber einem im Hilfsmittelverzeichnis gelisteten Hilfsmittel ein erheblicher Gebrauchsvorteil bestehe. Ein solcher könne hier nicht ermittelt werden, da es an einer vergleichenden Darstellung fehle. Allerdings sei bei Kindern der Einsatz einer dauerhaften Elektrostimulation besonders kritisch.

Hiergegen hat der Kläger am 10. Februar 2016 Klage beim Sozialgericht Berlin (SG) erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, die Probeversorgung habe ergeben, dass er von den Gebrauchsvorteilen des Systems in seinem gesamten Alltag profitiere. Es sei ein wesentlich besseres Gangbild festzustellen. Eine Stolperneigung und das damit einhergehenden Sturzrisiko seien nicht mehr vorhanden. Subjektiv habe er sein Gangbild nicht mehr als Belastung empfunden. Das System solle als Mobilitätshilfsmittel benutzt werden. Soweit mit diesem therapeutische Effekte verbunden seien, würden diese zwar gerne hingenommen, das Hilfsmittel solle ihm jedoch zum besseren und sicheren Laufen verhelfen. Der Kläger hat einen Therapiebericht des SPZ der C vom 24. März 2016 eingereicht, wonach bei ihm weiterhin ein Zustand nach akuter disseminierter Enzephalomyelitis mit armbetonter Hemiparese rechts bestehe. Erneut sei zur Besserung seiner Fußhebermuskeln und damit zur Verbesserung seines Gangbildes für einen Zeitraum von vier Wochen das elektronische Fußhebersystem Bioness zur Probe verordnet worden. Eine ähnliche Bescheinigung erstellte sie unter dem 28. Dezember 2016. Auf Anfrage des SG teilte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) unter dem 4. April 2017 mit, weder er noch seine Rechtsvorgänger hätten eine Empfehlung zur konkreten Behandlungsform mittels eines Fußhebersystems bei Fußhebeschwäche abgegeben, noch sei hierzu ein Methodenbewertungsverfahren durchgeführt worden. Es sei kein Antrag auf Prüfung der Behandlung mittels Elektrostimulationsgerät bei Fußhebeschwäche als einer neuen Untersuchungsmethode nach § 135 Abs. 1 SGB V gestellt worden.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 3. November 2017 abgewiesen. Der Einsatz des streitgegenständlichen Hilfsmittels stehe in einem untrennbaren Zusammenhang mit einer neuen Behandlungsmethode im Sinne des § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Ein solcher bestehe bereits deswegen, weil die technisch neuartige Wirkungsweise unmittelbar mit Nutzung des Fußhebersystems verbunden und bezweckt sei. Der Anspruch könne auch nicht aus einer fiktiven Genehmigung im Sinne von § 13 Abs. 3 a Satz 6 SGB V hergeleitet werden, weil die hier maßgebliche Fünf-Wochenfrist eingehalten sei.

Gegen diese am 15. November 2017 zugestellte Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers vom 7. Dezember 2017. Zu deren Begründung trägt er u.a. vor, bei dem streitgegenständlichen Hilfsmittel handele es sich um ein Gerät der sogenannten funktionellen Elektrostimulation zum Behinderungsausgleich. Diese seien im Hilfsmittelverzeichnis unter der Hilfsmittelnummer 09.37.04.0.000 typisiert.

Der Kläger beantragt der Sache nach,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 3. November 2017 und den Bescheid vom 27. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Januar 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Kläger mit einem Fußhebersystem des Typs zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt die angegriffene Entscheidung. Eine weitere Stellungnahme des MDK sei nicht zu veranlassen. Als Hilfsmittel fehlte es an einem wesentlichen Gebrauchsvorteil gegenüber einer Alternativversorgung.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und begründet.

Die Klage hat Erfolg. Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 27. April 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Januar 2016 ist rechtswidrig. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch zu.

Der Anspruch folgt aus § 33 Abs. 1 S. 1, 3. Alt. SGB V. Nach dieser Vorschrift haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um eine Behinderung auszugleichen. Bei dem Kläger liegt unstreitig eine Gehbehinderung vor. Der Umfang des von der gesetzlichen Krankenversicherung durch Hilfsmittel zu gewährenden Behinderungsausgleichs bestimmt sich nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) danach, ob eine Leistung des unmittelbaren oder des mittelbaren Behinderungsausgleichs beansprucht wird. Bei Prothesen handelt es sich um Fälle des unmittelbaren Behinderungsausgleichs, da mit diesen die ausgefallene Körperfunktionen des Stehens, Gehens und Rennens als solche wiederhergestellt werden sollen und nicht nur die Kompensation der Folgen des Ausfalls in Frage steht wie etwa bei einem Rollstuhl. Im Rahmen des unmittelbaren Behinderungsausgleichs schuldet die gesetzliche Krankenversicherung einen möglichst vollständigen Ausgleich der Behinderung im Sinne eines Gleichziehens des behinderten Menschen mit den Fähigkeiten eines gesunden Menschen. Die Grenze der Leistungsverpflichtung wird erst erreicht, wenn weitere Gebrauchsvorteile zwar noch möglich sind, sie aber nicht mehr wesentlich erscheinen. Deshalb ist bei Hilfsmitteln zum unmittelbaren Behinderungsausgleich insbesondere durch Prothesen grundsätzlich jede Innovation, die dem Versicherten in seinem Alltagsleben deutliche Gebrauchsvorteile bietet, vom Versorgungsauftrag umfasst (vgl. BSG, Urteile vom 6. Juni 2002 -B 3 KR 68/01 R - ; vom 6. September 2004 -B 3 KR 20/04 R - und vom 24. Januar 2013 -B 3 KR 5/12 R- juris-Rdnr. 30ff).

Das streitgegenständliche Fußhebersystem einschließlich des Zubehörs soll hier (nur) dem Ausgleich der Behinderung des Klägers beim Gehen dienen. Mit seiner Hilfe soll er den rechten Fuß zum richtigen Zeitpunkt anheben und wieder absenken können. Die Behandler des Klägers und dieser selbst gehen davon aus, dass er mit Hilfe des Fußhebersystems "normal" gehen ("laufen") kann. Die Alternative einer Peronäusschiene kommt dem natürlichen Gehen nicht gleich.

Soweit sich die Beklagte darauf beruft, keine erheblichen Gebrauchsvorteile erkennen zu können, kann dies dem Anspruch nicht entgegen gehalten werden. Die Kasse ist allgemein gehalten, die Versicherten, ggf. unter Zuhilfenahme des MDK, bei der Suche nach einem geeigneten Hilfsmittel zu unterstützen und eine etwaige Erprobung zu unterstützen. Aus der ihr gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V bestehenden Verantwortung für die Sachleistungen ergibt sich die Verpflichtung der Krankenkasse, ihren Versicherten zu informieren und zu beraten (vgl. für die Versorgung mit Hörgeräten: Urteile des Senats vom 7. Juli 2017 - L 1 KR 438/15 - juris- Rdnr. 29; vom 13. Dezember 2018 - L 1 KR 431/16 juris- Rdnr. 25 unter Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009 - B 3 KR 20/08 R - juris - Rdnr. 36). Die Beklagte darf sich nicht darauf beschränken festzustellen, objektive Gebrauchsvorteile der gewünschten Versorgung nicht feststellen zu können, wenn -wie hier- unstreitig ein Bedarf besteht. Sie hätte konkrete Alternativen benennen müssen.

Da es vorliegend maßgebend um ein Hilfsmittel zum unmittelbaren Behinderungsausgleich geht, geht die Ansicht der Beklagten fehl, aufgrund einer fehlenden positiven Empfehlung des G-BA sei die Versorgung mit dem Fußhebersystem Typ über die Sperrwirkung des § 135 SGB V ausgeschlossen. Wird ein Hilfsmittel als untrennbarer Bestandteil einer neuen vertragsärztlichen Behandlungs- oder Untersuchungsmethode eingesetzt, hat zwar die Krankenkasse die Kosten hierfür grundsätzlich erst zu übernehmen, wenn der G-BA die Methode positiv bewertet hat (BSG, Urt. vom 08.07.2015 -B 3 KR 6/14 R - [CAM-Schiene] Rdnr. 17ff und B 3 KR 5/14 R [Glucosemonitoring System] Rdnr. 26ff). Einschlägig ist insoweit anders als hier aber die erste Alternative des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V, also die Sicherung des Erfolges der Krankenbehandlung bzw. der Behinderungsvorsorge. Diese betrifft lediglich solche Gegenstände, die aufgrund ihrer Hilfsmitteleigenschaft spezifisch im Rahmen der ärztlich verantworteten Krankenbehandlung eingesetzt werden, um zu ihrem Erfolg beizutragen. Es ist für diese Alternative der Norm ausreichend, aber auch notwendig, dass mit dem Hilfsmittel ein therapeutischer Erfolg angestrebt wird (BSG Urteil v. 16. September 2004 -B 3 KR 19/03 R-, BSGE 93, 176, juris-Rdnr. 18). Hier dient das Hilfsmittel dem Ausgleich einer Behinderung. Ob ein untrennbarer Zusammenhang mit einer neuen Behandlungsmethode bestünde, wenn das Fußhebersystem vorrangig der Sicherung des Erfolges der Krankenbehandlung dienen würde, braucht hier nicht entschieden zu werden: Die Behandler des Klägers haben diesem das spezielle Fußhebersystem mehrmals (nur) verordnet, um diesem ein verbessertes Gangbild zu ermöglichen. Die Verwendung des Geräts im Trainingsmodus zur bloßen Simulation der einschlägigen Muskulatur ist nicht beabsichtigt gewesen oder beabsichtigt (vgl. Urteil des Senats vom 24. Oktober 2019 - L 1 KR 15/18 -, juris-Rdnr. 38, im Ergebnis ebenso für das gleiche System LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Juni 2018 - L 11 KR 1996/17 -, juris-Rdnr. 29f; LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 28. Juni 2018 - L 5 KR 183/17 -, juris-Rdnr. 44; Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 08. November 2018 - L 5 KR 21/18 -, juris-Rdnr. 31).

Die Kostenentscheidung erfolgt aus § 193 SGG. Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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