L 1 KR 338/17 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 15 KR 263/17 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 338/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 10. August 2017 aufgehoben und der Antrag des Antragstellers auf einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Antragsteller im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Gewährung von Medizinal-Cannabisblüten zu gewähren ist.

Der 1951 geborene und bei der Antragsgegnerin versicherte Antragsteller informierte sich am 17. Februar 2017 telefonisch bei der Antragsgegnerin wegen des Gesetzentwurfes zu Cannabis. Auf die Mitteilung, dass die Antragsgegnerin hierzu noch keine Auskünfte geben könne, erklärte der Antragsteller, dass er sich gegebenenfalls später noch einmal melden werde.

Am 13. März 2017 beantragte der Antragsteller telefonisch bei der Antragsgegnerin die Kostenübernahme für Cannabis. In diesem Telefonat teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit, dass eine Prüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen in Hessen (MDK) nötig sei und daher ein Arztfragebogen für den den Antragsteller behandelnden Arzt Dr. C. zugesandt werde. Mit Schreiben vom gleichen Tag bat die Antragsgegnerin - aufgrund ihrer Bindung an vorgegebene Fristen - den Antragsteller, dass er den Fragebogen seinem Arzt spätestens nach 3 Tagen übermittle.

Mit Schreiben vom 28. März 2017 teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit, dass mangels Vorlage der angeforderten Unterlagen der Antrag nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen abschließend bearbeitet werden könne. Er solle die angeforderten Unterlagen direkt an den MDK schicken. Die Entscheidung über den Antrag erhalte er innerhalb von 28 Tagen nach Eingang der Unterlagen beim MDK.

Am 30. März 2017 teilte der Antragsteller telefonisch mit, dass er im Hinblick auf seine Alkoholerkrankung schon 15 Jahre Selbsttherapie mit Cannabis mache. Er finde keinen Arzt für die von der Antragsgegnerin geforderten Unterlagen. Dr. C. sei schon abgesprungen. Er werde ein Gutachten aus dem Jahr 2010 einreichen. Die Antragsgegnerin erklärte ihm, dass sie aktuelle ärztliche Unterlagen benötige.

Mit Schreiben vom 4. April 2017 erklärte der Antragsteller gegenüber dem MDK, dass er Alkoholiker sei. Abgesehen von einem oder zwei Rückfällen – sei er seit ca. 15 Jahren abstinent. Seinen Drang zum Alkoholkonsum habe er in den letzten 15 Jahren in Eigentherapie mit Cannabis kompensiert. Im September 2016 sei sein Eigenanbau von der Polizei beschlagnahmt worden. Seitdem leide er vermehrt unter Stimmungswechsel (von aggressiver Hyperaktivität bis zu tiefer Niedergeschlagenheit) und schlechtem Schlaf. Die Distanz zu Alkohol verschwinde zunehmend. Er müsse erhebliche Energie aufwenden, um Alkoholgedanken aus seinem Kopf zu verbannen, was selten richtig gelinge. Es könne durchaus sein, dass er eine Weile weiterleben könne, ohne wieder alkoholrückfällig zu werden. Aber seine Lebensqualität sei erheblich gemindert durch erhöhten Stress und die ziemlich sichere Gewissheit, dass es irgendwann wieder zum Kontrollverlust kommen werde. Hiervor habe er Angst, was wiederum den Stress verstärke. Langfristig sei er bestrebt, alkoholabstinent leben zu können, ohne Hanfmedizin konsumieren zu müssen. Vor zwei Jahren habe er einen Selbstversuch mit Wein durchgeführt. Es sei ihm gelungen, nach dem Genuss von einem Glas Wein durch das Rauchen seiner Hanfmedizin den beginnenden Kontrollverlust zu beseitigen. Seinem Schreiben fügte der Antragsteller einen selbst ausgefüllten Arztfragebogen (Mustervorlage) bei. Darin gab er unter anderem an, dass ihm Cannabis-Blüten verordnet werden sollen, wobei die optimale Darreichungsformen und die Dosierung im Laufe der Therapie ermittelt werden müsse, da hierzu bisher keine Angaben möglich seien.

