S 15 BL 5/18

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Landshut (FSB)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 15 BL 5/18
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
der Blindheit gleichzuachtende Sehstörung
Zentrum der Restgesichtsfeldinsel größer oder gleich 15 Grad
Ausdehnung, nicht Lage entscheidend
I. Der Beklagte wird verurteilt, unter Abänderung des Bescheides vom 22.03.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.05.2018 der Klägerin ab 01.02.2018 Blindengeld zu gewähren.

II. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in vollem Umfang.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt ab Dezember 2017 die Anerkennung von Blindheit bzw. eine der Blindheit gleichzuachtenden Sehstörung nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz, sowie die Gewährung entsprechender Leistungen.

Die am ... 1993 geborene Klägerin stellte erstmals am 07.12.2017 einen Antrag auf Blindengeld, welcher am 08.12.2017 beim Beklagten einging. Das Augenmedizinische Versorgungszentrum in L. bescheinigte im Befundbericht vom 18.12.2017 der Klägerin eine atypische Retinopathia pigmentosa mit Netzhautdegeneration. Der Visus betrage am rechten Auge 1/25, am linken Auge 1/35. Ein Gesichtsfeld sei nicht durchgeführt worden.

Im augenärztlichen Gutachten vom 28.02.2018 kam der Gutachter Dr. M. zu dem Ergebnis, dass der Visus bei der Klägerin am rechten und linken Auge 1/35 und bei beidäugiger Prüfung ebenfalls 1/35 betrage. Das Gesichtsfeld nach Prüfmarke III/4E betrage am rechten Auge 20 - 35° und am linken Auge 20 - 25° (vom Schemamittelpunkt aus betrachtet). Er bestätigte die Diagnose Retinopathia pigmentosa im Rahmen eines Bardet-Biedl-Syndroms. Schon seit der Geburt bestehe ein schlechtes Sehvermögen, nun sei es zu einer weiteren Verschlechterung gekommen.

Der Beklagte lehnte im streitigen Bescheid vom 22.03.2018 die Gewährung des vollen Blindengeldes ab, das Teil-Blindengeld für hochgradig Sehbehinderte wurde jedoch zuerkannt. Eine Blindheit oder der Blindheit gleichzuachtende Sehstörung liegt nicht vor, weil der Visus an beiden Augen noch 1/35 betrage und das Gesichtsfeld am rechten Auge noch über 30° (vom Schemamittelpunkt aus) hinausreiche.

Mit Schreiben vom 29.03.2018 wurde Widerspruch erhoben. Dieser wurde im Schreiben vom 20.04.2018 damit begründet, dass die Grenzen des Restgesichtsfeldes nicht vom Schemamittelpunkt aus, sondern vom Mittelpunkt der Restgesichtsfeldinsel aus bemessen werden müssten. Dies habe auch das Sozialgericht Landshut im Urteil vom 27.05.2013 (Az.: S 15 BL 1/12) so festgestellt.

Hierzu führte die Sozialmedizinerin Dr. P. in ihrer Stellungnahme vom 08.05.2018 aus, dass die Betrachtungsweise des Sozialgerichts Landshut nur für diejenigen Fälle gelte, in denen die Rest-Gesichtsfeldinsel einen Durchmesser von (15° habe. Falls ein Durchmesser von größer oder gleich 15° vorliege, wie hier, finde dies keine Anwendung, vielmehr sei dann wieder der Schemamittelpunkt heranzuziehen. Vom Schemamittelpunkt aus betrachtet betrage das Gesichtsfeld der Klägerin bei einem Visus von 1/35 am rechten Auge 35°, d.h. ) 30°. Damit seien die Voraussetzungen für die Annahme einer Blindheit oder eine der Blindheit gleichzuachtenden Sehstörung nicht gegeben.

Der Widerspruch wurde im Widerspruchsbescheid vom 28.05.2018 zurückgewiesen.

Mit Schreiben vom 07.06.2018 ließ die Klägerin hiergegen Klage zum Sozialgericht Landshut erheben. Das Gericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte der Klägerin, Dr. L. in K. und des Augenmedizinischen Versorgungszentrums in L. beigezogen. Der Augenarzt Dr. K. wurde zum ärztlichen Sachverständigen ernannt. Im Gutachten vom 01.03.2019 vertrat Dr. K. die Auffassung, dass der Schemamittelpunkt aus seiner Sicht nicht der maßgebende Bezugspunkt für die Beurteilung der visuellen Funktion eines Gesichtsfeldrestes sei. Vielmehr müsse man hier das Zentrum der Rest-Gesichtsfeldinsel heranziehen. Für den vorliegenden Fall bedeute dies, dass bei der Klägerin eine der Blindheit gleichzuachtende Sehstörung bereits seit der Untersuchung bei Dr. M. am 28.02.2018 vorliege.

