S 4 RA 537/03

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 4 RA 537/03
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 326/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob Beitragszeiten, die der Kläger in der UdSSR und deren Nachfolgestaaten zurückgelegt hat, nach dem Fremdrentengesetz (FRG) anzuerkennen sind.

Der 1937 in F-Stadt geborene Kläger ist jüdischer Abstammung. Er zog am 15.03.1993 aus Krasnogosk-Moskauer Gebiet zu und besitzt seit dem 28.03.2001 die deutsche Staatsbürgerschaft. In der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten war er als Arzt beschäftigt. Seit dem 01.09.2002 bezieht er eine Altersrente.

Am 23.10.2001 stellte er einen Antrag auf Kontenklärung bei der Beklagten. Er gab an, zu Beginn des 2. Weltkrieges habe er mit seinen Eltern im sowjetisch/polnischen Grenzgebiet in der Stadt C-Stadt gewohnt. Seine Familie und er seien 1941 vom Frontgebiet nach Osten in das Gebiet bei D. evakuiert worden. Bei der überstürzten Evakuierung aus C-Stadt habe der gesamte Hausstand zurückgelassen werden müssen. Dies betreffe auch Dokumente, Zeugnisse, Bücher oder sonstige Gegenstände, die Auskunft über die deutsche Abstammung seiner Familie geben könnten. Seine Eltern hätten miteinander sowohl jiddisch als auch deutsch – nur wenn keine Zeugen anwesend gewesen seien (besonders während der Kriegs- und Nachkriegszeit) – gesprochen. Sowohl sein Vater als auch seine Mutter seien in der Lage gewesen, deutsche Bücher, auch in gotischer Schrift, zu lesen und hätten ihm dies beigebracht. Nach dem Krieg hätten seine Eltern ihre deutsche Abstammung nach Möglichkeit geheim gehalten, weil sie damals Diskriminierung und Verfolgung befürchtet hätten. In einem Fragebogen vom 21.01.2002 gab der Kläger an, im persönlichen Bereich (insbesondere in der Familie) sei überwiegend jiddisch und deutsch und im Beruf russisch gesprochen worden.

Mit Bescheid 28.05.2002 stellte die Beklagte den Versicherungsverlauf fest und lehnt dabei eine Anerkennung der von dem Kläger in der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten zurückgelegten Beitrags- und Beschäftigungszeiten ab. Die Beklagte begründet das damit, es lägen weder die Voraussetzungen des § 17 a FRG noch diejenigen nach § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) vor. Der Kläger habe nicht dem deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) angehört.

Gegen den Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein, mit dem er unter Bezugnahme auf schriftliche Erklärungen von Zeugen geltend machte, er habe zum deutschsprachigen Judentum gehört. Er stamme aus eine jüdischen Familie, deren Vorfahren in Deutschland geboren worden seien. Seine Eltern hätten miteinander sowohl jiddisch als auch deutsch gesprochen. Er sei in einer mehrsprachigen Familie aufgewachsen, in der die deutsche Sprache, deutsche Literatur und deutsche Kultur genauso wie jiddisch gepflegt worden seien. Diese Tatbestände ließen sich nun schwer schriftlich beweisen, da während des 2. Weltkrieges alle Personalien verloren gegangen und seine Eltern seit langer Zeit verstorben seien. Die neben dem deutsch und jiddisch gleichzeitige Beherrschung der russischen Sprache in Wort und Schrift schließe seine Zugehörigkeit zum dSK während des Verlassen des Herkunftsgebiets nicht unbedingt aus, da bei mehrsprachigen Antragstellern geprüft werden müsse, wie hoch der Anteil der deutschen Sprache im Gesamtbereich der mündlichen und schriftlichen Kommunikation hinsichtlich des alltäglichen Sprachgebrauchs gewesen sei. Er könne sich nicht nur auf deutsch seit dem Kindesalter verständigen, sondern beherrsche dank seiner Eltern die deutsche Sprache in Wort und Schrift. Im Laufe der Zeit habe er sein Deutsch trotz aller Schwierigkeiten und Gefahren nicht nur behalten, sondern seinen Wortschatz weiterentwickelt, verbreitet und vertieft, indem er modernes Amtsdeutsch und medizinisches Fachdeutsch erlernt habe. Wegen weiterer Einzelheiten der Begründung wird auf die Schreiben des Klägers vom 17.08. und 31.08.2002 verwiesen.

Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24.02.2003 zurück. In dem Widerspruchsbescheid wird ausgeführt, F-Stadt habe seit September 1941 unter nationalsozialistischem Einfluss gestanden. Zu diesem Zeitpunkt sei der Kläger erst vier Jahre alt gewesen. Aufgrund des geringen Lebensalters zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Einflussnahme könne eine Zugehörigkeit zum dSK bei dem Kläger nicht bejaht werden. Im Alter von vier Jahren habe der Kläger noch über keinerlei Sprachkenntnisse verfügt. Der Kläger hat am 14.03.2003 Klage erhoben. Ergänzend zu seinem Vorbringen im Verwaltungsverfahren trägt er vor, die Beklagte behaupte grundlos, dass er mit vier Jahren kein Deutsch habe sprechen können, obwohl das Gegenteil nachgewiesen sei. Sein überwiegender Sprachgebrauch im Herkunftsgebiet im Zeitpunkt der nationalsozialistischen Einflussnahme sei deutsch gewesen. Die Mehrsprachigkeit schließe seine Zugehörigkeit zum dSK nicht unbedingt aus. Die Beklagte habe nicht beachtet, dass er im Alter von vier Jahren deutsch lesen, sprechen, aber noch nicht habe schreiben können. Er sei von seiner Mutter sowie der Haushälterin und zugleich auch Kinderfrau E. erzogen worden. Die beiden Frauen hätten mit ihm deutsch gesprochen. Die deutschsprachige Haushälterin habe ihm aus deutschen Kinderbüchern Märchen und Gedichte vorgelesen sowie auch deutsche Kinderlieder gesungen. Sie habe kein jiddisch sprechen können.

Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Bescheid der Beklagten vom 28.05.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.02.2003 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die von ihm in der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten zurückgelegten Beitrags- bzw. Beschäftigungszeiten deutschen Beitragszeiten gleichzustellen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich auf die Angaben des Klägers im Kontenklärungsverfahren. Der Kläger habe darin unbefangen, ohne weitere Rechtskenntnisse und daher glaubhaft erklärt, sowohl jiddisch als auch deutsch als persönlichen Sprachgebrauch im Herkunftsgebiet verwandt zu haben. Der Kläger habe nicht ausreichend glaubhaft gemacht, dass der überwiegende Sprachgebrauch im Herkunftsgebiet im Zeitpunkt der nationalsozialistischen Einflussnahme deutsch gewesen sei. Hierfür seien die von dem Kläger beigebrachten Zeugenerklärungen nicht geeignet, da es sich bei den Zeugen um Personen handele, die den Kläger erst in späteren Lebensjahren gekannt hätten bzw. die erst nach 1945 geboren worden seien. Ein späteres Hineinwachsen des Klägers in den dSK sei nicht ausreichend. Der Kläger habe zu Beginn des nationalsozialistischen Einflussbereichs dem dSK angehören müssen, so dass es ausschließlich auf die Zeit um 1941 ankomme.

Die Rentenakte der Beklagten war Gegenstand der Kammerberatung.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage, über die das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden durfte (vgl. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG -) ist zulässig, aber unbegründet.

Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass die von ihm in der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten zurückgelegten Beitrags- und Beschäftigungszeiten dem nach Bundesrecht zurückgelegten Zeiten gleichgestellt werden. Er erfüllt nicht die hierfür erforderlichen Voraussetzungen des § 17 a FRG. Danach finden die für die gesetzliche Rentenversicherung maßgebenden Vorschriften des Fremdrentengesetzes Anwendung auch auf Personen, die bis zu dem Zeitpunkt, in dem der nationalsozialistische Einflussbereich sich auf ihr jeweiliges Heimatgebiet erstreckt hat, dem dSK angehört haben, das 16. Lebensjahr bereits vollendet hatten oder im Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört haben und sich wegen ihrer Zugehörigkeit zum Judentum nicht zum deutschen Volkstum bekannt hatten, sowie die Vertreibungsgebiete nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes verlassen haben. Maßgeblich ist hier der Zeitpunkt von der Geburt des Klägers an bis zu der Evakuierung im Juli 1941, da F-Stadt ab September 1941 unter nationalsozialistischem Einfluss stand.

Der Kläger hat nicht glaubhaft gemacht, dass er in diesem Zeitraum dem dSK angehörte.

Für die Zugehörigkeit zum dSK kommt dem Gebrauch der deutschen Sprache ausschlaggebende Bedeutung zu. Denn wer eine Sprache im persönlichen Bereich ständig gebraucht, gehört nicht nur diesem Sprach-, sondern auch zu dem durch die Sprache vermittelten Kulturkreis, weil sie ihm dem Zugang zu dessen Weltbild und Denkwelt erschließt. Die Zugehörigkeit zum dSK ergibt sich daher im Regelfall aus dem zumindest überwiegenden Gebrauch der deutschen Muttersprache im persönlichen Bereich, der in erster Linie die Sphäre von Ehe und Familie, aber auch den Freundeskreis umfasst. Eine Mehrsprachigkeit steht der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis dann nicht entgegen, wenn die Person jüdischer Abstammung die deutsche Sprache wie eine Muttersprache beherrscht und sie im persönlichen Bereich überwiegend gebraucht hat (vgl. BSG-Urteil vom 16.08.1990 – 4 RA 18/89 – nicht veröffentlicht, BSG in SozRecht 3 – 5070 § 20 WGSVG Nrn. 1 und 2). Die danach maßgeblichen Tatsachen müssen nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen, sondern nur überwiegend wahrscheinlich – glaubhaft - im Sinne des § 4 Abs. 1 FRG sein.