Ferner übersandte der Antragsteller dem MDK eine ärztliche Bescheinigung des Allgemeinmediziners Dr. D. vom 10. April 2017, worin dieser bescheinigte, dass dem Antragsteller, der sich neu in seiner ärztlichen Behandlung befinde, der Selbstanbau von Cannabis nicht mehr möglich sei und daher die Genehmigung einer Cannabisverordnung beantragt werde. Ferner reichte der Antragsteller eine Bescheinigung von Dr. E. vom Suchthilfezentrum E-Stadt vom 1. Dezember 2010 ein, der bestätigte, dass Tetrahydrocannabinol (THC) aus fachlicher Sicht in Einzelfällen durchaus geeignet sei, das alkoholtypische Craving beherrschbar zu machen. THC könne über das Medikament Dronabinol oral verabreicht werden. In dem darüber hinaus vorgelegten Gutachten nach Aktenlage vom 4. Oktober 2010 berichtete Dr. F. über positive Studien über Cannabiskonsum bei Alkoholkrankheit. Der Antragsteller habe ihm gegenüber angegeben, dass er seit seinem 19. Lebensjahr täglich Alkohol konsumiert und seit 1996 eine Vielzahl von Versuchen des Alkoholentzugs unternommen habe, zum Teil allein, zum Teil unter Inanspruchnahme offizieller Hilfsangebote für Alkoholkranke wie Selbsthilfegruppen, Ärzte und Psychotherapeuten. Er habe über ein dreiviertel Jahr eine ambulante Psychotherapie durchgeführt. Auch habe er verschiedene Medikamente eingenommen (Zoloft, Citalopram, etc.). All diese Bemühungen hätten nicht zu dem gewünschten Erfolg geführt. Im Jahr 2002 habe er eine stationäre Entgiftung durchführen lassen. Eher zufällig habe er dann die Erfahrung gemacht, dass Cannabis ihm dabei helfe, abstinent zu bleiben. Mit Hilfe des selbstangebauten Cannabis sei es ihm gelungen, abstinent zu bleiben und ein stabiles Leben zu führen. Je nach Lebenssituation brauche er Cannabis nicht regelmäßig einzunehmen. Cannabis besitze – so der Antragsteller - jedoch die wichtige Eigenschaft, den "Saufdruck" in kritischen Situationen innerhalb weniger Minuten zum Verschwinden zu bringen. Die legalen Medikamente würden erst nach längerer Einnahmezeit wirken, ihre Wirksamkeit sei nicht sicher und sie besäßen ein Abhängigkeitspotenzial. Im Jahr 2008 sei sein Cannabis beschlagnahmt worden. Er sei wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt worden. Es sei bereits einmal ein Rückfall in den Alkoholkonsum aufgetreten. Dr. F. führte aus, dass diese Angaben des Antragstellers zu den an sich selbst beobachteten therapeutischen Effekten von Cannabis auf der Basis der wissenschaftlichen Datenlage nachvollziehbar seien. In dem Befundbericht vom 30. November 2010 führte der Allgemeinmediziner G. aus, dass der Antragsteller ein Alkoholproblem angegeben habe, welches in den letzten Jahren kompensiert gewesen sei. Er habe über ein fibromyalgisches Beschwerdebild und über Tinnitus geklagt. Unter THC würden seine Beschwerden sich bessern. Eine Blutuntersuchung am 14. April 2010 habe einen altersentsprechenden Befund ergeben. Nach den Angaben des Antragstellers habe dieser im Mai 2010 einen Rückfall mit Apfelwein gehabt. Die versuchsweise Gabe von Amitriptylin 10 mg sei von dem Antragsteller aufgrund der Nebenwirkungen nicht toleriert worden. Der Antragsteller habe ihm gegenüber von der früheren Einnahme verschiedener Psychopharmaka berichtet, welche ihn nie deutlich vom Alkohol haben distanzieren lassen.

In seiner MDK-Stellungnahme vom 13. April 2017 führte Dr. H. aus, dass aufgrund der vorgelegten Unterlagen nicht mit der wünschenswerten Klarheit bestätigt werden könne, dass eine schwerwiegende Erkrankung vorliege, wegen der Dronabinol eingesetzt werden solle. Ferner wurde darauf verwiesen, dass eine Verordnung bisher nicht ausgestellt worden sei und die Voraussetzungen gemäß § 31 Abs. 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) nicht vorlägen. Insoweit fehle es an einer entsprechend differenzierten Begründung und der Vorlage der relevanten Dokumentation. Auf der Grundlage der übermittelten Unterlagen verbiete sich eine Benennung von Alternativen.

Mit Bescheid vom 18. April 2017 lehnte die Antragsgegnerin unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des MDK die beantragte Versorgung ab. Cannabisprodukte könnten nur in besonderen Ausnahmefällen mit Kassenrezept verordnet werden. Aufgrund der Gesetzesänderung sei dies für schwerstkranke Patienten möglich, wenn durch die Behandlung eine Verbesserung der Symptome oder des Krankheitsverlaufs zu erwarten sei und keine andere vertragliche Therapie zur Anwendung kommen könne. Diese Voraussetzungen lägen beim Antragsteller nicht vor.

Hiergegen erhob der Antragsteller Widerspruch. Er befinde sich ohne Cannabis in einer permanenten Notsituation, da er nichts habe, womit er einen möglichen Kontrollverlust im Hinblick auf seine Alkoholkrankheit stoppen könne. Er legte eine Stellungnahme von Dr. D. vom 24. April 2017 bei, in welcher dieser darauf hinwies, dass bei einer Alkoholkrankheit eine schwerwiegende Erkrankung mit Anspruch auf Versorgung von Cannabis vorliege. Der Antragsteller habe seine Alkoholkrankheit bislang mit Cannabis erfolgreich behandelt und weitere Rückfälle vermeiden können. Nunmehr drohe ein Rückfall der Alkoholkrankheit, welche durch die Verordnung von Cannabinoiden abgewendet werden könne. Es bestehe somit eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.

Nach Vorlage der weiteren ärztlichen Bescheinigungen führte Dr. H. in der MDK-Stellungnahme vom 11. Mai 2017 aus, dass eine schwerwiegende Erkrankung bei dem Antragsteller vorliege, weshalb eine Therapie notwendig sei. Zur Diagnose, Behandlung und Rückfallprophylaxe alkoholbezogener Störungen seien differenzierte Empfehlungen erarbeitet worden, welche den Leitlinien zu entnehmen seien. Entzugserscheinungen seien als kurzfristig auf Absetzen oder Dosisreduktion eines längerfristigen Alkoholkonsums auftretende Symptome von Rückfällen als erneuter Alkoholkonsum nach einer Phase der Abstinenz zu unterscheiden. Dem Antragsteller dürfe eine suffiziente Therapie mit entsprechend begleitender Verlaufskontrolle bzw. mit Maßnahmen zur Rückfallprophylaxe nicht vorenthalten werden. Anhand der übermittelten Unterlagen seien die aktuelle Therapie und der aktuelle Verlauf nicht nachvollziehbar. Zudem sei eine fundierte Risikoabwägung der Anwendung von Cannabis unter Berücksichtigung der im Fall des Antragstellers vorliegenden Konstellation nicht übermittelt worden. Die Ausführungen, dass der Antragsteller sich über Jahre selbst mit Cannabis erfolgreich behandelt habe und dadurch weitere Rückfälle habe vermeiden können, sei hierzu jedenfalls nicht hinreichend.