Im Schriftsatz vom 26.04.2019 erklärte sich der Beklagte vergleichsweise bereit, ab Januar 2019 (ambulante Untersuchung bei Dr. K.) volles Blindengeld zu gewähren. Dieses Vergleichsangebot wurde von Klägerseite nicht angenommen, vielmehr wurde die Gewährung des vollen Blindengeldes bereits ab Februar 2018 (Untersuchung bei Dr. M.) gefordert.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt, den Beklagten zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheides vom 22.03.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.05.2018 der Klägerin ab 01.02.2018 Blindengeld nach dem Bayer. Blindengeldgesetz zu gewähren.

Der Beklagtenvertreter beantragt, die Klage abzuweisen.

Im Hinblick auf die weiteren Einzelheiten wird verwiesen auf die beigezogene Akte des Beklagten, sowie auf die vorliegende Streitakte.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist in vollem Umfang begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Anerkennung einer der Blindheit gleichzuachtenden Sehstörung nach dem Bayer. Blindengeldgesetz und zwar ab dem Zeitpunkt der Untersuchung bei Dr. M. am 28.02.2018. Blindengeld ist daher ab dem Monat zu gewähren, ab dem die Voraussetzungen vorliegen (Februar 2018).

Der Bescheid des Beklagten vom 22.03.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.05.2018 sind entsprechend abzuändern, weil sie die Klägerin in ihren Rechten verletzen.

Gemäß Artikel 1 Abs.1 Bayer. Blindengeldgesetz (BayBlindG) erhalten Blinde, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld. Blind ist einerseits, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art. 1 Abs.2 Satz 1 BayBlindG). Als blind gelten aber auch Personen,

1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt (Art. 1 Abs.2 Satz 2 Nr. 1 BayBlindG). 2. Bei denen durch Nr. 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind (Art. 1 Abs.2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG).

Nach den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) liegt eine der Blindheit gleichzuachtende Sehstörung dann vor, wenn bei einem Visus von (0,033 (1/30) auf dem besseren Auge die Grenze der Rest-Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 30° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben (vgl. "Versorgungsmedizinische Grundsätze", Ziffer A 6 b) aa)).

Die Frage ist, wie die Formulierung - in keine Richtung mehr als 15° vom Zentrum entfernt - auszulegen ist. Die Bedeutung unbestimmter Rechtsbegriffe ist nach der juristischen Methodenlehre durch Auslegung zu ermitteln. Es ist also eine Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe "Zentrum" und "der Blindheit gleichzuachtende Sehstörung" vorzunehmen. Hierbei ist eine verfassungskonforme Auslegung geboten, also auch unter dem Blickwinkel des Art. 3 Abs.1 des Grundgesetzes (GG), wonach gleichgelagerte Sachverhalte nicht ohne sachlichen Differenzierungsgrund unterschiedlich behandelt werden dürfen.

Nach den Ausführungen von Dr. K. im Gutachten vom 01.03.2019, die für die Kammer nachvollziehbar und überzeugend sind, gibt es keinen sachlichen Differenzierungsgrund, Menschen mit einer Sehschärfe von höchstens 0,033 (1/30) und Lage der Grenzen des Rest-Gesichtsfeldes in keine Richtung mehr als 30° - vom Schemamittelpunkt entfernt - anders zu behandeln, als Menschen mit einer Sehschärfe von höchstens 0,033 (1/30) und Lage der Grenzen des Rest-Gesichtsfeldes in keine Richtung mehr als 30° vom Zentrum der Restgesichtsfeldinsel entfernt.