Die Kammer hat sich nicht davon überzeugen können, dass eine solche überwiegende Wahrscheinlichkeit vorliegt. Zeugen, die den Vortrag des Klägers, es sei in der Familie überwiegend deutsch gesprochen worden, bestätigen können, sind keine mehr vorhanden. Soweit der Kläger sich auf Erklärungen von Bekannten bezieht, sind diese nicht geeignet, eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für sein Vorbringen, es sei überwiegend deutsch gesprochen worden, zu begründen. Die Angaben der Zeugen betreffen die Zeit nach 1941, auf die es hier nicht ankommt. Zu entscheiden war, ob der Kläger um 1941 dem dSK angehört hat und nicht, ob dies später der Fall war. Hierbei geht die Kammer davon aus, dass in der Familie des Klägers im maßgebenden Zeitraum auch deutsch gesprochen wurde. Die Kammer ist nur nicht im Sinne einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit davon überzeugt, dass überwiegend die deutsche Sprache benutzt wurde. Der Kläger hat hierzu im Kontenklärungsverfahren angegeben, die Eltern hätten miteinander sowohl jiddisch als auch deutsch gesprochen, die Muttersprache sei jiddisch und der persönliche Sprachgebrauch jiddisch und deutsch gewesen. Aufgrund dieser Angaben, die erfolgt sind, bevor die Beklagte in dem Bescheid vom 28.05.2002 auf die Bedeutung der Zugehörigkeit zum dSK hingewiesen hat, hält die Kammer es zwar für möglich, dass der Sprachgebrauch überwiegend deutsch war. Glaubhaftmachung bedeutet aber mehr als das Vorhandensein einer bloßen Möglichkeit. Es muss mehr für als gegen den behaupteten Sachverhalt sprechen. Ist weder das Vorliegen noch das Nichtvorliegen einer Tatsache überwiegend wahrscheinlich, ist nicht etwa zugunsten eines Anspruchstellers zu entscheiden. Ein solcher Grundsatz wäre dem Sozialversicherungsrecht fremd (vgl. BSG, Urteil vom 17.12.1980 – 12 RK 42/80, BSGE 40, 40 ff). Der Behauptung des Klägers, der überwiegende damalige mündliche Sprachgebrauch sei deutsch gewesen, er habe mit seiner Mutter und der Haushälterin deutsch gesprochen, vermag die Kammer dabei keine wesentliche Aussagekraft beizumessen. Denn ganz abgesehen davon, dass diese bereits im Hinblick auf das mit der entsprechenden Annahme verknüpfte ganz wesentliche Eigeninteresse des Klägers kritisch zu würdigen ist, begegnet sie auch inhaltlichen Bedenken. Der Kläger hat nämlich im Kontenklärungsverfahren noch angegeben, die Muttersprache sei jiddisch gewesen. In dem von ihm ausgefüllten Antragsformular ist als persönlicher Sprachgebrauch auch jiddisch und deutsch angegeben, ohne dass hierzu eine Gewichtung erfolgt, in welchem Umfang die eine oder andere Sprache verwandt worden ist.

Wie bereits ausgeführt hält die Kammer es aufgrund dieser Umstände zwar für möglich, dass die deutsche Sprache überwogen hat. Dies reicht aber nicht aus, um eine überwiegende Wahrscheinlichkeit im Sinne von § 4 Abs. 1 FRG zu begründen.

Ein Anspruch auf Berücksichtigung der geltend gemachten Zeiten ergibt sich schließlich auch nicht aus § 20 WGSVG. Der Kläger ist nicht Vertriebener im Sinne des § 1 Bundesvertriebenengesetzes. Die Gleichstellung nach § 20 WGSVG hat zur Voraussetzung, dass die Vertriebeneneigenschaft eines Verfolgten lediglich deshalb nicht anerkannt werden kann, weil es sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt hat. Auch hier ist Voraussetzung, dass die betreffende Personen im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem dSK angehört hat (§ 20 Abs. 1 Satz 2 WGSVG i.V.m. § 19 Abs. 2 a 2. Halbsatz). Die Ausführung zu § 17 a FRG gelten deshalb hier entsprechend.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Berufung ist gemäß § 143 SGG zulässig.
Rechtskraft
Aus
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