L 1 U 1523/18

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Meiningen (FST)
Aktenzeichen
S 9 U 2035/17
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 1 U 1523/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichtes Meiningen vom 12. November 2018 wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund einer anerkannten Berufskrankheit (BK) wegen Druckschädigung des Nervus medianus im Carpaltunnel (Carpaltunnel-Syndrom) nach Nr. 2113 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV).

Der 1960 geborene Kläger ist gelernter Heizungsinstallateur und übte diese Tätigkeits zunächst seit dem Abschluss seiner Lehre im Jahre 1976 aus. Zudem arbeitete er im Beruf des Schweißers und als Fließbandarbeiter in der Automobilindustrie. Seit Oktober 2014 arbeitet der Kläger nicht mehr. Mit Schreiben vom 30. März 2015 zeigte die Krankenversicherung des Klägers wegen einer Wirbelsäulenerkrankung und eines Carpaltunnel-Syndroms den Verdacht auf eine Berufskrankheit an. Zudem beantragte der Kläger bereits mit Schreiben vom 16. März 2015 die Anerkennung diverser Berufskrankheiten - unter anderem einer BK Nr. 2113 BKV.

Der behandelnde Orthopäde und Rheumatologe Dr. M. führte in seinem Bericht vom 9. September 2013 aus, dass bei dem Kläger ein gesichertes Carpaltunnel-Syndrom beidseits bestehe. Gleichzeitig sei aber besonders rechts die Nervenleitgeschwindigkeit herabgesetzt, sodass eine Mitbeteiligung der Halswirbelsäule durchaus plausibel sei. Der Kläger wurde am 21. Januar 2014 linksseitig und am 8. Oktober 2014 rechtseitig am Carpaltunnel-Syndrom operiert. Mit seinem Befundbericht gegenüber der Beklagten vom 23. Juli 2015 führte der behandelnde Neurologe Dr. M. aus, dass eine Beschwerdesymptomatik von Seiten der Halswirbelsäule mit segmentaler Ausstrahlung bei C5 beidseits bestehe. Früher sei ein Carpaltunnel-Syndrom beidseits dekomprimiert worden, ein typischer Hinweis auf ein Carpaltunnel-Syndrom bestehe nun nicht mehr. Bezüglich des Nervus medianus dexter ergebe sich eine distale Latenz 3,2, die Nervenleitgeschwindigkeit sei motorisch im Bereich der Norm. Eine von der Beklagten veranlasste Prüfung der Arbeitsplatzexposition bezüglich eines Carpaltunnel-Syndrom nach einer BK Nr. 2113 BKV ergab, dass eine berufsbedingtes Carpaltunnel-Syndrom nicht auszuschließen ist. Dr. W. wertete in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 16. Dezember 2015 die bis zum Oktober 2014 vorliegenden medizinischen Unterlagen und Befunde aus und gelangte zu der Feststellung, dass beim Kläger ein Carpaltunnel-Syndrom vorliege. Insbesondere wegen der Erkrankung der Halswirbelsäule mit Ausstrahlung in die Arme sei jedoch zur Abgrenzung eine neurologische Begutachtung zu empfehlen. Der hieraufhin mit Zustimmung des Klägers beauftragte Gutachter Dr. M. berichtete in seinem Gutachten vom 21. März 2016, bei der Begutachtung beim Kläger hätten sich zunächst zielgerichtete Verdeutlichungstendenzen ergeben. Klinische Hinweiszeichen für das Vorliegen eines Carpaltunnel-Syndroms fänden sich nicht. Der klinische Befund, der aktuell bei der Begutachtung erhoben worden sei, lasse sich mit dem klinischen Befund eines Carpaltunnel-Syndroms nicht in Überdeckung bringen. Insoweit werde auf die wissenschaftliche Begründung für die Berufskrankheit verwiesen. Dies sei auch bereits schon klinisch neurologisch und elektropsychologisch durch den behandelnden Neurologen Dr. M. am 23. Juli 2015 in dessen Bericht beschrieben worden. Elektromyographisch rechts und links zeige sich kein Anhalt für eine Spontanaktivität und die Muskelpotenziale seien im Normbereich. Es ergäben sich vielmehr Hinweise für eine Zervikobrachialgie beidseits unter Berücksichtigung von Strukturveränderungen von Seiten der Halswirbelsäule. Die medizinischen Voraussetzungen einer Berufskrankheit nach Nr. 2113 BKV seien daher nicht erfüllt.

