L 3 U 155/18

Land
Rheinland-Pfalz
Sozialgericht
LSG Rheinland-Pfalz
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Koblenz (RPF)
Aktenzeichen
S 7 U 206/16
Datum
2. Instanz
LSG Rheinland-Pfalz
Aktenzeichen
L 3 U 155/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Minderung der Erwerbsfähigkeit, MdE, MdE-Expertengruppe, Vorschläge zur MdE-Bewertung, Erfahrungswerte
Die Vorschläge der „MdE-Expertengruppe“ der DGUV aus dem Jahr 2018 zur MdE-Bewertung bei Gliedmaßenverlusten können (noch) nicht als aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand angesehen werden.
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 26.4.2018 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist ein Anspruch auf Weitergewährung einer Rente wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls streitig.
Die 1961 geborene Klägerin erlitt am 23.11.2011 bei ihrer beruflichen Tätigkeit als Justizangestellte einen Unfall, als sie eine schwere Akte von einem Schrank holte und ihr linker Daumen dabei nach hinten überdehnt wurde. Sie begab sich am 24.11.2011 zu ihrem Hausarzt, der einen Kapselbandabriss am linken Daumen diagnostizierte und den Unfall der Beklagten meldete. Am 20.12.2011 stellte der Durchgangsarzt Dr. C eine ältere ulnare Bandruptur am rechten Daumen (anscheinend eine Seitenverwechslung) fest und verordnete die bereits vorhandene Daumenschiene weiter für 2 Monate. In einem Nachschaubericht vom 27.3.2012 stellte er die Diagnose "Bandruptur Daumen links".
Am 12.6.2012 stellte sich die Klägerin auf Veranlassung der Beklagten im Bundeswehrzentralkrankenhaus in K vor und berichtete über fortbestehende Schmerzen am rechten Daumengrundgelenk. Auf Anraten der der dortigen Ärzte ließ sie am 31.1.2013 in den H -Kliniken in W eine Bandersatzplastik durchführen. Bei einer Nachuntersuchung am 27.3.2013 wurde festgestellt, dass das Gelenk nicht stabil war. Der Orthopäde Dr. K bezeichnete im Nachschaubericht vom 27.6.2013 die linke Hand der Klägerin als gebrauchsunfähig. Die Klägerin stellte sich dann am 18.7.2013 erneut im Bundeswehrzentralkrankenhaus vor, wo ihr zu einer weiteren Bandplastik geraten wurde. Im Bericht vom 18.7.2013 heißt es, erschwerend für die Abgrenzung der Beschwerdesymptomatik liege eine Rhizarthrose mit deutlich nachweisbaren radiologischen Veränderungen im Stadium II bis III nach Eaton-Littler vor. Die Nachoperation mit Refixation des ulnaren Bandapparates wurde am 10.09.2013 durchgeführt. Bei einer Nachuntersuchung am 9.10.2013 stand der Daumen weiterhin in Abduktionsstellung und das ulnare Seitenband zeigte sich weiterhin instabil. Die Klägerin stellte sich daraufhin am 17.1.2014 in der Klinik für Handchirurgie in B vor. Im Bericht vom 30.1.2014 wird mitgeteilt, man plane zum einen wegen der unfallbedingt fortbestehenden Instabilität eine Arthrodese des linken Daumengrundgelenks. Zum anderen bestünden unfallunabhängig Schmerzen über dem linken Daumensattelgelenk, die auf die Rhizarthrose zurückzuführen seien. Diese wolle man gleichzeitig "zu Lasten der Krankenkasse" mittels Arthroplastik am Daumensattelgelenk behandeln. Die Operation wurde am 2.5.2014 durchgeführt.
Mit Schreiben vom 28.6.2014 beantragte die Klägerin, die Rhizarthrose an ihrer linken Hand als Unfallfolge anzuerkennen. Die Rhizarthrose sei durch die 2 Jahre lange Fehlstellung des Daumens infolge zweier erfolgloser Operationen entstanden. Sie sei Rechtshänderin. Wenn sie zu Arthrosen neigen würde, müssten diese in der rechten Hand auftreten, was aber nicht der Fall sei. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 28.7.2014 diesen Antrag ab und führte zur Begründung aus, die im Verlaufe der Behandlung der Bandruptur am linken Daumen festgestellte Rhizarthrose sei nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich auf den Unfall vom 23.11.2011 zurückzuführen. Dies sei in den Behandlungsberichten der Klinik für Handchirurgie B bestätigt worden.