Am 18. Mai 2017 hat der Antragsteller bei dem Sozialgericht Gießen einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt. Vor dem Beginn seiner Eigentherapie habe er verschiedene Therapieversuche unternommen, unter anderem in Form von Psychotherapie und durch die Einnahme des Medikaments Zoloft. Im November 2002 habe er eine Entgiftung in der Klinik in E-Stadt durchgeführt. Im Mai 2010 sei es zu einem einmaligen Rückfall gekommen. Cannabisblüten benötige er nicht dauerhaft, sondern nur bei aufkommendem Drang, Alkohol zu konsumieren. Dronabinol sei dann in seiner Wirkung zu langsam. Es sei ihm nicht zumutbar, auf eine endgültige gerichtliche Entscheidung zu warten. Er verfüge über keine finanziellen Mittel und beziehe neben seiner Rente Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII).

Er hat eine Bescheinigung des Landkreises Gießen vom 24. Juni 2010 über seine Teilnahme in der Abstinenzgruppe in der Zeit vom Januar 2003 bis Februar 2010 vorgelegt. Darin geht der Dipl.-Sozialarbeiter J. davon aus, dass der Antragsteller in dieser Zeit nicht rückfällig geworden sei. Ferner hat der Antragsteller einen Befundbericht von Dr. K., Facharzt für Psychiatrie, vom 3. September 2010 übersandt, wonach dieser den Antragsteller am 20. Februar 2009 und 3. September 2010 behandelt und diagnostiziert habe: Rezidivierende depressive Störung (F33.9), Abhängigkeitssyndrom bei Alkoholgebrauch (F10.2), schädlicher Gebrauch von Cannabinoiden (F12.1). Eine von ihm verordnete Medikation mit Citalopram habe der Antragsteller wegen unerwünschter Wirkungen (Schwindel und Übelkeit) nicht weiter fortgesetzt. Der Empfehlung einer stationären Behandlung seiner Suchterkrankung habe der Antragsteller nicht nachkommen können. Auf Anfrage des Sozialgerichts hat Dr. K. unter dem 11. Juli 2017 darüber hinaus angegeben, dass der Antragsteller als Beschwerden geäußert habe: "Depressive Verstimmungen/Herbsttief. Suchtdruck, gegen den er Cannabis konsumiere." Eine psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung sei nicht zustande gekommen.

Mit Schreiben vom 13. Juni 2017 hat der Antragsteller den Beschluss des Amtsgerichts Gießen vom 22. Mai 1996 vorgelegt, mit welchem durch einstweilige Anordnung die vorläufige Unterbringung des Antragstellers in einer geschlossenen Einrichtung angeordnet worden ist. Daraus geht hervor, dass dem Antragsteller eine organische Psychose nach Alkoholentzug mit deliranter Symptomatik bescheinigt worden ist.

Dr. D. hat in weiteren Stellungnahmen (14. Juni 2017, 30. Juni 2017 und 6. Juli 2017) angegeben, dass er den Antragsteller seit dem 6. April 2017 behandle. Bei dem Antragsteller liege eine Alkoholkrankheit vor, welche bekanntlich ein Leben lang bestehe. Die Erkrankung sei schwerwiegend. Der Antragsteller habe sich seinerzeit bewusst gegen eine stationäre Entzugsbehandlung entschieden. Dies sei aus ärztlicher Sicht durchaus nachvollziehbar, da die Rückfallquote bekanntlich enorm sei. Er habe seine Alkoholsucht über Jahre mit Cannabisprodukten gut kompensiert. Die medizinische Indikation für eine Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung liege vor. Es gäbe keinen medizinischen Grund, die jahrelang problemlos durchgeführte erfolgreiche Substitution einer Alkoholkrankheit mit Cannabinoiden jetzt zu unterbinden. Der Antragsteller habe berichtet, dass es aufgrund der nun fehlenden Therapie zu Schlafstörungen und Angstzuständen komme. Ferner sei ein Gewichtsverlust von 10 kg eingetreten. Der Zustand des Antragstellers ohne Cannabis sei zunehmend verschlechtert, ein Rückfall sei nicht auszuschließen. Eine weitere Therapie mit Medizinal-Cannabisblüten sei dringend erforderlich. Es bestünde eine naheliegende positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf durch die Therapie mit Medizinal-Cannabisblüten. Alternativen stünden nicht zur Verfügung. Da der Antragsteller Cannabinoide nur bei akuten Entzugssymptomen bzw. Rückfallgefahr verwende, sei er auf einen schnellen Wirkeintritt angewiesen. Dies sei bei Dronabinol oder Nabilon nicht gegeben. Der Genehmigungsantrag auf Medizinal-Cannabisblüten sei im Einzelfall nach begründeter Einschätzung unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen, unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes und daher nicht zur Verfügung stehender allgemeiner Behandlungsmöglichkeiten gestellt worden. Bei den anderen Behandlungsmethoden sei die Rückfallgefahr enorm. Kontraindikationen bestünden nicht.