Mit Bescheid vom 20. Januar 2017 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 2113 der BKV sowie Leistungen hieraus mangels eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Carpaltunnelerkrankung und der beruflichen Tätigkeit ab.

Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens befragte die Beklagte den Beratungsarzt Dr. L. hinsichtlich der Anerkennung der Berufskrankheit nach Nr. 2113 BKV. Nach seiner Stellungnahme vom 31. März 2017 ist ein Carpaltunnel-Syndrom gegenwärtig nicht nachzuweisen. Es liege keine Carpaltunnel-Syndrom typische Beschwerdesymptomatik vor, die klinischen Verhältnisse seien seit den operativen Eingriffen im Wesentlichen unverändert, es gebe derzeit keinen elektropsychologischen Nachweis eines Carpaltunnel-Syndroms und mit der zervikalen Nervenwurzelreizung einen hochgradigen Ursachenfaktor für die beschriebene Parästhesien im Bereich der Hände und Finger. Im Hinblick auf die Frage, ob beim Kläger jemals ein Carpaltunnel-Syndrom vorgelegen habe, stellte der Beratungsarzt in der Stellungnahme vom 28. Juni 2017 nach weiteren Angaben des behandelnden Neurologen Dr. M. (Befundbericht vom 1. Juni 2017) fest, dass die geschilderte Symptomatik des Klägers für einen begrenzten Zeitraum zumindest teilweise auf ein Carpaltunnel-Syndrom zurückzuführen sei. Die Symptomatik sei aber vermutlich in eher geringen Umfang nur auf das Carpaltunnel-Syndrom zurückzuführen, da die Mehrzahl der Beschwerden weiterhin später persistierte Beschwerden seien, aber sich nicht als abhängig vom Carpaltunnel-Syndrom zeigten. Zumindest unmittelbar nach dem operativen Eingriff in 2014 habe kein Carpaltunnel-Syndrom mehr im Sinne der BK Nr. 2113 BKV vorgelegen. Soweit der Kläger nach den operativen Eingriffen weiterhin entsprechende Symptome zeige, sei dies nicht mit der BK Nr. 2113 BKV in Einklang zu bringen. Wie ausgeführt, sei in den Operationsberichten keine lokale Kompressionssituation des Nervus medianus beschrieben und die geschilderten Symptome seien durchaus auch durch konkurrierende Krankheitsursachen auslösbar.

Mit Bescheid vom 15. September 2017 erkannte die Beklagte eine Berufskrankheit nach Nr. 2113 BKV an. Folge dieser Berufskrankheit sei ein nach operativer Versorgung folgenlos ausgeheiltes Carpaltunnel-Syndrom beidseits, keine Folge seien die Zervikobrachialgie mit diskoradikulärem C5-Syndrom und ein multilokuläres Schmerzsyndrom im Bereich der Gelenke. Einen Anspruch auf Rente wegen der Berufskrankheit lehnte die Beklagte mangels einer Minderung der Erwerbsfähigkeit im rentenberechtigten Maße ab. Der hiergegen eingelegte Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 19. Oktober 2017).

Der Kläger hat gegen den Widerspruchsbescheid beim Sozialgericht Klage erhoben. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 29. Januar 2018 hat das Sozialgericht Bedenken hinsichtlich der Ursache für die Beschwerden des Klägers (Folgen einer missglückten Carpaltunnel-Operation oder wegen Störungen der Halswirbelsäule C5/C6) geäußert. Die Beteiligten haben sich geeinigt, dass die Beklagte ein neurologisches Gutachten hinsichtlich des Carpaltunnel-Syndroms des Klägers einholt.

Die sodann von der Beklagten beauftragte Neurologin Dr. J. hat in ihrem Gutachten vom 20. April 2018 zunächst festgestellt, bei dem Kläger sei eine negative Antwortverzerrung durch Schmerzen auszumachen. Die Ultraschalldiagnostik der Handgelenke ergebe bezüglich des Nervus medianus beidseits nervosonographisch keine Auffälligkeiten. Es gebe bei den oberen Extremitäten kein Anhalt für eine Läsion des Nervus medianus oder auch des Nervus ulnaris. Auch bezüglich des Nervus radialis zeige sich ein Normalbefund. Bezüglich des Vergleichs der sensiblen Nervenleitgeschwindigkeit des Nervus medianus und des Nervus ulnaris durch Messung der Nervenleitgeschwindigkeit für den Nervus medianus und Nervus ulnaris zwischen Handgelenk und Ringfinger zeige sich keine signifikante Latenzdifferenz. Es ergebe sich kein Anhalt für eine Läsion des Nervus medianus in Höhe des Handgelenks beidseits. Insgesamt ergebe sich kein Anhalt für eine Irritation des Nervus medianus in Höhe des Carpaltunnels und in Höhe des Unterarmsegments beidseits. Darüber hinaus ergebe sich auch kein Anhalt für eine Läsion des Nervus ulnaris in Höhe des Handgelenks, des Unterarmsegments oder in Höhe des Sulcus nervi ulnaris beidseits. Zusammenfassend hat die Sachverständige festgestellt, dass die Diagnose des beidseitigen Carpaltunnel-Syndroms im September 2013 als gesichert anzusehen sei, nach der Operation des Carpaltunnel-Syndroms beidseits im Jahr 2014 sei dieses jedoch folgenlos ausgeheilt. Die von dem Kläger beschriebenen Schmerzen und Sensibilitätsstörung seien bei völlig unauffälligen elektropsychologischen und sonographi-schen Befunden des Nervus medianus und auch unauffälligen objektivierbaren neurologischen Befunden nicht auf ein Carpaltunnel-Syndrom zurückzuführen. Es bestehe eine konkurrierende Kausalität in Form des HWS-Syndroms mit den bildmorphologischen beschriebenen degenerativen Veränderungen, die zu einer Wurzelreizsymptomatik im dermatom C6 links, C7 beidseits und C5 beidseits führen könnten. Die subjektive angegebene Feinmotorikstörung und Kraftminderung sei klinisch, neurologisch und elektrophysiologisch nicht nachvollziehbar. In einem entsprechenden Beschwerdeevaluierungstest finde sich ein sehr hoher Wert, der mit einer negativen Antwortverzerrung zu vereinbaren sei. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit sei bei einem folgenlos ausgeheilten Carpaltunnel-Syndrom beidseits seit Diagnosestellung weniger als 10 v.H.

Der Kläger hat zu diesem Gutachten der Dr. J. zunächst beanstandet, sein Recht auf eine Gutachterauswahl sei nicht beachtet worden sei. Bezüglich der Feststellung der Sachverständigen hat er im Übrigen diverse Mängel vorgetragen. So liege tatsächlich unverändert ein Carpaltunnel-Syndrom vor und ihm stünde hieraus eine Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit zu. Der Kläger hat im Rahmen einer mündlichen Verhandlung vom 6. August 2018 einen Befundbericht des behandelnden Neurologen Dr. M. vom 9. April 2018 vorgelegt, nach dem der Nervus medianus dexter motorisch im Bereich der Norm ist. Sensibel antidrom sei der Medianus beidseits im Normbereich.