Während des anschließenden Widerspruchsverfahrens erstattete der Durchgangsarzt Dr. C einen Zwischenbericht vom 29.8.2014, in dem er die Rhizarthrose als unfallunabhängig bezeichnete. Die Klägerin legte ein Attest ihres Hausarztes J vom 1.9.2014 vor, der die Auffassung vertrat, dass die Rhizarthrose an der linken Hand unter Berücksichtigung der Rechtshändigkeit der Patientin eindeutig als Unfallfolge anzusehen sei. Dagegen führte der Unfallchirurg Dr. H in einer beratungsärztlichen Stellungnahme vom 11.6.2014 aus, eine direkte unfallbedingte Verursachung der Daumensattelgelenksarthrose sei nicht wahrscheinlich. Es fehle unfallnah jeglicher Erstbefund des Daumensattelgelenks, alle Befunde bezögen sich auf das Grundgelenk. Gründe für eine sekundäre Unfallfolge im Sinne einer Anschlussarthrose seien ebenfalls nicht zu erkennen. Auf Veranlassung der Beklagten stellte sich die Klägerin am 22.10.2014 bei dem Neurologen Dr. K vor, der eine teilstationäre medizinische Rehabilitation einleitete, die bis zum 5.12.2014 dauerte. Mit Widerspruchs-bescheid vom 19.11.2014 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 28.7.2014 zurück. Hiergegen erhob die Klägerin beim Sozialgericht (SG) Koblenz Klage (S 15 U 335/14).
Unterdessen holte die Beklagte ein Gutachten ("Erstes Rentengutachten") des Unfallchirurgen Dr. R vom 2.5.2015 ein. Dieser stellte als verbliebene Unfallfolgen fest: Knöchern konsolidierte Arthrodese des linken Daumengrundgelenks und Sensibilitätsminderung über dem linken Daumen sowie Minderung der groben Kraft der linken Hand. Die Rhizarthrose links bei deutlicher Bewegungseinschränkung und Sensibilitätsstörungen wurde als unfallunabhängig angesehen. Die unfallbedingte MdE bewertete der Gutachter mit 10 vH. Der Beratungsarzt Privatdozent Dr. K stimmte dieser Beurteilung in seiner Stellungnahme vom 11.7.2015 im Wesentlichen zu, vertrat aber die Auffassung, dass bis zum Zeitpunkt der Arthrodese wegen der Instabilität im Daumengrundgelenk eine MdE von 20 vH vorgelegen habe.
Daraufhin bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 26.10.2015 eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH für die Zeit vom 24.11.2011 bis zum 21.12.2014. Darüber hinaus lehnte die Beklagte die Zahlung einer Rente mit der Begründung ab, dass die Erwerbsfähigkeit nicht mehr um mindestens 20 vH eingeschränkt sei. Als Unfallfolgen wurden anerkannt: "Am linken Arm: Reizlose Narbe am Daumen, Sensibilitätsminderung über dem Daumen, Minderung der groben Kraft der Hand nach ulnarer Bandruptur des linken Daumens und nachfolgender Versteifung des Daumengrundgelenkes." Als Folgen des Versicherungsfalles wurden nicht anerkannt: "Rhizarthrose am linken Daumen mit deutlicher Bewegungseinschränkung und Sensibilitätsstörung am linken Handgelenk (siehe da-zu aber laufendes Klageverfahren) sowie Bandscheibenvorfälle im HWS-Bereich." Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin Widerspruch.
