L 10 AL 93/02

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 63 AL 2144/02
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 10 AL 93/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine weitere monatliche Heimfahrt während einer auswärtigen Unterbringung im Rahmen einer Weiterbildungsmaßnahme.

Mit Bescheid vom 6. März 2001 bewilligte die Beklagte dem 1975 geborenen ledigen Kläger Leistungen für die Teilnahme an einer beruflichen Weiterbildungsmaßnahme zum Hotelfachmann (Lehrgangsgebühren und Fahrtkosten in der Zeit vom 12. Februar 2001 bis 11. Februar 2003). Im Maßnahmebogen war ein Praktikum vom 1. November 2001 bis 31. Januar 2002 vorgesehen.

Am 19. Oktober 2001 beantragte der Kläger eine weitere Förderung für die auswärtige Unterbringung und Verpflegung sowie Fahrtkosten. Im Rahmen der Umschulung zum Hotelfachmann im Ausbildungszentrum für das Hotel- und Gaststättengewerbe, Hotel K am A P, absolviere er in der Zeit vom 1. November 2001 bis 31. Januar 2002 ein Praktikum im Raum M. Er habe daher Anspruch auf Übernahme der Kosten für drei Heimfahrten. Nach dem vorgelegten Praktikantenvertrag begann das Praktikum am 5. November 2001 (Montag) und endete am 31. Januar 2002.

Mit Änderungsbescheid vom 22. Oktober 2001 übernahm die Beklagte u.a. die Kosten für die An- und Abreise sowie zwei Heimfahrten. Mit dem Widerspruch vom 29. Oktober 2001 machte der Kläger u.a. geltend, ihm stünden drei Heimfahrten bei einer Nutzungspauschale von 0,58 DM und nicht nur 0,43 DM zu ( 1.500 km x 0,58 DM = 870,- DM).

Mit Bescheid vom 13. Mai 2002 bewilligte die Beklagte zwei Heimfahrten in Höhe von 870,- DM (444,82 Euro). Im Übrigen wies sie den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 31. Mai 2002 zurück. Heimfahrten könnten nur für volle Kalendermonate gewährt werden. Da das Praktikum erst am 5. November 2001 begonnen habe, sei dieser Monat nicht als voller Kalendermonat zu werten.

Bereits am 13. Mai 2002 war eine Untätigkeitsklage beim Sozialgericht Berlin wegen der Nichtbescheidung des Widerspruchs vom 29. Oktober 2001 eingegangen (Az.: S 63 AL 2144/02). Mit Schriftsatz vom 5. Juli 2002 erklärte der Kläger das Untätigkeitsverfahren für erledigt und erhob mit Schriftsatz vom selben Tage erneut Klage, mit dem Antrag die Beklagte zur Übernahme der Kosten einer weiteren dritten Heimfahrt in Höhe von 444,82 Euro zu verurteilen. Dieser ohne Aktenzeichen versehene Schriftsatz gelangte zum Verfahren S 63 AL 2144/02.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 19. August 2002 hat der Vorsitzende darauf hingewiesen, dass es sich bei den zeitgleich eingegangenen Schriftsätzen vom 5. Juli 2002 bei der Auslegung der Erklärung nach dem objektiven Empfängerhorizont um eine Klageänderung der ursprünglichen Untätigkeitsklage handele. Der Kläger vertrat die Auffassung, es handele sich um eine neue Klage, für die ein separates Verfahren hätte eingeleitet werden müssen. Er beantragte dementsprechend der Beklagten die Kosten des erledigten Untätigkeitsverfahrens aufzuerlegen und stellte die Sachanträge aus dem Schriftsatz vom 5. Juli 2002 nur hilfsweise.