Auf Nachfrage des Sozialgerichts hat Dr. F. mitgeteilt, dass er keine Unterlagen zum Antragsteller habe. Unter dem 29. Juni 2017 hat der Allgemeinmediziner G. angegeben, dass er den Antragsteller vom 13. April 2010 bis 7. März 2012 behandelt habe; ferner sei es am 21. März 2017 zu einem einmaligen Kontakt gekommen. Bei dem Antragsteller liege eine abhängige Persönlichkeit vor; dies sei eine schwere Erkrankung. 2012 sei vom Suchthilfezentrum in E-Stadt eine Therapie mit Sativex eingeleitet worden, über deren Erfolg er keine Rückmeldung bekommen habe. 2010 sei die Durchführung einer Entgiftungstherapie mit anschließender Langzeittherapie gemäß der Leitlinien angeboten worden.

Unter dem 28. Juli 2017 hat Dr. D. dem Antragsteller eine Verordnung für Cannabisblüten Bedrocan 10 g, Pedanios 8/8 10 g, Pedanios 22/1 täglich 0,5 – 2 Gramm nach Bedarf "nach Genehmigung der Kasse" ausgestellt. Auf Nachfrage des Sozialgerichts hat Dr. D. angegeben, dass auch für Pedanios 22/1 eine Verordnung von 10 g erfolgt sei. Die verordnete Gesamtdosis von 30 g sei als maximale Monatsdosis vorläufig ausreichend.

Die Antragsgegnerin hat eingewandt, dass es an der Dokumentation schwerwiegender Symptome sowie einer suffizienten Therapie mit entsprechender Verlaufskontrolle fehle. Maßnahmen zur Rückfallprophylaxe seien nicht dargelegt worden. Ferner fehle es an einer fundierten ärztlichen Risikoabwägung. Dronabinol sei zudem günstiger als Medizinal-Cannabisblüten. Auch sei dem Antragsteller ein Abwarten des Hauptsacheverfahrens zumutbar. Er habe nicht glaubhaft gemacht, dass in gesundheitlicher Hinsicht schwere, nicht zu behebende Gesundheitsschäden drohten bzw. akute Lebensgefahr bestünde. Sie hat die MDK-Stellungnahmen vom 28. Juli 2017 und 2. August 2017 vorgelegt, nach welchen die Voraussetzungen gemäß § 31 Abs. 6 SGB V weiterhin nicht erfüllt seien. Insbesondere sei aufgrund der vorgelegten Unterlagen nicht nachvollziehbar, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung stehe oder im Einzelfall nicht zur Anwendung kommen könne. Darüber hinaus liege eine fundierte Risikoabwägung weiterhin nicht vor. Eine schwere Alkoholkrankheit sei als schwere Abhängigkeitserkrankung adäquat zu behandeln. Insoweit sei auf die dem medizinischen Standard entsprechenden Leistungen (Entgiftung, Entwöhnung), die regelhaft zur Anwendung kommen sollten, zu verweisen. Auch bei Cannabisabhängigkeit sei das Behandlungsziel die Abstinenz.

Mit Beschluss vom 10. August 2017 hat das Sozialgericht im Wege der einstweiligen Anordnung die Antragsgegnerin verpflichtet, den Antragsteller bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache mit Medizinal-Cannabisblüten der Sorte Bedrocan in der maximalen Monatsdosis von 10 g, der Sorte Pedanios 8/8 in der maximalen Monatsdosis von 10 g und der Sorte Pedanios 22/1 in der maximalen Monatsdosis von 10 g zu versorgen. Zur Begründung hat es ausgeführt:

"Die einstweilige Anordnung ist zur Abwendung wesentlicher Nachteile erforderlich. Denn der Antragsteller ist seit vielen Jahren trockener Alkoholiker. Er hat glaubhaft dargelegt, dass er dem Drang Alkohol zu konsumieren, durch den Konsum von Cannabisblüten entgegenwirken kann. Seitdem er kein Cannabis mehr zur Verfügung habe, verspüre er einen vermehrten Drang nach Alkohol, leide unter Stimmungswechseln und Schlafstörungen. Eine solche Verschlechterung der gesundheitlichen Situation hat der behandelnde Hausarzt Dr. D. bestätigt. Ein Rückfall im Rahmen der bestehenden Alkoholkrankheit stellt einen erheblichen Nachteil dar, der es dem Antragsteller nicht zumutbar erscheinen lässt, eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Ein Aufrechterhalten der bisher durchgeführten Eigentherapie unter Verstoß gegen strafrechtliche Normen ist ihm ebenso wenig zuzumuten, wie eine vorläufige Übernahme der Kosten für eine Therapie mit Medizinal-Cannabisblüten aus eigenen Mitteln. Der Antragsteller bezieht neben seiner Rente Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums nach dem SGB XII. Ebenso ist ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Das Bestehen eines Anspruchs in der Hauptsache hält das Gericht nach summarischer Prüfung zumindest für sehr wahrscheinlich. Nach summarischer Prüfung ist die beantragte Genehmigung gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 und 2 SGB V zu erteilen.

Nach § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn

1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung a) nicht zur Verfügung steht oder b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann

2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.

Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist (§ 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V). Der Antragsteller hat das Vorliegen der Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V glaubhaft gemacht. Einen begründeten Ausnahmefall im Sinne von § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V, der die Ablehnung der Genehmigungserteilung rechtfertigen würde, hat die Antragsgegnerin nicht dargetan. Bei der Alkoholkrankheit des Antragstellers handelt es sich um eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne des § 31 Abs. 6 SGB V (vgl. Stellungnahme des MDK vom 11. Mai 2017, Bl. 67 d. VerwA; Stellungnahme Dr. D. v. 14. Juni 2017, Bl. 126 d.A.). Zwar macht die Antragsgegnerin geltend, schwerwiegende Symptome seien nicht dokumentiert. Dies dürfte jedoch an der in den vergangenen 15 Jahren erfolgten Selbsttherapie des Antragstellers liegen, weshalb eine medizinische Behandlung mit entsprechender Dokumentation nicht erfolgte. Überdies scheint fraglich, inwiefern dies überhaupt zu einer Verneinung einer schwerwiegenden Erkrankung führen kann. Jedenfalls hat aber der Antragsteller eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes geltend gemacht, seit ihm kein Cannabis mehr zur Verfügung steht (erhöhter Alkoholdrang, psychische Belastung, Schlafstörung, Gewichtsverlust), wovon ebenso Dr. D. berichtet hat (Bl. 107 d.A.). Insbesondere beim Alkoholdrang dürfte es sich um ein schwerwiegendes Symptom im Rahmen der Alkoholkrankheit handeln. Vorliegend ist nach summarischer Prüfung davon auszugehen, dass zumindest nach begründeter vertragsärztlicher Einschätzung im Einzelfall unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen nicht zur Anwendung kommen können (§ 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b SGB V). Dies hat Herr Dr. D. in seinen Stellungnahmen bestätigt. Die Antragsgegnerin sieht die Angaben von Dr. D. als nicht hinreichende Risikoabwägung an. Eine solche hat Dr. D. jedoch vorgenommen und seine vertragsärztliche Einschätzung begründet. Er hat ausdrücklich angegeben, dass er die Cannabis-Therapie im Einzelfall nach begründeter Einschätzung unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen befürwortet. Er hat angegeben, die Rückfallquote im Falle anderer Behandlungsmethoden sei enorm. Es gebe keinen medizinischen Grund, die jahrelang problemlos durchgeführte erfolgreiche Substitution einer Alkoholkrankheit mit Cannabinoiden jetzt zu unterbinden (Bl. 80 d.A.). Diese Einschätzung wird untermauert durch die weiteren medizinischen Unterlagen. Aus diesen geht hervor, dass der Antragsteller – wenn auch vor vielen Jahren – bereits anderweitige Behandlungsversuche unternommen hat. Weder Medikamente (Amitriptylin, Sativex, Citalopram) noch eine psychologische Behandlung konnten ihm ausreichend helfen oder die Behandlungen waren mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden (vgl. Bl. 7, 63, 106, 128 d.A). Kontraindikationen hat Dr. D. ausdrücklich verneint (Bl. 122 d.A.). Zwar hat Dr. K. im Jahr 2010 "Abhängigkeitssyndrom bei Gebrauch von Cannabinoiden" diagnostiziert, dies wurde jedoch durch den aktuell behandelnden Arzt nicht bestätigt. In diesem Zusammenhang dürfte jedenfalls allein der regelmäßige Konsum von Cannabinoiden auch nicht als Ausschlussgrund in Frage kommen, da eine Cannabis-Medikation dann denklogisch immer ausgeschlossen wäre. Schädliche Nebenwirkungen trotz Cannabiskonsums sind bisher nicht dokumentiert. Vielmehr hat Herr G. in Kenntnis dieses Konsums berichtet, eine Blutuntersuchung im Jahr 2010 habe einen altersentsprechenden Befund ergeben, vor allem auch bezüglich der Leber, Schilddrüsen- und Stoffwechselwerte. Der Antragsteller habe sich in einem strukturierten und körperlich guten Zustand vorgestellt (Bl. 7, 106 d.A.). In diesem Zusammenhang ist zudem zu berücksichtigen, dass der Antragsteller keine Versorgung mit Cannabisblüten zum dauerhaften Konsum begehrt. Dr. D. hat angegeben, er benötige diese lediglich in akuten Situationen mit Suchtdruck. Soweit sich die Frage nach einer weniger kostenintensiven Therapie mit Dronabinol oder Nabilon stellt, weist auch Dr. D. darauf hin, dass der Beschwerdeführer Cannabisblüten nur bei akuten Entzugssymptomen/akuter Rückfallgefahr verwende und nicht dauerhaft. Daher sei er auf einen schnellen Wirkeintritt angewiesen, welcher bei Dronabinol oder Nabilon nicht gegeben sei (Bl. 107 d.A.). Da bereits die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b SGB V erfüllt sind, kommt es nicht darauf an, ob allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlungsmethoden allgemein nicht zur Verfügung stehen (§ 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a SGB V). Schließlich hat der Antragsteller auch die weitere Voraussetzung des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 SGB V glaubhaft gemacht. Nach summarischer Prüfung besteht eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome. Der Antragsteller hat überzeugend dargelegt, dass er durch den Konsum von Cannabisblüten den akuten Drang nach Alkohol kompensieren kann. Demgegenüber gibt er an, seitdem ihm kein Cannabis mehr zu Verfügung stünde, habe sich sein Allgemeinzustand verschlechtert. Dies hat Dr. D. bestätigt (Bl. 63 f. d. VerwA, Bl. 107, 125 d.A.). Darüber hinaus bestätigen Dr. F. sowie Dr. E., dass der Wirkstoff THC – jedenfalls in Einzelfällen – positive Auswirkungen auf eine Alkoholerkrankung haben kann (Bl. 5, 8 ff. d.A.). Soweit Dr. F. im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens angegeben hat, den Antragsteller nicht behandelt zu haben, dürfte dies darauf zurückzuführen sein, dass er das Gutachten nach Aktenlage auf Basis von telefonischem sowie E-Mail-Kontakt mit dem Antragsteller erstellt hat. Eine Behandlung hat demnach nicht stattgefunden. Einen begründeten Ausnahmefall, der eine Ablehnung rechtfertigen könnte, hat die Antragsgegnerin nicht dargelegt, noch ist ein solcher ersichtlich."