Mit Urteil vom 12. November 2018 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Eine rentenberechtigende MdE 20 v.H. liege nicht vor. Unter Bezugnahme auf die ärztlichen Unterlagen und Stellungnahmen sei aufgrund des operierten Carpaltunnel-Syndroms kein Anhaltspunkt für eine rentenberechtigende MdE gegeben. Die nach der Operation durchgeführten Untersuchen hätten eine normale Leitgeschwindigkeitssituation ergeben. Der Kläger leite vielmehr an einer discoradikulärem Symptomatik im Bereich C5/C6, die die angegebenen Beschwerden begründe.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers. Trotz der Operation im Jahr 2014 habe sich sein Befinden nicht verbessert. Er sei im Jahr 2015 zur Reha in B. L. gewesen, dort sei die Entlassung mit gesicherten beidseitigen Carpaltunnel-Syndrom erfolgt. Zu diesem Zeitpunkt seien seine Erkrankungen beidseits chronisch und unverändert. Die bei ihm vorhandenen Be-schwerden könnten nicht allesamt von der Halswirbelsäule herrühren. Der Kläger ist der Auffassung, es liege weiterhin ein nicht ausgeheiltes Carpaltunnel-Syndrom vor.

Er beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Meiningen vom 12. November 2018 sowie den Widerspruchsbescheid vom 19. Oktober 2017 aufzuheben und den Bescheid vom 15. September 2017 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Teilverletztenrente unter Annahme einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 v.H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts Meiningen, wie auch ihre eigene Entscheidung, für zutreffend.

Im Erörterungstermin vom 11. April 2019 hat der Kläger ein Anlagenkonvolut bezüglich des Vorgangs zur Zahlung des Verletztengeldes, das für den Zeitraum von Januar bis April 2014 (für die erste OP) und sodann für Oktober und November 2014 (für die zweite OP) veranlasst wurde, übereicht.

Der Senat hat Dr. J. mit einer ergänzenden Stellungnahme zur Einschätzung der MdE für insbesondere den Zeitraum zwischen den beiden Carpaltunnel-Operationen beauftragt. Diese hat daraufhin dargelegt, dass bezüglich des Zeitraums September 2013, dem Zeitpunkt der Anerkennung der Berufskrankheit, bis zum Januar 2014, dem Zeitpunkt der ersten OP, sich ein beidseitiges Carpaltunnel-Syndrom mit wiederkehrenden, d.h. nicht anhaltend, leichten sensiblen Ausfällen zeige. Hinweise für ein fortgeschrittenes sensomotorisches Defizit vor der Operation des linksseitigen Carpaltunnel-Syndroms fänden sich nicht. Insoweit sei die MdE 10 v.H. für diesen Zeitraum befund- und leidensadäquat. Für den Zeitraum Januar 2014, dem Zeitpunkt der ersten OP, bis zum Oktober 2014, dem Zeitpunkt der zweiten OP, sei bezüglich des rechtsseitigen Carpaltunnel-Syndroms eine anhaltende, d.h. rezidivierende, Sensibilitätsstörung ohne motorische Defizite auszumachen. Der Schweregrad sei mit mittelschwer anzusetzen, d.h. es liegen leichte sensible Ausfälle vor. Die bereits operierte Seite sei folgenlos ausgeheilt, so dass nur auf die Einschränkungen der rechten Seite abzustellen sei. Insoweit sei eine MdE unter 10 v.H. befund- und leidensadäquat. Für den Zeitraum ab Oktober 2014 sei davon auszugehen, dass das Carpaltunnel-Syndrom nach der beidseitigen Operation folgenlos ausgeheilt sei. Die MdE liege daher unter 10 v.H. Soweit der Kläger nach den jeweiligen Operationen zusätzlich bzw. weiterhin über Schmerzen klage, seien diese auf die konkurrierenden Ursachen durch die degenerativen HWS-Veränderungen bzw. dass dann im Februar 2015 von Dr. S. diagnostizierte schwere degenerative Zervikalsyndrom zurückzuführen. Im Übrigen sei es ohne Belang, dass beim Kläger Arbeitsunfähigkeit wegen der Diagnose G56.0 (Carpaltunnel-Syndrom) diagnostiziert worden sei. Bei der Minderung der Erwerbsfähigkeit komme es nicht auf die Diagnose an sondern auf die Einschränkung der Erwerbsfähigkeit.

Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers hat in der Sache keinen Erfolg (§§ 143, 151 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG). Gegenstand des Rechtsstreits ist die mit Bescheid vom 15. September 2017 erfolgte Ablehnung einer Verletztenrentengewährung, nicht hingegen die bestandskräftige Feststellung der Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 2113 BKV. Der Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Oktober 2017 ist hinsichtlich der erfolgten Ablehnung einer Verletztenrente rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 SGG).

Nach § 56 Abs. 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) haben Versicherte in Folge eines Versicherungsfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall - hier der Anerkennung einer Berufskrankheit - hinaus Anspruch auf Gewährung von Rente, wenn die Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v. H. gemindert ist. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.

Die Bemessung des Grades der MdE ist eine Tatsachenfeststellung, die das Gericht nach § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft. Neben der Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögen des Versicherten ist dabei die Anwendung medizinischer sowie sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens erforderlich. Als Ergebnis dieser Wertung ergibt sich die Erkenntnis über den Umfang der dem Versicherten versperrten Arbeitsmöglichkeiten. Hierbei kommt es stets auf die gesamten Umstände des Einzelfalles an (vgl. BSG, Urteil vom 2. Mai 2001 - B 2 U 24/00 R, nach juris). Bei der Bewertung der MdE ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher maßgebend, sondern vielmehr der damit verbundene Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten (vgl. BSG, Urteile vom 20. Dezember 2016 - B 2 U 11/15 R und vom 22. Juni 2004 - B 2 U 14/03 R, beide nach juris). Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten durch Folgen einer Berufskrankheit beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit des Verletzten auswirken, sind zwar nicht verbindlich, bilden aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch Berufskrankheitsfolgen beeinträchtigt sind (vgl. BSG, Urteil vom 23. April 1987 - 2 RU 42/86, nach juris). Darüber hinaus sind bei der Beurteilung der MdE auch die von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und medizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht im Einzelfall bindend sind, aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Beurteilung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis bilden (vgl. BSG, Urteil vom 20. Dezember 2016 - B 2 U 11/15 R, nach juris).

In Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich für den Kläger kein Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H.

Hinsichtlich einer Verletztenrente für den Zeitraum ab Anerkennung der Berufskrankheit (9. September 2013) bis zum ersten operativen Eingriff zur Dekompression des Carpaltunnel-Syndroms links am 21. Januar 2014 scheitert ein Anspruch auf Verletztenrente bereits tatbe-standlich daran, dass die 26-Wochenfrist des § 46 Abs. 1 SGB VII noch nicht verstrichen ist.

Hinsichtlich des Zeitraums zwischen der ersten Operation (betreffend linkes Carpaltunnel-Syndrom) am 21. Januar 2014 und der zweiten Operation bezüglich des rechten Carpaltunnel-Syndroms am 8. Oktober 2014 ergibt sich keine Minderung der Erwerbsfähigkeit im rentenberechtigten Maße. Es entspricht der herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung, dass bei rechtzeitiger und korrekter Durchführung operativer Dekompression des Carpaltunnels im Allgemeinen keine Minderung der Erwerbsfähigkeit zu erwarten ist. In den meisten Fällen liegt nur eine Reizsymptomatik bzw. eine leichtgradige somotorische Ausfallsymptomatik vor, die mit einer MdE unter 10 v.H. zu bewerten ist (vgl. Schönberger/Mertens/Valentin, Arbeitsunfall- und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, Seite 601). Bei Bestimmung der Minderung der Erwerbsfähigkeit ist dabei auf den Anteil des Ausfalls des digitalen Nervus medianus abzustellen. So wird der distale motorische sensible und komplette Ausfall des Nervus medianus mit 25 v.H. bewertet. Ein rein sensibler kompletter Ausfall wird mit einer MdE von 20 v.H. eingeschätzt. Insoweit hat Dr. J. mit ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 3. Juni 2019 zwar ausgeführt, dass sich hinsichtlich des Zeitraums zwischen der ersten Operation und der zweiten Operation keine weiteren neurologischen Untersuchungen bzw. Untersuchungsergebnisse finden. Sie weist jedoch zugleich darauf hin, dass bei gleichzeitiger und korrekter Durchführung einer operativen Dekompression allgemein keine MdE zu erwarten ist. Dies steht - wie gezeigt - im Einklang mit der herrschenden Lehrmeinung. Die Sachverständige führt auch zutreffend aus, dass nur auf die Beschwerden bzw. das Carpaltunnel-Syndrom an der rechten Hand abzustellen ist, da zu erwarten ist, dass bezüglich der linken Hand aufgrund der bereits erfolgten Operation eine Besserung bis hin zu einer Heilung eingetreten ist. Letztlich kann aber eine auf das Carpaltunnel-Syndrom rechts zurückgehende Funktionseinschränkung, die in ein rentenberechtigendes Maß hineinreicht, nicht wahrscheinlich gemacht werden. Insofern hat die Sachverständige zutreffend und in Übereinstimmung mit den Erfahrungswerten (vgl. Mehrtens/Brandenburg, Die Berufskrankheitenverordnung (BKV), M 2113, S. 24) angenommen, dass bei dem einseitigen Carpaltunnel-Syndrom mit einem - wegen leichten sensiblen Ausfällen - mittelschweren Schweregrad eine MdE von unter 10 v.H. in Betracht kommt. Diese führt nicht zu einem Rentenanspruch.