Mit Urteil vom 19. August 2002 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, bei dem Schreiben des Klägers vom 5. Juli 2002 handele es sich um Prozesshandlungen, die entsprechend den allgemeinen Grundsätzen auszulegen seien. Die Auslegung müsse sich danach richten, was der Verfahrensbeteiligte bei vernünftiger Beratung beantragt hätte. Im vorliegenden Fall sei gerichtlicher Rechtsschutz vernünftigerweise durch eine Klageänderung in Anspruch zu nehmen. Dies entspreche dem Interesse des Klägers an einer schnell zu erreichenden gerichtlichen Entscheidung. Die zulässige Klage sei unbegründet. Die Beklagte habe den Anspruch mit einer zutreffenden Begründung im Widerspruchsbescheid abgelehnt. Der vom Kläger zur Begründung seines Anspruchs angeführte Parallelfall sei nicht vergleichbar, da der dortige Versicherte ein Praktikum in einem Umfang von drei vollen Kalendermonaten abgeleistet habe. Die Berufung hat das Sozialgericht nicht zugelassen.

Gegen das ihm am 18. Oktober 2002 zugestellte Urteil erhob der Kläger Nichtzulassungsbeschwerde vom 18. November 2002. Mit Beschluss vom 4. Februar 2003 hat der Senat die Berufung zugelassen. Zur Begründung seines Rechtsmittels macht der Kläger geltend, dass das Sozialgericht zu formalistisch auf den Beginn des Praktikums am 5. November 2001 abgestellt habe. Dieser Tag sei ein Montag gewesen. Folglich habe er bereits am 1. oder 2. November 2001 nach B G anreisen müssen, da die Beklagte eine Anreise am Wochenende nicht erwarte und auch nicht erwarten könne. Sein Praktikumskollege H habe in derselben Zeit wie er bei dem ausbildenden Hotel in B G ein Praktikum absolviert. Dementsprechend seien ihm auch drei Heimfahrten bewilligt worden. Soweit das Sozialgericht gemeint habe, zwischen beiden Fällen Unterschiede erkennen zu können, hätte es diese durch die Einvernahme des Zeugen H und die Einholung von Auskünften des Parkhotels in BG und durch Vorlage der Praktikumsverträge aufklären müssen.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. August 2002 aufzuheben und das Verfahren zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen, hilfsweise den Bescheid der Beklagten vom 13. Mai 2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31. Mai 2002 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger weitere 444,82 Euro zu bewilligen, höchst hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Sie bezieht sich auf den Inhalt ihres Widerspruchsbescheides.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Sachdarstellung und der Rechtsausführungen wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten und auf die Gerichtsakten Bezug genommen. Diese haben im Termin vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung (§ 145 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Übernahme der Kosten für eine dritte Heimfahrt.

Der Senat kann über die Berufung selbst entscheiden, ohne nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG verpflichtet zu sein, das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Sache an dieses zurückzuverweisen. Zwar liegen die Tatbestandsvoraussetzungen einer solchen Entscheidung nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG vor, da das Sozialgerichtsverfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Zu Unrecht hat die 63. Kammer ihre Zuständigkeit für die Entscheidung des Rechtsstreits in Annahme einer Klageänderung nach § 99 SGG bejaht. Dabei hat es die Grenzen der Auslegung von Prozesserklärungen verkannt. Zumindest bei einem als Rechtsanwalt zugelassenen Prozessbevollmächtigten enden diese Auslegungsmöglichkeiten am Wortlaut der entsprechenden Prozesserklärung. Hier unterliegt es keinem Zweifel, dass der Kläger das Untätigkeitsverfahren nach § 88 Abs. 1 Satz 3 SGG - zulässig - für erledigt erklärt hat und - zulässig - eine neue Klage erhoben hat. Überzeugende Gründe für die Annahme der Erklärung einer Klageänderung liegen nicht vor. Auch ist das Sozialgericht nicht befugt, aus Gründen der Prozessökonomie eindeutige Prozesserklärungen der Beteiligten umzudeuten.