Die Antragsgegnerin hat gegen den ihr am 23. August 2017 zugestellten Beschluss am 5. September 2017 vor dem Hessischen Landessozialgericht Beschwerde eingelegt und zur Begründung vorgebracht, dass weder ein Anordnungsanspruch noch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht worden sei. Die Voraussetzung gemäß § 31 Abs. 6 SGB V lägen nicht vor. Der Antragsteller habe insbesondere nicht glaubhaft gemacht, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung stünde. Es sei allgemein anerkannt und in den MDK-Gutachten aufgeführt, dass bei einer Alkoholabhängigkeit die Entgiftung und Entwöhnung mit begleitenden und anschließenden (Psycho-)Therapien im Vordergrund stünden. Warum diese vertraglichen Alternativen nicht zur Anwendung kommen könnten, werde – auch durch die behandelnden Ärzte – nicht glaubhaft gemacht. Zudem würden weder zu erwartende Nebenwirkungen der Cannabisblüten genannt, noch die Nebenwirkungen und der Krankheitszustand des Antragstellers in Abwägung zu den vertraglichen Alternativen gebracht. Ärztliche Unterlagen würden trotz der vorgetragenen (gescheiterten) Entzugsaufenthalte nicht zur Abwägung genutzt. Auch fehle es an jedweder anderweitiger Medikation. Es könne nicht ausreichen, dass die Schilderung der fehlenden Wirksamkeit der Medikamente bei anderen Mitgliedern der Selbsthilfegruppe des Antragstellers dazu führten, dass der Antragsteller und dessen Ärzte sich einer Gabe von Medikamenten zu Entgiftung und Entwöhnung des Alkohols und gegebenenfalls Unterstützung der (psychischen) Entzugstherapie verweigerten. Die von Dr. K. diagnostizierte Cannabisabhängigkeit werde von den Ärzten wie auch vom Sozialgericht nicht ausreichend berücksichtigt. Der langjährige Cannabiskonsum und dessen mögliche Folgen würden nicht einmal erwähnt. Ausweislich der klinisch-wissenschaftlichen Studienlage seien neben organmedizinischen und neurokognitiven Beeinträchtigungen vor allem psychische Belastungen nach häufigem Cannabiskonsum festzustellen. Ferner weist die Antragsgegnerin darauf hin, dass mit der Cannabis-Medikation nicht die Alkoholsucht als Erkrankung geheilt werden solle, sondern der Antragsteller davon berichte, dass er – ohne ärztliche Aufsicht – ein vermindertes Trinkverlangen habe. Insoweit sei auch durch den langjährigen Konsum von Cannabis die Alkoholsucht nicht geheilt worden. Schließlich reiche es nicht aus, dass der Arzt für seine Risikoabwägung nur bestätige, dass es dem Antragsteller gerade schlechter gehe und dies nach den Angaben des Antragstellers auf die fehlende Medikation von Cannabis zurückzuführen sei. Dass es dem Antragsteller schlechter gehe, könne viele Gründe haben, insbesondere die fehlende vertragliche Therapie seiner Erkrankung. Die gesundheitliche Verschlechterung auf das fehlende Cannabis zurückzuführen, sei rein hypothetisch und entbehre der ärztlichen Sorgfalt. Mithin fehle es an einer Abwägung gemäß § 31 Abs. 6 SGB V.

Die Antragsgegnerin beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 10. August 2017 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Der Antragsteller beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.

Er hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend. Er hat vorgetragen, dass die erste Entgiftung im Jahre 1996 in Eigenregie stattgefunden und mit der Einlieferung in die psychiatrische Klinik geendet habe. Der zweite Entzugsaufenthalt im November 2002 habe acht Tage gedauert und der reinen körperlichen Entgiftung unter ärztlicher Aufsicht gedient. Die beiden Entgiftungen seien nicht gescheitert, die wirkliche Arbeit beginne jedoch erst danach durch das Aufrechterhalten der Abstinenz. In den fast sechs Jahren zwischen der ersten und der zweiten Entgiftung habe er nahezu alle Möglichkeiten ausprobiert, die es offiziell als Hilfe gegen Alkoholsucht gebe. Erst nach der Entgiftung im Jahr 2002 und dem Beginn der Eigentherapie mit Cannabis-Medizin habe er stabil alkoholabstinent bleiben können. Zudem habe er gelernt, die mit Dauerschmerzen verbundenen Rückenleiden mit Hilfe der Cannabis-Medizin zu behandeln. Auch einen Nikotin-Entzug habe er so durchführen können. Es treffe nicht zu, dass er eine andere Behandlung verweigern würde. Die Schädlichkeit von Alkohol mit Cannabis-Medizin zu vergleichen, sei geradezu absurd. Eine Heilung der Alkoholsucht sei nicht möglich. Vielmehr habe sich die Qualität seiner Alkoholerkrankung nach der langen Abstinenz geändert. Jetzt könne ein kleiner Anlass der Auslöser für einen Kontrollverlust sein, der zum Vollrausch führe. Dadurch habe sich die Gefährlichkeit der Alkoholerkrankung erhöht. Die Cannabis-Medizin schütze ihn zu 100 % vor einem Rückfall. Der Wegfall dieser Sicherheit führe zu einer psychischen Belastung, die seine Lebensqualität erheblich mindere.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin, die Gegenstand der Entscheidung waren, Bezug genommen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet. Zu Recht hat die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 18. April 2017 den Antrag des Antragstellers abgelehnt. Der Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 10. August 2017 war daher aufzuheben und der Antrag abzulehnen.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung in Form der Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) setzt voraus, dass eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies bedingt, dass dem Antragsteller ohne eine entsprechende Regelung schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, sodass ihm das Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache nicht zugemutet werden kann (Anordnungsgrund) und ihm aufgrund der glaubhaft gemachten Tatsachen bei Prüfung der Rechtslage ein materiell-rechtlicher Anspruch auf die begehrte Handlung bzw. Unterlassung zusteht (Anordnungsanspruch). Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG glaubhaft zu machen. Die Glaubhaftmachung bezieht sich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG-Kommentar, 12. Aufl., § 86b Rdnrn. 16b, 16c). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen dabei nicht isoliert nebeneinander. Vielmehr verhalten sich beide in einer Wechselbeziehung zueinander, nach der die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Hessisches LSG, Beschlüsse vom 21. Dezember 2009, L 4 KA 77/09 B ER und vom 21. März 2013, L 1 KR 32/13 B ER; Keller, a.a.O., § 86b Rn. 27 und 29, 29a m.w.N.). Wäre eine Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Wäre eine Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen solchen verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich ist, hat das Gericht im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sind die Voraussetzungen zum Erlass einer einstweiligen Anordnung vorliegend nicht gegeben.