Nach der Auffassung von Dr. K. ist der Begriff "Zentrum" in allen Ziffern der DOG-Richtlinien aus Gleichbehandlungsgründen so auszulegen, dass das Zentrum der Rest-Gesichtsfeldinsel in diesen und gleichgelagerten Fällen als maßgeblicher Bezugspunkt herangezogen wird, weil dies sachlich besser begründbar ist. Es ist für die Kammer auch kein plausibler Grund ersichtlich, weshalb die Maßgabe von Dr. K. nur für Rest-Gesichtsfelder Anwendung finden sollte, die (15° sind, wie Dr. P.in ihrer Stellungnahme vom 08.05.2018 fordert. Auch größere dezentral gelegene Rest-Gesichtsfeldinseln von über 15° haben lt. Dr. K. keinen visuellen Vorteil gegenüber zentral gelegenen Rest-Gesichtsfeldinseln. Hierfür spricht, dass die Sinneszellen auf der Netzhaut nicht überall gleich verteilt sind (gleiche Dichte, gleiches Rezeptorenraster). Die Sinneszellen, die für das Tagsehen verantwortlich sind, die sog. Zapfen, sind von der Netzhautmitte aus betrachtet nach außen hin abnehmend auf der Netzhaut verteilt und unterschiedlich zu Ungunsten der Peripherie verschaltet. Besonders viele Sinneszellen finden sich in der Netzhautmitte (Gesichtsfeldmitte), während sie nach außen hin immer weniger werden. Daher ist ein zentraler gelegenes Rest-Gesichtsfeld funktionell höherwertig als ein peripher Gelegenes. Daraus ist zu schließen, dass ein peripher bzw. exzentrisch gelegenes restfunktionierendes Netzhautareal kein funktionell besseres Gesichtsfeld vermittelt, als ein gleich großes zentral bzw. konzentrisch gelegenes Areal.

Gleich ob die Restgesichtsfeldinsel den Schemamittelpunkt umfasst oder nicht oder der Schemamittelpunkt in etwa zentral oder weniger zentral in der Restgesichtsfeldinsel liegt, ist stets das Zentrum der Restgesichtsfeldinsel als Bezugspunkt heran zu ziehen.

Auf dieser Grundlage ist Dr. K. im Rahmen seiner ambulanten Untersuchung zu dem Ergebnis gelangt, dass bei der Klägerin eine der Blindheit gleichzuachtende Sehstörung vorliegt. Neben der plausiblen Sehschärfe-Minderung von maximal 0,03 liegt zusätzlich bei der Klägerin eine massive konzentrische Gesichtsfeldeinschränkung vor, bei der die Grenze des Rest-Gesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 19° vom Zentrum (der Rest-gesichtsfeldinsel) entfernt ist. Das angegebene Restgesichtsfeld am besseren rechten Auge stand dabei im Einklang mit dem leidlichen Orientierungsverhalten am Untersuchungstag (10.01.2019).

Bereits bei Dr. M. am 28.02.2018 wurde eine Visusminderung von maximal 0,03 (oder 1/35) an beiden Augen festgestellt. Am rechten Auge betrug das Gesichtsfeld 20 - 35° (allerdings vom Schemamittelpunkt aus), am linken Auge 20 - 25°. Wenn man das von Dr. M. ermittelte Gesichtsfeld am rechten Auge näher betrachtet und das Zentrum der Restgesichtsfeldinsel als Bezugspunkt verwendet, so stellt man fest, dass von diesem Zentrum aus die Grenzen nicht mehr als 30° entfernt sind. Damit waren schon im Februar 2018 die Voraussetzungen für die Anerkennung einer der Blindheit gleichzuachtenden Sehstörung nach Ziffer 6 b) aa) der VG gegeben.

Alles in allem war der Beklagte daher zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheides vom 22.03.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.05.2018 der Klägerin ab 01.02.2018 Blindengeld zu gewähren. Der Anspruch auf Blindengeld entsteht mit dem ersten Tag des Monats, in dem die Voraussetzungen nach dem Bayer. Blindengeldgesetz vorliegen (Art. 5 Satz 1 BayBlindG).

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 183, 193 SGG.

Rechtsmittelbelehrung:

Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden. Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim Bayer. Landessozialgericht, Ludwigstraße 15, 80539 München, oder bei der Zweigstelle des Bayer. Landessozialgerichts, Rusterberg 2, 97421 Schweinfurt, schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder beim Bayer. Landessozialgericht in elektronischer Form einzulegen. Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist beim Sozialgericht Landshut, Seligenthaler Straße 10, 84034 Landshut, schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder beim Sozialgericht Landshut in elektronischer Form eingelegt wird. Die elektronische Form wird durch Übermittlung eines elektronischen Dokuments gewahrt, das für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet ist und - von der verantwortenden Person qualifiziert elektronisch signiert ist oder - von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gem. § 65a Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingereicht wird. Weitere Voraussetzungen, insbesondere zu den zugelassenen Dateiformaten und zur qualifizierten elektronischen Signatur, ergeben sich aus der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung - ERVV) in der jeweils gültigen Fassung. Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung der Berufung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben. Der Berufungsschrift und allen folgenden Schriftsätzen sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden; dies gilt nicht im Rahmen des elektronischen Rechtsverkehrs.
Rechtskraft
Aus
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