§ 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG ermöglicht in solchen Fällen ("kann") zwar eine Zurückverweisung, schreibt sie aber nicht zwingend vor. Vielmehr liegt es im pflichtgemäßen Ermessen des erkennenden Senats, ob er selbst entscheidet oder vom Zurückverweisungsrecht Gebrauch macht. Nur in Ausnahmefällen kann sich die zu treffende Ermessensentscheidung zur Pflicht zu einer Zurückverweisung verdichten, etwa wenn ein besonders grober Verstoß gegen die Grundsätze eines rechtsstaatlichen Verfahrens vorliegt, der z.B. dann angenommen wird, wenn der mit Erfolg abgelehnte Richter das Verfahren - willkürlich - weiter betreibt (vgl. Rohwer - Kahlmann, Kommentar zum SGG, § 159 Rdnr. 5). Eine solche Fallgestaltung liegt hier aber nicht vor. Vielmehr hat das Sozialgericht "nur" die Auslegungsgrundsätze für Prozesserklärungen überdehnt. Es entspricht herrschender Meinung, dass das Landessozialgericht auch dann nicht zur Zurückverweisung verpflichtet ist, wenn das Sozialgericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war, also das Recht auf den gesetzlichen Richter (Artikel 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz - GG -) betroffen ist (vgl. BSGE 2, 201; BVerwG NJW 65, 2317; BVerwG NVwZ - 88 - 125; Meyer-Ladewig, 6. Auflage, § 159 Rdnr. 5; Rohwer-Kahlmann a.a.O.; Peters-Sauters-Wolff, Kommentar zum SGG, 4. Auflage, § 159 Rdnr. 9). Die Rechtsprechung verstößt nur dann gegen Artikel 101 Abs. 1 Satz 2 GG wenn Zuständigkeitsregelungen willkürlich unrichtig angewandt werden. Eine irrtümliche Verletzung reicht nicht aus (vgl. Pieroth in Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 7. Auflage, Artikel 101 Rdnr. 11). Vorliegend kann von einer willkürlichen, nicht mehr verständlichen, offensichtlich unhaltbaren Verletzung nicht die Rede sein. Dem Sozialgericht ist bei der Auslegung der Prozesserklärungen vom 5. Juli 2002 ein schlichter Rechtsirrtum unterlaufen. Zutreffend hat es zwar erkannt, dass auch Prozesserklärungen der Auslegung zugänglich sind (vgl. Heinrichs in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 62. Auflage, § 133 Rdnr. 4), die Grenzen einer solchen Auslegung aber verkannt, da diese nach herrschender Ansicht in der Rechtsprechung (vgl. die Nachweise bei Heinrichs, a.a.O. Rdnr. 6) am Wortlaut endet (kritisch dazu das Schrifttum; vgl. die Nachweise bei Heinrichs a.a.O). Hinzu kommt, dass eine Klageänderung in der vorliegenden Fallgestaltung regelmäßig als sachdienlich angesehen wird und den "Normalfall" darstellt. Im Rahmen der danach zu treffenden Ermessensentscheidung kommt eine Zurückverweisung nicht in Betracht, da das Urteil des Sozialgerichts im Ergebnis nicht zu beanstanden, der Sachverhalt überschaubar und weitere Aufklärung nicht geboten ist.

Nach § 83 SGB III können Fahrtkosten bei einer erforderlichen auswärtigen Unterbringung für die An- und Abreise und für eine monatliche Familienheimfahrt oder anstelle der Familienheimfahrt für eine monatliche Fahrt eines Angehörigen zum Aufenthaltsort des Arbeitnehmers übernommen werden.

Im Ergebnis begegnet es keinen durchgreifenden Bedenken, wenn die Beklagte die Kosten einer Heimfahrt nur für volle Kalendermonate übernimmt. Für eine solche Auslegung spricht schon der Wortlaut der Norm. Nach § 339 SGB III, der die Berechnung von Zeiten im SGB III regelt, wird ein Monat mit 30 Tagen berechnet. Auch danach erfüllt der Kläger die Voraussetzungen für die Übernahme der Kosten für drei Heimfahrten nicht, denn das Praktikum hat nur 87 Tage gedauert.