Für den Zeitraum nach der zweiten Operation im Oktober 2014 ist wegen der erfolgreichen Operationen ein Carpaltunnel-Syndrom nicht mehr vorhanden. Damit kann sich hieraus auch keine MdE mehr ergeben. Der Senat stütz sich hierbei auf die Einschätzung der Dr. J., die in Übereinstimmung mit den Ausführungen des Gutachters Dr. M. davon ausgeht, dass nach der Operation bezüglich des rechten Carpaltunnel-Syndroms am 8. Oktober 2014 schon die Diagnose eines Carpaltunnel-Syndroms nicht mehr gestellt werden kann. Insoweit hat Dr. J. mit ihrem Gutachten vom 20. April 2018 bei dem Kläger einen völlig unauffälligen elektrophysiologischen und sonographischen Befund des Nervus medianus und auch einen unauffälligen, objektivierbareren neurologischer Befund erhoben. Hinsichtlich der gemessenen Nervenleitgeschwindigkeit (bei gesunden Nerven ca. 48 m/s) ergibt sich keine, für die Annahme eines Carpaltunnel-Syndroms typische Minderung der Geschwindigkeit um mindestens 7 m/s. Vielmehr ist beim Kläger rechts eine Nervenleitgeschwindigkeit von 50 m/s und links eine Nervenleitgeschwindigkeit von 52,1 m/s gegeben, die sich im Normbereich befindet. Auch das weitere Kriterium der Überleitungszeit (distale motorische Latenz) des Nervus medianus bewegt sich hier im Normalbereich, wobei als Normalwert ein Wert unter 4,2 m/s gilt. Hier zeigt sich eine entsprechend motorische Latenz von 3,4 m/s rechts und 3,3 m/s links, welche im Normbereich liegen. Ein Carpaltunnel-Syndrom ist damit nicht mehr objektivierbar. Mangels einer Erkrankung im Sinne eines Carpaltunnel-Syndroms kann sich hieraus auch keine Minderung der Erwerbsfähigkeit ergeben. Nichts anderes folgt schließlich aus der Tatsache der bereits erfolgten Anerkennung der Berufskrankheit nach Nr. 2113 BKV. Denn bezüglich der Bemessung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit kommt es nicht auf die festgestellte Diagnose an, sondern die sich hieraus ergebenen Funktionseinschränkungen. Es existiert kein Automatismus, dass eine Diagnose zwangsläufig eine entsprechende Funktionseinschränkung begründet. Andererseits jedoch führt die Feststellung, dass - wie hier - eine entsprechende Diagnose nicht gestellt werden kann, eine Gesundheitsbeeinträchtigung in diesem Sinne also nicht vorliegt, zwangsläufig zu dem Ergebnis, dass sich hieraus auch keine Funktionseinschränkung ergibt. Dies ist jedenfalls bei der BK Nr. 2113 BKV der Fall, die zwingend das Vorliegen eines Carpaltunnel-Syndroms voraussetzt. Liegt ein solches - wie hier - tatsächlich nicht (mehr) vor, kann sich hieraus auch keine Folge der Berufskrankheit im Sinne einer rentenberechtigenden Minderung der Erwerbsfähigkeit ergeben. Die formale Anerkennung eines Carpaltunnel-Syndroms ändert hieran nichts.

Auch wenn der Senat nach den gesetzlichen Anforderungen nicht darlegen muss, worauf die vom Kläger aufgezeigten Schmerzen und Einschränkungen stattdessen zurückzuführen sind, kann auf die Ausführungen der Dr. J. verwiesen werden. Sie hat mit der diagnostizierten degenerativen Veränderung der Halswirbelsäule eine wesentliche konkurrierende Ursache für die Beschwerden und Symptomatik des Klägers aufgezeigt. So hat ein MRT vom 20. März 2014 Neuroforamenstenosen C5/6 deutlich gemacht. Dass der Kläger über nicht unerhebliche Veränderungen im Bereich der Halswirbel- und auch Brustwirbelsäule verfügt, ergibt sich zudem aus nahezu allen vorliegenden medizinischen Unterlagen. Insoweit kann verwiesen werden auf die Berichte von Dr. S. vom 27. Februar 2015, von Dr. W. vom 13. Januar 2015, von Dr. Sch. vom 8. Mai 2014, Dr. O. vom 6. Februar 2014 sowie den Befundbericht von Dr. S. vom 13. Mai 2015, dem auch zu entnehmen ist, dass der Kläger bereits seit April 2009 fast ausschließlich wegen Beschwerden im Bereich HWS/BWS bei ihm in Behandlung ist. Die Diagnose des Carpaltunnel-Syndroms beidseitig spielt hier bei der Beschwerdeangabe hingegen eine absolut untergeordnete Rolle. Soweit bei dem Kläger eine Wurzelreizsymptomatik C7 und C5 beidseits bzw. C6 links beschrieben ist (vgl. Bericht des Dr. S. vom 27. Februar 2015), handelt es sich um eine typische Differenzialdiagnose zu den Beschwerden aufgrund einer BK Nr. 2113 BKV (vgl. Schönberger/Mertens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, Seite 600).

Gleichfalls ohne Belang ist, dass in Arztberichten oder im ärztlichen Entlassungsbericht der deutschen Rentenversicherung vom 18. September 2015 beim Kläger weiterhin ein Carpaltunnel-Syndrom als Diagnose genannt wird. Die Beklagte hat entsprechende medizinische Er-mittlungen veranlasst, die der Senat durch eine ergänzende Nachfrage bei Dr. J. vertieft hat. Es ist nicht ersichtlich, dass der Gutachter Dr. M., der Beratungsarzt Dr. L. und sodann Dr. J. in unzutreffender Weise von einem entsprechenden Diagnoseausschluss ausgegangen sind (hierzu bereits oben). Vielmehr ist bei den vom Kläger vorgelegten Befundunterlagen das Carpaltunnel-Syndrom ersichtlich auch nur als (Neben-)Diagnose auszumachen, ohne dass es einen Behandlungswert erlangt. Soweit ein Zustand nach Dekompression eines Carpaltunnel-Syndroms diagnostiziert wird, kann sich der Kläger hierauf ohnehin nicht mit Erfolg berufen. Diese Feststellung, die im engeren Sinne keine Diagnose ist, bestätigt letztendlich die Dekompression des Carpaltunnel-Syndroms, mithin also die Ausheilung dieser Erkrankung.

Soweit der Senat bei der Entscheidung auf die Erkenntnisse des Gutachten des Dr. M. vom 21. März 2016 und der Dr. J. vom 20. April 2018 abstellte, hat er diese eingeholten Gutachten im Wege des Urkundenbeweises gewürdigt (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 415 ff. der Zivilprozessordnung - ZPO). Verwaltungsgutachten können nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auch alleinige Entscheidungsgrundlage sein, wenn das Gutachten in Form und Inhalt den (Mindest-)Anforderungen entspricht, die an ein wissenschaftlich begründetes Sachverständigengutachten zu stellen sind (vgl. BSG, Urteil vom 7. Mai 2019 – B 2 U 25/17 R, Rn. 14 m.w.N., nach juris). Das ist bei den vorliegenden Gutachten des Dr. M. und der Dr. J. gegeben. Beide erfüllen die förmlichen und inhaltlichen Anforderungen eines ordnungsgemäßen Sachverständigengutachtens, stellen insbesondere den Krankheitsverlauf dar und setzen sich mit dem Vorliegend der Voraussetzungen der BK Nr. 2113 BKV substantiiert auseinander. Insbesondere werden Art und Ausmaß der hier in Streit befindlichen gesundheitlichen Verhältnisse festgestellt, weiter wird konkret und eingehend der Ursachenzusammenhang erörtert. Gründe, die gegen die Verwertung dieser Gutachten sprechen sind nicht ersichtlich. Weder stehen der Verwertung des Gutachtens der Dr. J. datenschutzrechtliche Verstöße noch ein Verstoß gegen das Auswahlrecht nach § 200 Abs. 2 HS. 1 SGB VII entgegen (dazu sogleich). Auch die Besonderheiten des Urkundenbeweises (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 415 ZPO), wie z.B. die fehlende Verantwortlichkeit des Verwaltungsgutachters gegenüber dem Gericht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 404a, 407a ZPO), die fehlende Strafandrohung der §§ 153 ff. des Strafgesetzbuches (StGB) und die fehlende Möglichkeit der Beeidigung (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 410 ZPO), das fehlende Ablehnungsrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 406 ZPO) und insbesondere das fehlende Fra-gerecht (§§ 116 Satz 2, 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 397, 402, 411 Abs. 4 ZPO; § 62 SGG) begründen hier nicht die Einholung eines Sachverständigengutachtens. Nach Aktenlage bestand für die Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens wegen der Vorermittlungen der Beklagten keine Notwendigkeit. Erforderlich war hier lediglich eine weitere Stellungnahme zur Staffelung der MdE für bestimmte Zeiträume (siehe hierzu bereits oben). Sie ist vom Senat nach § 106 SGG veranlasst worden.

Offenbleiben kann, ob die Beklagte - wie der Kläger meint - gegen das Auswahlrecht nach § 200 Abs. 2 HS. 1 SGB VII verstoßen hat. Zwar sind ihm nur zwei mögliche Gutachter namentlich vorgeschlagen worden, doch wurde ihm die Möglichkeit eingeräumt, einen eigenen Vorschlag zu machen. Letztendlich hat der Kläger unter dem 21. Februar 2018 ausdrücklich schriftlich einer Begutachtung durch Dr. J. zugestimmt. Selbst ein unterstellter Verstoß gegen das Auswahlrecht nach § 200 Abs. 2 Halbs. 1 SGB VII würde aber nicht zu einem Beweisverwertungsverbot führen (so BSG, Urteil vom 7. Mai 2019 – B 2 U 25/17 R, Rn. 24, nach juris). Schließlich liegt auch kein Verstoß gegen datenschützende Normen und damit eine Ver-letzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung oder des Allgemeinen Persönlich-keitsrechts des Klägers (Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) i.V.m. Art 1 Abs. 1 GG) vor. Der Kläger hat weder eine Verletzung der Belehrungspflicht über das Widerspruchsrecht nach § 200 Abs. 2 Halbs. 2 SGB VII i.V.m. § 76 Abs. 2 SGB X gerügt, noch liegt eine solche vor. Er hat einer Begutachtung durch Dr. J. zugestimmt. Er hatte entsprechend der Belehrung mit Schreiben vom 31. Januar 2018 Kenntnis, dass ohne einen entsprechenden Widerspruch die Unterlagen über die bisherigen medizinischen Feststellungen an die Gutachterin weitergegeben werden. Dies steht der Annahme einer Datenschutzrechtsverletzung entgegen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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