Ein Anordnungsanspruch ist nicht glaubhaft gemacht. Ein Anspruch auf die geltend gemachte Versorgung folgt nicht aus einer fiktiven Genehmigung gemäß § 13 Abs. 3a SGB V. Diese Norm ist zwar auch hinsichtlich § 31 Abs. 6 SGB V anwendbar (so ausdrücklich BT-Drucks. 18/8965 S. 25; ebenso LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27. Juli 2017, L 5 KR 140/17 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4. September 2017, L 1 KR 305/17 B ER; SG Trier, Beschluss vom 4. September 2017, S 3 KR 143717 ER). Der Bescheid der Antragsgegnerin vom 18. April 2017 ist jedoch nicht erst nach Ablauf der 3- bzw. 5-Wochenfrist gemäß § 13 Abs. 3a SGB V ergangen. Maßgeblich für den Fristbeginn ist der Eingang eines fiktionsfähigen Antrags bei der Antragsgegnerin. Der am 13. März 2017 bei der Antragsgegnerin telefonisch gestellte Antrag war nicht hinreichend bestimmt, so dass ein fiktionsfähiger Antrag nicht vorlag. Hierfür hätte es unter anderem der Angabe des Behandlungszieles bedurft (vgl. BSG, Urteil vom 11. Juli 2017, B 1 KR 26/16 R, juris, Rn. 18). Der Antragsteller hat jedoch lediglich eine Kostenübernahme für Cannabis beantragt. Erst durch seine Angaben mit Schreiben vom 4. April 2017 und der Vorlage medizinischer Unterlagen ist ersichtlich geworden, weshalb der Antragsteller die Cannabisversorgung beantragt. Ob am 4. April 2017 ein fiktionsfähiger Antrag vorlag, kann hier dahinstehen, da die Antragsgegnerin den Antrag bereits am 18. April 2017 und damit innerhalb von 3 Wochen beschieden hat.

Ein Anspruch auf die geltend gemachte Versorgung folgt auch nicht aus § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 SGB V in der Fassung vom 6. März 2017 (Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften, BGBl I 2017, 403, gültig ab 10. März 2017). Hiernach haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn (a) eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder (b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann und eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung, § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V.

Mit dem o.g. Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften soll Personen mit schwerwiegenden Erkrankungen (z.B. schwerwiegend erkrankte Schmerzpatienten, s. BT-Drucks. 18/8965 S. 13) nach entsprechender Indikationsstellung und bei fehlenden Therapiealternativen ermöglicht werden, die entsprechenden Arzneimittel zu therapeutischen Zwecken in standardisierter Qualität durch Abgabe in Apotheken zu erhalten. Zudem soll für Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung in eng begrenzten Ausnahmefällen ein Anspruch auf Versorgung mit diesen Arzneimitteln geschaffen werden (BT-Drucks. 18/8965, S. 23 und 18/10902, S. 2 sowie Bundesrat-Drucks. 233/16, S. 6 und 17). "Die Voraussetzung, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung im Einzelfall nicht zur Verfügung steht, entspricht grundsätzlich derjenigen in § 2 Absatz 1a Satz 1. Den betroffenen Versicherten soll im Rahmen der ärztlichen Behandlung eine Möglichkeit eröffnet werden, nach Versagen empfohlener Therapieverfahren einen individuellen Therapieversuch zu unternehmen; bei Erfolg sollte die längerfristige Gabe eines Cannabisarzneimittels erwogen werden. Die gesetzliche Voraussetzung bedeutet nicht, dass eine Versicherte oder ein Versicherter langjährig schwerwiegenden Nebenwirkungen ertragen muss, bevor die Therapiealternative eines Cannabisarzneimittels genehmigt werden kann. Eine Ärztin oder ein Arzt soll Cannabisarzneimittel als Therapiealternative dann anwenden können, wenn sie oder er durch die Studien belegten schulmedizinische Behandlungsmöglichkeiten auch unter Berücksichtigung von Nebenwirkungen im Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Krankheit, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eintreten werden, ausgeschöpft hat. Dabei sind von der Ärztin oder dem Arzt allerdings auch die Nebenwirkungen von Cannabisarzneimitteln zu berücksichtigen. Die ebenfalls aus § 2 Absatz. 1a Satz 1 bekannte Voraussetzung, dass eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestehen muss, wurde um die nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf schwerwiegende Symptome ergänzt, da auch Konstellationen erfasst werden sollen, in denen mit dem cannabishaltigen Arzneimittel keine Grunderkrankung adressiert werden soll. Denkbar sind beispielsweise Fälle in denen eine Versicherte oder ein Versicherter im Rahmen einer onkologischen Erkrankung mit Chemotherapie an Appetitlosigkeit und Übelkeit leitet. Auch in diesen Fällen muss jedoch eine besondere Schwere der Symptome vorliegen." (BT-Drucks. 18/8965, S. 24).

Hieraus folgt, dass nur eine entsprechend substantiierte Begründung des behandelnden Vertragsarztes den Anforderungen gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 b) SGB V genügt. Diese muss sich zum einen auf die schwerwiegende Erkrankung, den Krankheitsverlauf sowie die schwerwiegenden Symptome beziehen. Zum anderen ist detailliert darzulegen, weshalb eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung im Einzelfall unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann und eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. Ist die Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes im Wesentlichen auf die Wiedergabe des Gesetzeswortlautes beschränkt, liegt eine begründete ärztliche Einschätzung gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 SGB V nicht vor. Dies gilt auch dann, wenn der Arzt den Versicherten erst seit kurzer Zeit behandelt und seine Einschätzung sich lediglich auf Angaben des Versicherten sowie ärztliche Befundberichte über bereits Jahre zurückliegende Behandlungen stützt (zu den Anforderungen an die ärztlichen Darlegungen s.a. SG Düsseldorf, Beschluss vom 8. August 2017, S 27 K 698/17 ER, juris).

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist nicht dargetan, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann, § 31 Abs. 6 Satz 1 b) SGB V. Dr. D., der den Antragsteller erst seit dem 6. April 2017 behandelt, hat diesem keine anderen Vertragsleistungen angeboten. Er bezieht sich in seiner Einschätzung lediglich auf die Angaben des Antragstellers sowie auf Befundberichte von Ärzten, die den Antragsteller in den Jahren 2009 bis 2010 (Dr. K., Facharzt für Psychiatrie) bzw. 2010 bis 2012 (Allgemeinmediziner G.) behandelt haben. Eine stationäre Behandlung der Alkoholerkrankung des Antragstellers ist letztmalig im Jahr 2002 in der Vitos Klinik in Gießen erfolgt. Unterlagen hierzu hat der Antragsteller nicht vorgelegt und sind bei der Klinik nicht mehr vorhanden.

Weder die Alkoholerkrankung des Antragstellers noch dessen Abhängigkeit von Cannabis ist nach dem 7. März 2012 (letzter Behandlungstermin durch den Allgemeinmediziner G.) ärztlich behandelt worden. Erst unter dem 6. April 2017 hat sich der Antragsteller in die Behandlung von Dr. D. begeben. Hinsichtlich der zuvor erfolgten Behandlungen mit Medikamenten liegen nur wenige Angaben der behandelnden Ärzte vor. Nach dem Bericht des Mediziners G. hat der Antragsteller Amitriptylin im Jahr 2010 wegen Nebenwirkungen nicht toleriert. Dr. K. hat dies für das Jahr 2010 hinsichtlich Citalopram angegeben. Dr. D. hat die Angaben des Antragstellers hinsichtlich der Nebenwirkungen übernommen und keine weiteren in Betracht kommenden Medikamente (s. S3-Leitlinie "Sreening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen", Stand: 28. Februar 2016) aufgeführt. Darüber hinaus hat Dr. D. hinsichtlich der dem Antragsteller empfohlenen Entgiftungstherapie (G.) bzw. der stationären Behandlung der Suchterkrankung (Dr. K.) lediglich angegeben, dass die Rückfallgefahr bei alternativen Behandlungsmethoden enorm sei.

Damit liegt keine begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes Dr. D. dafür vor, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Antragstellers nicht zur Anwendung kommen kann.

Wie die Antragsgegnerin unter Bezugnahme auf die Stellungnahmen des MDK zu Recht vorträgt, liegen damit die Voraussetzungen gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V nicht vor. Somit kann vorliegend dahinstehen, ob aus § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V, wonach die Leistung bei der ersten Verordnung der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung bedarf, folgt, dass die Krankenkasse bei Vorliegen einer Verordnung darlegen und beweisen muss, dass eine Standardbehandlung gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V existiert bzw. geeignet ist (so Beck/Pitz in: jurisPK § 31 SGB V, Rn. 97.2).

Ein Anordnungsgrund ist ebenfalls nicht glaubhaft gemacht worden. Insbesondere hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht, dass ihm aus gesundheitlichen Gründen ein Abwarten der Entscheidung über den Widerspruch bzw. der Hauptsache nicht zumutbar sei. Wie bereits dargestellt, ist nicht ersichtlich, in welchem Ausmaß bei dem Antragsteller eine Alkoholerkrankung aktuell vorliegt. Auch ist nicht erkennbar, dass die Alkoholkrankheit des Antragstellers sowie die von ihm geschilderten Symptome (Schlafstörungen, Angstzustände und Gewichtsverlust) nicht durch Vertragsleistungen - insbesondere nach der o.g. S3-Leitlinie - entsprechend behandelt werden könnten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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