Sinn und Zweck der Vorschrift ist es, dem auswärtig untergebrachten Fortzubildenden die Aufrechterhaltung des Kontakts zur Familie bzw. zu einem Angehörigen in einem Umfang von einem Besuch pro Monat zu ermöglichen. Dauert die Fortbildung keinen ganzen Monat, bedarf es schon deshalb keiner monatlichen Familienheimfahrt, weil der Fortzubildende den Kontakt zur Familie oder zu den Angehörigen in der übrigen Zeit pflegen kann. Auch hier hatte der Kläger die Möglichkeit, die Zeit vom 1. bis 4. November in Berlin zu verbringen. Diese Möglichkeit hatte ein Fortzubildender, dessen Praktikum schon am 1. November 2001 begann, nicht. Nach dem zwischen der Ausbildungsstätte und dem Praktikumsbetrieb geschlossenen Praktikantenvertrag war kein Urlaub zu gewähren. Zu Recht hat das Sozialgericht daher darauf hingewiesen, dass der Fall des Kollegen des Klägers nicht vergleichbar sei, weil dieser sein Praktikum bereits am 1. November 2001 begonnen habe.

Aber selbst wenn es in dem Fall des Kollegen zu einer Urlaubsgewährung vom 1. bis 4. November gekommen sein sollte, würde dies an der Beurteilung nichts ändern. Bei dieser Fallgestaltung wäre es zu einer Suspendierung der Pflichten aus dem Praktikantenvertrag nur unter Geltendmachung der aus diesem resultierenden Rechte gekommen. An der grundsätzlichen Pflicht, das Praktikum ab 1. November 2001 abzuleisten, hätte dies nichts geändert. Der Kläger dagegen war während vier Tagen im November 2001 nicht zur Praktikumsleistung verpflichtet. Dies ist ein ausreichender Grund, die beiden Fallgestaltungen vor dem Hintergrund des Artikel 3 GG unterschiedlich zu behandeln.

Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger nichts für sich Günstiges daraus ableiten könnte, wenn dem Praktikumskollegen H tatsächlich drei Heimfahrten bewilligt worden sein sollten, obwohl dessen Praktikum ebenfalls erst am 5. November 2001 hätte beginnen sollen. Diese Entscheidung der Beklagten wäre rechtswidrig gewesen. Artikel 3 GG gewährt keinen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht.

Der Kläger kann auch nicht mit seinem Vortrag durchdringen, er sei so zu behandeln, als habe das Praktikum spätestens am 2. November 2001 begonnen, weil eine Anreise zum Praktikumsantritt am Montag, dem 5. November 2001 am Wochenende, also dem 3. und 4. November 2001, nicht zumutbar gewesen sei. Warum eine Anreise an einem Sonntag zu einem am Montag beginnenden Praktikum allerdings unzumutbar sein soll, hat der Kläger nicht weiter dargelegt. Der Senat kann keine Gründe für eine solche Haltung erkennen. Es entspricht der Lebenswirklichkeit in der Arbeitswelt der Bundesrepublik Deutschland, dass eine Vielzahl von Arbeitnehmern während der Woche an einem auswärtigen Arbeitsplatz arbeiten muss und nur am Wochenende zu Familie oder sonstigen Angehörigen zurückkehren kann. Auch diese Arbeitnehmer haben es selbstverständlich sicherzustellen, nach dem Besuch ihrer Familien am Wochenende wieder am Montag zur Arbeit erscheinen zu können und müssen deshalb auch am Wochenende anreisen. Nicht anders ergeht es z.B. Wehrpflichtigen, die lediglich am Wochenende nicht in der Kaserne anwesend sein müssen. Den vom Kläger behaupteten Grundsatz der Unzumutbarkeit einer Anreise am Wochenende zur Aufnahme einer Tätigkeit am Montag gibt es in der Rechtswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland nicht.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved