S 41 AS 1754/18

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Duisburg (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
41
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 41 AS 1754/18
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 845/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung eines Mehrbedarfs nach dem Sozialgesetzbuch II. Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) für die Einlagerung von Keimmaterial des Klägers.

Der am 21.01.19xx geborene Kläger lebt in Bedarfsgemeinschaft mit seinen Eltern und seinen minderjährigen Geschwistern und steht mit diesen im laufenden Bezug von Leistungen nach dem SGB II. Mit Bescheide vom 18.04.2017 und Änderungsbescheiden vom 15.05.2017, 17.07.2017, 05.09.2017 und 11.12.2017 bewilligte die Beklagte den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum Mai 2017 bis April 2018, wobei das für den Kläger gezahlte Kindergeld in Höhe von monatlich 192,00 EUR unter Absetzung einer Versicherungspauschale in Höhe von monatlich 30,00 EUR zunächst auf den Gesamtbedarf und seit dem Änderungsbescheid vom 05.09.2017 für die Zeit ab Oktober 2017 auf den Bedarf des Klägers angerechnet wurde.

Da der Kläger unter einem schweren Immundefekt leidet, ließ er im Jahr 2014 zwei Kno-chenmarktransplantation durchführen (vgl. ärztliche Bescheinigungen Bl. 38 f. und 49 d.A.). Da durch die vorbereitende Chemotherapie mit einer irreversiblen Schädigung der Hoden zu rechnen war (vgl. Bescheinigung der Universitätsklinik Bochum Bl. 38 d.A.), ließ der Kläger zuvor Keimmaterial bei der Fa. Cyrostore einlagern, wofür jährliche Kosten i.H.v. 297,50 EUR inklusive Mehrwertsteuer anfallen, die jeweils im Monat September fällig sind (vgl. Vertrag und Rechnungen Bl. 493 ff. der Leistungsakte). Nach Durchführung der ärztlichen Behandlungen wurde die Unfruchtbarkeit des Klägers ärztlich festgestellt (vgl. Auskunft Bl. 51 d.A.). Die entstehenden Kosten werden von der Krankenversicherung des Klägers nicht übernommen (siehe Bl. 33 f. d.A.). Am 06.10.2017 stellte der Vater des Klägers für diesen einen Antrag auf besondere Bedarfe für die Einlagerung des Keimmaterials in Höhe von 297,50 EUR jährlich. Dabei gab er an, sein Sohn sei aufgrund einer Chemotherapie und zweier Knochenmarkstransplantationen unfruchtbar gewor-den. Da dies vor Behandlungsbeginn schon absehbar gewesen sei, sei Sperma zur Erfüllung eines späteren Kinderwunsches kyrokonserviert worden (vgl. Bl. 491 ff. der Leistungsakte). Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 12.10.2017 ab, den sie damit begründete, der Kläger könne die Versicherungspauschale für das gezahlte Kindergeld einsetzen, weshalb der geltend gemachte Bedarf nicht unabweisbar sei. Gegen diesen Bescheid erhob der anwaltlich vertretene Kläger am 09.11.2017 Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18.04.2018 als unbegründet zurückwies. Hiergegen erhob der anwaltlich vertretene Kläger am 03.05.2018 Klage vor dem erkennenden Gericht.

Der Kläger trägt vor, der anfallende Bedarf sei ein laufender Bedarf, der erheblich von dem Bedarf anderer Leistungsempfänger abweiche. Der Bedarf sei auch unabweisbar, wenn dem Kläger die Möglichkeit belassen werden solle, Nachkommen zu zeugen. Die Härtefallregelung nach § 21 Abs. 6 SGB II solle für die Finanzierung von Hygieneartikeln, die Wahrnehmung des Umgangsrechts und Haushaltshilfen gewährt werden. Die Bedeutung dieser Bedarf trete erheblich hinter dem hier streitgegenständlichen Bedarf zurück.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 18.04.2017 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 15.05.2017, 17.07.2017, 05.09.2017 und 11.12.2017 und 12.10.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.04.2018 zu verur-teilen, dem Kläger einen Mehrbedarf in Höhe von jährlich 297,50 EUR für die Einlagerung seines Keimmaterials zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verweist auf den Widerspruchsbescheid. Der geltend gemachte Bedarf sei kein Bedarf im Sinne von § 21 Abs. 6 SGB II. Zudem lasse sich den Befundberichten nicht zweifelsfrei entnehmen, dass der Kläger durch die durchgeführte Chemotherapie seine Zeugungsfähigkeit eingebüßt habe.

Für das weitere Vorbringen der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Leistungsakte verwiesen. Diese sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1, Abs. 4 So-zialgerichtsgesetz [SGG]) ist in der Sache nicht begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten, § 54 Abs. 1, Abs. 2 SGG.

Die Gewährung eines Mehrbedarfs kann kein zulässiger isolierter Streitgegenstand eines gerichtlichen Verfahrens sein (vgl. BSG, Urteil vom 14.02.2013, Az.: B 14 AS 48/12 R; Urteil vom 26. Mai 2011 – B 14 AS 146/10 R –, BSGE 108, 235-241, SozR 4-4200 § 20 Nr 13, Rn. 14). Der Bescheid der Beklagten vom 12.10.2017 ist jedoch dahin auszulegen, dass mit ihm der als Änderungsantrag nach §§ 44, 48 SGB X zu verstehende Antrag des Klägers vom 06.10.2017 auf Änderung der zugrundeliegenden Bewilligungsbescheide vom 18.04.2017, 15.05.2017, 17.07.2017 und 05.09.2017 für den Monat der Fälligkeit der Forderung der Fa. Cyrostore, den Monat September 2017, abgelehnt wurde (vgl. dazu BSG, Urteil vom 14.02.2013, Az.: B 14 AS 48/12 R, Rn. 10 - juris). Die Vertretungsbefug-nis des Vaters des Klägers bei der Antragstellung ergibt sich dabei aus § 38 Abs. 1 SGB II, wonach vermutet wird, dass die den Antrag stellende Person bevollmächtigt ist, Leistungen nach dem SGB II auch für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen.

Dem Kläger steht der geltend gemachte Mehrbedarf nicht zu. Nach § 21 Abs. 6 S. 1 SGB II wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. § 21 Abs. 6 S. 2 SGB II bestimmt, dass der Mehrbedarf unabweisbar ist, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.

Zur Überzeugung der Kammer fällt der geltend gemachte Mehrbedarf grundsätzlich unter die Regelung des § 21 Abs. 6 SGB II. Nach der Gesetzesbegründung (BT Drucks 17/1465, S. 8 f.) kann ein besonderer Bedarf auftreten, weil die Regelleistung des § 20 SGB II auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ermittelt wird, es dieser statistischen Durchschnittsbetrachtung jedoch immanent ist, dass ein in Sondersituationen auftretender Bedarf nicht erfasst ist. Zwar soll die Regelung nach dem Willen des Gesetzgebers aufgrund der engen und strikten Tatbestandsvoraussetzungen auf wenige Fälle begrenzt sein. Grundlage der Schaffung dieser Härtefallregelung ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 (Az. 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - BVerfGE 125, 175 ff.), welches die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auch in vom Regelbedarf nicht erfassten Sondersituationen forderte. Zur Überzeugung der Kammer gehört es zu einem menschenwürdigen Existenzminimum, den Wunsch nach einer späteren Familiengründung durch Einlagerung von Keimmaterial sicherzustellen, wenn der Verlust der Zeugungsfähigkeit wie vor-liegend bevorsteht (vgl. zum Schutz der Familiengründung durch Art. 6 Abs. 1 GG BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1987 – 2 BvR 1226/83 –, BVerfGE 76, 1-83; vgl. auch Art. 12 EMRK). Aufgrund der eingeholten ärztlichen Befundberichte hat das Gericht keine Zweifel daran, dass der Kläger aufgrund der Chemotherapie wie zu erwarten war (vgl. Bl. 38 d.A.) seine Zeugungsfähigkeit verloren hat. Insbesondere bescheinigt die Urologische Praxisklinik Essen die Infertilität des Klägers mit Azoospermie als Folge der vorangegangenen Chemotherapie. Unter Azoospermie ist das vollständige Fehlen von Samenreifungszellen und Samenzellen im Ejakulat zu verstehen, so dass der Verlust der Zeugungsfähigkeit des Klägers vorliegend eindeutig ist. Jedoch ist der geltend gemachte Mehrbedarf nicht unabweisbar im Sinne des § 21 Abs. 6 S. 1, S. 2 SGB II. Denn dem Kläger stehen Einsparmöglichkeiten zur Verfügung, mit denen er den jährlichen Bedarf i.H.v. 297,50 EUR decken kann. Ausweislich des Bewilligungsbescheides vom 18.04.2017 und der Änderungsbescheide vom 15.05.2017, 17.07.2017, 05.09.2017 und 11.12.2017 setzte die Beklagte von dem für den volljährigen Kläger gezahlten Kindergeld gem. § 6 Abs. 1 Nr. 1 ALG-II-VO eine Versicherungspauschale in Höhe von monatlich 30,00 EUR ab. Da von den Kindern der Bedarfsgemeinschaft, für die Kindergeld gezahlt wird, lediglich der Kläger volljährig ist, betraf die Absetzung der Versicherungspauschale in das Kindergeld des Klägers, auch wenn sie mit den Bescheiden vom 18.04.2017, 15.05.2017 und 17.07.2017 noch von dem Gesamteinkommen der Bedarfsgemeinschaft und erstmals mit dem Bescheid vom 05.09.2017 ausdrücklich von dem Bedarf des Klägers abgesetzt wurde. Dem Kläger ist es zu Überzeugung der Kammer zuzumuten, den Betrag i.H.v. 30,00 EUR monatlich anzusparen, womit sich die jährlich an die Fa. Cyrostore zu zahlende Vergütung i.H.v. 297,50 EUR finanzieren lässt. Insoweit ist nach Ansicht der Kammer insbesondere maßgeblich, dass der Kläger, wie er in der mündlichen Verhandlung vom 21.03.2019 auf Befragen des Gerichts bekundet hat, tatsächlich keine Aufwendungen für Versicherungen hat, sodass er im Vergleich zu einem Leistungsberechtigten, dem keine Freibeträge oder die Versicherungspauschale zur Verfügung steht, in Höhe von monatlich 30,00 EUR bessergestellt ist. Zwar wird die Auffassung vertreten, dass Freibeträge aus Erwerbstätigkeit dem Leistungsberechtigten zu belassen sind (vgl. Behrend in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 21, Rn. 91). Dies ist jedoch zur Überzeugung der Kammer jedenfalls dann nicht zutreffend, wenn feststeht, dass Aufwendungen, die mit den gesetzlichen Freibeträgen abgegolten werden sollen, tatsächlich nicht anfallen. Angesichts des vom Gesetzgeber (vgl. BT Drucks 17/1465, S. 8 f.) vorgesehenen engen Anwendungsbereichs von § 21 Abs. 6 SGB II, der durch die Formulierung "unabweisbar" zur Überzeugung der Kammer hinreichend Niederschlag im Gesetzeswortlaut gefunden hat, ist der Kläger nach Ansicht der Kammer vielmehr gehalten, die ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden 30,00 EUR monatlich anzusparen und für den jährlich anfallenden Mehrbedarf einzusetzen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Kammer hat die Berufung nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, da die Sache grundsätzliche Bedeutung hat. Denn es erscheint nicht hinreichend höchst- oder ober-gerichtlich geklärt, ob der hier streitige Mehrbedarf unter § 21 Abs. 6 SGB II fällt und falls ja, ob ein Betroffener für die Finanzierung des Mehrbedarf jedenfalls dann auf Freibeträge oder – wie hier – die Versicherungspauschale nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 ALG-II-VO zu verweisen ist, wenn tatsächliche Aufwendungen für eine Erwerbstätigkeit oder Versicherungen nicht entstehen.
Rechtskraft
Aus
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