S 35 KR 2616/18 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
35
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 35 KR 2616/18 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KR 105/19 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin zu 1. wird verpflichtet, die Zwangsvollstreckung von Säumniszuschlägen und sonstigen Kosten gegenüber dem Antragsteller, basierend auf den Beitragsbescheiden vom 27.1.2010 und 15.4.2010, vorläufig einzustellen. Im Übrigen wird der Eilantrag abgelehnt.

Die Antragsgegnerin zu 1. hat dem Antragsteller die zur Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Kosten zur Hälfte (50%) zu erstatten.

Der Antrag auf Bewilligung einer Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Einstellung der Vollstreckung von Beitragsforderungen der Antragsgegnerin zu 1. – nebst Säumniszuschlägen und Mahnkosten.

Der Antragsteller – derzeit in A-Stadt wohnhaft – erhielt mit Datum 28.11.2018 acht Vollstreckungsankündigungen des Antragsgegners zu 2. zu Beitragsforderungen der Antragsgegnerin zu 1. (betr. Kranken- und Pflegeversicherung) aus dem Jahr 2010 zuzüglich Säumniszuschläge und sonstiger Kosten bis Dezember 2018:
- 15.1. bis 31.1.2010 Beitrag 119,45 EUR zzgl. 139,04 EUR - insges. 258,49 EUR
- 1.3. bis 31.3.2010 Beitrag 274,03 EUR zzgl. 273,44 EUR - insges. 547,47 EUR
- 1.4. bis 30.4.2010 Beitrag 316,18 EUR zzgl. 331,34 EUR - insges. 647,52 EUR
- 1.5. bis 31.5.2010 Beitrag 316,18 EUR zzgl. 330,01 EUR - insges. 646,19 EUR
- 1.6. bis 30.6.2010 Beitrag 316,18 EUR zzgl. 325,41 EUR - insges. 641,59 EUR
- 1.7. bis 31.7.2010 Beitrag 316,18 EUR zzgl. 320,81 EUR - insges. 636,99 EUR
- 1.8. bis 31.8.2010 Beitrag 316,18 EUR zzgl. 316,21 EUR - insges. 632,39 EUR
- 1.9. bis 17.9.2010 Beitrag 179,17 EUR zzgl. 153,74 EUR - insges. 332,91 EUR

Nach Aktenlage liegt den Beitragsforderungen folgender Sachverhalt zu Grunde:

Im Zeitraum 15.1. bis 17.9.2010 war der Antragsteller als hauptberuflich Selbständiger versicherungspflichtiges Mitglied bei der Antragsgegnerin zu 1. Mit Bescheid vom 27.1.2010 setzte die Antragsgegnerin zu 1. - zugleich im Namen der Pflegeversicherung - ab 15.1.2010 Beiträge von monatlich insgesamt 210,79 EUR (182,68 EUR Krankenversicherung – 28,11 EUR Pflegeversicherung) fest; für den Zeitraum ab 1.3. bis 15.3. in bisheriger Höhe und vom 16.3. bis 17.9.2010 in Höhe von insgesamt 316,18 EUR (274,02 EUR Krankenversicherung – 42,16 EUR Pflegeversicherung/ Bescheid vom 15.4.2010).

Der Antragsteller zahlte die Beiträge nicht. Die Antragsgegnerin zu 1. mahnte die ausstehenden Beitragszahlungen an. Gegen beide Beitragsbescheide legte der Antragsteller Widerspruch ein. Die Antragsgegnerin zu 1. wies die Widersprüche mit Bescheid vom 17.8.2010 als unbegründet zurück. Die dazu vor dem Sozialgericht Karlsruhe erhobene Klage wurde durch Gerichtsbescheid vom 14.10.2010 abgewiesen (S 3 KR 3479/10); die eingelegte Berufung durch das LSG Baden-Württemberg mit Urteil vom 26.1.2011 zurückgewiesen (L 5 KR 4891/10).

Im Februar 2011 beantragte der Antragsteller die Überprüfung des Beitragsbescheides vom 15.4.2010 nach § 44 SGB X. Diesen Antrag lehnte die Antragsgegnerin zu 1. mit Bescheid vom 23.3.2011 und Widerspruchsbescheid vom 5.7.2011 bestandskräftig ab. Der Widerspruchsbescheid wurde laut Postzustellungsurkunde am 13.9.2011 durch Einlegen in den zur Wohnung des Antragstellers gehörenden Briefkasten zugestellt (damalige Wohnanschrift des Antragstellers: C-Straße, C-Stadt).

Im Juli 2018 stellte der Antragsteller beim Sozialgericht Stuttgart einen Eilantrag, gerichtet auf die Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 5.7.2011 und vorausgehender Bescheide (S 4 KR 3431/18 ER). Den Antrag lehnte das Sozialgericht ab – die erhobene Beschwerde wies das LSG Baden-Württemberg mit Beschluss vom 27.8.2018 zurück (L 11 KR 2810/18 ER-B). Eine gleichzeitig erhobene Klage (S 4 KR 3430/18) ist vor dem Sozialgericht Stuttgart noch anhängig.

Mit bei Gericht am 3.12.2018 eingegangenem Schriftsatz hat der Antragsteller einen Eilantrag gestellt. Im Wesentlichen trägt er vor, die Ansprüche seien verjährt und angebliche Bescheide wirksam angefochten.

Er beantragt sinngemäß,
die Vollstreckung entsprechend der Vollstreckungsankündigungen vom 28.11.2018 zu untersagen.

Die Antragsgegnerin zu 1. beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Der Antragsgegner zu 2. beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Für die Aufhebung von Forderungen sei der Antragsgegner zu 2. nicht zuständig. Soweit sich der Antragsteller gegen die Vollstreckung wende, gelte § 33 FGO und der Finanzrechtsweg sei gegeben. Die Ankündigungen einer Vollstreckung stellten noch keine Vollstreckungsmaßnahme dar.

Der Antragsteller beantragt ergänzend (Schreiben vom 5.1.2019), das Verfahren an den zuständigen Vollstreckungsrichter beim AG Frankfurt zu verweisen, § 17a GVG. Ferner rügt er die Verzögerung nach § 198 GVG und beantragt Prozesskostenhilfe und die Bestellung eines besonderen Vertreters nach § 72 SGG.

Auf Nachfrage des Gerichtes zum Vorliegen eines Verwaltungsaktes die Säumniszuschläge betreffend, erklärte die Antragsgegnerin zu 1. (Schreiben vom 17.1.2019), es gäbe keine weiteren Bescheide. Säumniszuschläge fielen nach § 24 SGB IV kraft Gesetzes an und könnten vollstreckt werden.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte.

II.

Der Eilantrag ist im tenorierten Umfang begründet. Die Voraussetzungen für die Bestellung eines besonderen Vertreters nach § 72 SGG liegen nicht vor. Es gibt keinen Anhalt für eine Prozessunfähigkeit des Antragstellers.

Das Gericht hat nach § 123 SGG unklare Anträge auszulegen. Dabei ist von dem auszugehen, was der Antragsteller mit seinem Antrag erreichen möchte (Keller in Meyer-Ladewig ua., SGG-Komm, § 123 Rdnr. 3). Der Antragsteller wendet sich gegen die Vollstreckung von Beitragsforderungen für Januar, März, April bis September 2010, festgestellt durch die Beitragsbescheide der Antragsgegnerin zu 1. vom 27.1.2010 und 15.4.2010, und von Nebenforderungen (Säumniszuschläge und Mahngebühren). Auf diese Forderungen nehmen die Vollstreckungsankündigungen des Antragsgegners zu 2. Bezug.

1) In Anbetracht dessen, dass der Antragsteller den Vollzug der Beitragsbescheide verhindern will, kam grundsätzlich eine Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes im Sinne des § 86b Absatz 1 Nr. 2 SGG in Betracht. Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Bescheide der Antragsgegnerin zu 1. vom 27.1.2010 und 15.4.2010 hätten gemäß § 86 a Absatz 2 Nr. 1 SGG keine aufschiebende Wirkung, denn es geht hier um Beitragsforderungen. Die Anordnung einer aufschiebenden Wirkung erfolgt vorrangig vor dem Erlass einer einstweiligen Anordnung, § 86 b Absatz 2 Satz 1 SGG.

Ein so verstandenes Begehren des Antragstellers kann indes keinen Erfolg haben. Ein solcher Antrag ist nur dann statthaft, wenn ein gegenüber dem Antragsteller noch nicht bestandskräftiger Verwaltungsakt vorliegt, weil ein Rechtsbehelf anhängig sein muss, der überhaupt Aufschub verleihen könnte. Der Umstand, dass der Verwaltungsakt, um dessen Vollziehung es geht, bestandskräftig geworden ist, macht einen Antrag nach § 86b Absatz 1 Nr. 2 SGG unzulässig (Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 06. Juli 2011 – L 5 AS 226/11 B ER). Im vorliegenden Fall sind die Beitragsbescheide vom 27.1. und 15.4.2010 bestandskräftig und somit bindend nach § 77 SGG geworden. Die vom Antragsteller eingelegten Rechtsbehelfe gegen die Bescheide blieben erfolglos. Entsprechende gerichtliche Überprüfungen haben abschließend stattgefunden (dazu Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 26.1.2011, L 5 KR 4891/10). Somit sind die getroffenen Regelungen nach ihrem materiellen Gehalt verbindlich und können (auch) im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 86b SGG nicht mehr abgeändert werden (Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 06. Juli 2011, aaO). Ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung war daher unzulässig.

2) Der Antrag kann auch nach § 86b Absatz 2 SGG – gerichtet auf die Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X – keinen Erfolg haben. Das Verfahren nach § 44 SGB X zum Beitragsbescheid vom 15.4.2010, abgelehnt durch Bescheid vom 23.3.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5.7.2011, ist ebenfalls bestandskräftig abgeschlossen. Der Widerspruchsbescheid vom 5.7.2011 wurde dem Antragsteller nach Aktenlage am 13.9.2011 wirksam zugestellt, § 63 SGG iVm § 180 ZPO.

3) In Ausnahmefällen kann letztlich auch gegen bestandskräftige Verwaltungsakte einstweiliger Rechtsschutz nach § 86b Absatz 2 SGG mit dem Ziel in Anspruch genommen werden, die Vollstreckung vorläufig einzustellen, wenn aus Gründen des materiellen Rechts offensichtlich rechtswidrige Bescheide beseitigt werden sollen (so LSG Berlin, Beschluss vom 22. März 1996, L 9 Kr SE 23/96; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28. Januar 2008, L 11 AL 165/07 ER und andere). Ein solcher Anspruch kann allerdings nur dann vorliegen, wenn sich die Beitragsbescheide als ganz offensichtlich rechtswidrig erweisen, um der Bestandskraft des schon nach § 86a Absatz 2 Nr. 1 SGG kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Beitragsbescheides nicht jede Bedeutung zu nehmen (Thüringer LSG, Beschluss vom 10. Juni 2015, L 6 KR 430/15 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. November 2013,L 9 KR 254/13 B ER). Eine solche offensichtliche Rechtswidrigkeit der streitigen Beitragsbescheide kann angesichts der dazu bereits ergangenen Rechtsprechung nicht angenommen werden. Auch eine Verjährung der Beitragsforderungen ist hier nicht eingetreten. Abzustellen ist insoweit auf eine 30-jährige Verjährungsfrist, § 25 Absatz 1 Satz 2 SGB IV, denn der erforderliche Vorsatz des Antragstellers bezüglich der Nichtabführung der für das Jahr 2010 zu zahlenden Beiträge war jedenfalls nach der rechtskräftigen Entscheidung des LSG Baden-Württemberg mit Urteil vom 26.1.2011, L 5 KR 4891/10, eingetreten.

Aus vorgenannten Gründen blieb das Begehren des Antragstellers, gerichtet auf die Einstellung der Vollstreckung von Beitragsansprüchen, im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ohne Erfolg.

4) Soweit die Antragsgegnerin zu 1. auch die Vollstreckung der Säumniszuschläge und sonstiger Kosten bis Dezember 2018 betreibt, war der Antrag nach § 86b Absatz 2 SGG erfolgreich und die Zwangsvollstreckung vorläufig einzustellen. Es bestehen Zweifel daran, dass insoweit die Voraussetzungen für eine Vollstreckungsanordnung gegenüber dem Antragsgegner zu 2. nach § 66 Absatz 1 SGB X iVm § 3 Absatz 2 VwVG vorlagen. Die bis Dezember 2018 geltend gemachten Nebenkosten sind nach Aktenlage nicht durch einen Verwaltungsakt festgestellt worden. Zwar entstehen Säumniszuschläge unmittelbar durch Gesetz und ein entsprechender Verwaltungsakt ist lediglich deklaratorischer Natur (dazu Ziegelmeier in Kasseler Kommentar, SGB IV, § 24 Rdnr. 10-15) – im Falle einer Vollstreckungseinleitung wäre indes eine solche Festsetzung der Nebenforderungen, mit der der Schuldner (Antragsteller) über die Zusammensetzung und Höhe der Forderung informiert wird, notwendig. Nicht ausreichend wäre dann das Vorliegen lediglich eines Bescheides zur Hauptforderung – hier die bestandskräftigen Beitragsbescheide.

5) Der Eilantrag gerichtet gegen den Antragsgegner zu 2. ist unbegründet. Eine Verweisung nach § 17a Absatz 2 Satz 1 GVG (Gerichtsverfassungsgesetz) an das Finanzgericht in Kassel war nicht auszusprechen.

Der Antragsgegner zu 2. ist zuständige Vollstreckungsbehörde. Für Rechtsstreitigkeiten, die von den Hauptzollämtern durchgeführte Maßnahmen der Zwangsvollstreckung betreffen, ist der Rechtsweg zu den Finanzgerichten nach § 33 Absatz 1 Nr. 2 FGO gegeben (dazu Bürck, Vollstreckung im Sozialrecht, DAngVers 11/90). Nach § 66 SGB X in Verbindung mit § 4 VwVG haben bundesunmittelbare Körperschaften wie die Antragsgegnerin zu 1. die Möglichkeit, ihre Forderungen durch die Hauptzollämter als Vollstreckungsbehörde vollstrecken zu lassen (BFH vom 20.7.2000, Az VII B 12/00).

Hier wendet sich der Antragsteller nicht gegen Maßnahmen der Zwangsvollstreckung (diese wurden noch gar nicht ergriffen, denn bisher existiert lediglich eine Vollstreckungsankündigung) – vielmehr wendet er sich gegen die zu vollstreckenden Forderungen der Antragsgegnerin zu 1. (siehe daher Ziffer 1. bis 4. der Entscheidung). Ein zu verweisender Rechtsstreit lag aus diesem Grund nicht vor.

Eine Verweisung an das Amtsgericht Frankfurt, Vollstreckungsgericht, kam nicht in Betracht, denn das Amtsgericht wäre aus oben genannten Gründen sachlich nicht zuständig. Die Antragsgegnerin zu 1. wählte nicht die Möglichkeit, nach der ZPO (Zivilprozessordnung) zu vollstrecken, § 66 Absatz 4 SGB X.

Der Eilantrag konnte nur teilweise Erfolg haben. Die Kostenfolge beruht auf § 193 SGG.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe war abzulehnen. Die gemäß § 117 Absatz 2 ZPO notwendige Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie entsprechende Belege, wurden nicht vorgelegt.
Rechtskraft
Aus
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