Im anhängigen Klageverfahren gegen den Bescheid vom 28.7.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.11.2014 (S 15 U 335/14) holte das Sozialgericht (SG) Koblenz ein Gutachten des Unfallchirurgen Dr. R vom 14.11.2015 ein. Dieser vertrat die Auffassung, dass die Rhizarthrose, die beginnend auch rechts vorhanden sei, nicht als Unfallfolge anzusehen sei. Der Unfallhergang und die Schwere der Verletzung seien nicht geeignet gewesen, eine direkte Verletzung des Daumensattelgelenks und als Folge eine Arthrose hervorzurufen. Als Unfallfolge bestehe eine Versteifung des Daumengrundgelenks links sowie eine eingeschränkte Beweglichkeit im Daumenendglied und im Handgelenk links. Die Rhizarthrose sei idiopathisch und ohne erkennbare äußere Ursache entstanden. Entsprechend den Beweisfragen gab Dr. R keine Einschätzung der Höhe der unfallbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ab. Die Klägerin nahm daraufhin am 13.1.2016, die Klage zurück.
Den Widerspruch gegen den Bescheid vom 26.10.2015 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 8.8.2016 zurück. Am 23.08.2016 hat die Klägerin beim SG Koblenz Klage erhoben und vorgetragen, sie könne mit der linken Hand keinerlei Gegenstände festhalten und die Finger seien taub, es bestehe ein Schmerzsyndrom und es sei bereits mehrfach zu Arbeitsunfähigkeitszeiten gekommen. Einen vollen Arbeitstag könne sie nur mit Ruhepausen bewältigen. Insbesondere müsse auch die Rhizarthrose an dem linken Daumen als Unfall-folge mitberücksichtigt werden. Sie hat ein für die Deutsche Rentenversicherung (DRV) erstelltes orthopädisches Gutachten von Dr. H vom 5.10.2016 vorgelegt. Der Gutachter hat ausgeführt, die Klägerin könne ihre bisherige Tätigkeit als Justizangestellte wegen der Minderbelastbarkeit der linken Hand nur noch weniger als 3 Stunden täglich ausüben. Im Allgemeinen seien ihr leichte körperliche Arbeiten unter gewissen Einschränkungen für täglich 6 Stunden und mehr zumutbar.
Auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hat das SG ein Gutachten des Orthopäden Prof. Dr. Dr. A vom 5.11.2017 eingeholt. Der Sachverständige hat als Unfallfolgen festgestellt: Versteifung des Daumengrundgliedes, Bewegungseinschränkung des Daumenendgliedes und Bewegungseinschränkung des linken Handgelenks, abgeschwächtes Berührungsempfinden und Narbe an der Streckseite des linken Daumens sowie die Operationsnarben. Bei regelrechter Beweglichkeit der rechten Hand gelinge mit der linken Hand der Faustschluss ohne Einschluss des Daumens weitgehend regel-recht, mit Daumen dagegen nicht, der Pinzettengriff sei links zwischen Daumen und Zeigefinger möglich, wobei die Daumenkuppe nur die Palmarseite des Endgelenks des Zeigefingers erreiche, der Zangengriff sei nicht durchführbar. Die Bewegungseinschränkung des linken Daumenendgelenks und des linken Handgelenks seien als mittelbare Unfallfolgen wegen der lang anhaltenden Ruhigstellung von mindestens 28 Wochen auf den Unfall zurückzuführen. Die operativ versorgte Rhizarthrose links einschließlich der damit verbundenen Bewegungseinschränkung des linken Daumensattelgelenks und weiterer Beeinträchtigungen hat der Sachverständige als unfallunabhängige Erkrankung gewertet. Gegen einen Unfallzusammenhang spreche insoweit, dass degenerative Veränderungen am linken Daumensattelgelenk bereits auf den zeitnahen Röntgenaufnahmen zu erkennen gewesen seien und aktuell auch rechts radiologisch eine Rhizarthrose erkennbar sei. Die unfallbedingte MdE bewertet er unter Hin-weis auf "Mehrhoff-Meindl-Muhr" mit 15 vH, wobei er darauf hinweist, dass die Versteifung des Daumengrundgelenks in der Null-Stellung erfolgt ist.
Die Klägerin hat zu dem Gutachten ausgeführt, dass einige ihrer anamnestischen Angaben falsch wiedergegeben worden seien und auch die Untersuchungsergebnisse nicht vollständig bzw zum Teil unzutreffend wiedergegeben worden seien. Die Berührungsempfindlichkeit am linken Daumen und Handballen sei nicht nur abgeschwächt, sondern es bestehe eine Taubheit. Der Sachverständige habe auch nicht alle von ihr vorgelegten Röntgenaufnahmen ausgewertet. Unzutreffend sei auch die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs hinsichtlich der Rhizarthrose. Diese sei erst nach dem Unfall durch die Fehlstellung des Daumens entstanden und könne bei der Bewertung der MdE nicht unberücksichtigt bleiben. Die unfallbedingte MdE betrage 20 bis 25 vH.
Die Klägerin hat eine Stellungnahme ihres Hausarztes J vorgelegt, der wegen erheblicher Schmerzen und Taubheitsgefühle und starker Einschränkung von Feinmotorik und Beweglichkeit eine MdE von 20 bis 25 vH als zutreffend ansieht. Es sei nicht ausreichend, nur die Versteifung des Grundgelenks bei der MdE-Bewertung zu berücksichtigen, wie dies in dem Gutachten der Fall gewesen sei.
Das SG hat durch Urteil vom 26.4.2018 die Beklagte unter Änderung des Bescheids vom 26.10.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.8.2016 verurteilt, der Klägerin über den 21.12.2014 hinaus eine Rente nach einer MdE von 20 vH zu zahlen. Zur Begründung hat es ausgeführt, als Folgen des Unfalls vom 23.11.2011 seien neben der knöchern fest verheilten Versteifung des Daumengrundgelenks links auch eine Bewegungseinschränkung des Daumenendgelenks und des Handgelenks links sowie eine Sensibilitätsstörung an der Streckseite des linken Daumens zu berücksichtigen. Die von Dr. R und Prof. Dr. Dr. A im Wesentlichen übereinstimmend festgestellten Unfallfolgen begründeten insgesamt eine MdE von 20 vH. Da bereits die Versteifung des Daumengrundgelenks für sich allein eine MdE von 15 vH bedinge und die zusätzlich bestehenden Bewegungseinschränkungen im linken Daumenendgelenk und im linken Handgelenk auch nicht als nur geringfügig bzw unerheblich angesehen werden könnten, sei es gerechtfertigt, die unfallbedingte MdE höher als der Sachverständige Prof. Dr. Dr. A zu bewerten.
Das Urteil wurde der Beklagten am 16.7.2018 zugestellt. Am 6.8.2018 hat sie dagegen Berufung eingelegt. Sie trägt vor, das SG habe sich bei seiner Einschätzung der MdE auf das Gutachten von Prof. Dr. Dr. A gestützt. Der Sachverständige habe die unfallbedingte MdE mit 15 vH eingeschätzt. Dies sei noch zu hoch bemessen. Nach den geltenden Erfahrungswerten begründe die Amputation eines Daumens im Grundgelenk eine MdE von 20 vH. Demgegenüber sei die Klägerin wesentlich bessergestellt. Die Beklagte legt hierfür eine Stellungnahme ihres Beratungsarztes Dr. H vom 6.8.2019 vor. Dieser hat ausgeführt, die Bewegungsbefunde, die Prof. Dr. Dr. A bei seiner Untersuchung am 6.10.2017 erhoben habe, begründeten keine MdE von 20 vH. Die Beweglichkeit des linken Handgelenks der Klägerin entspreche den Normwerten. Das linke Daumengrundgelenk sei vollständig eingesteift, zusätzlich bestehe ein Funktionsdefizit des Endgelenks, das bei voller Streckung bis 20 Grad gebeugt werden könne. Der Befund entspreche in seinen Auswirkungen nicht dem generell mit einer MdE von 20 vH eingestuften Verlust eines Daumens im Grundgelenk. Der Vergleich der Handgelenksbeweglichkeit mit der unverletzten Seite sei nur plausibel, wenn das gesunde Handgelenk in seiner Beweglichkeit im Rahmen der Norm liege. Das sei hier nicht der Fall. Das rechte Handgelenk der Klägerin sei außer-gewöhnlich gut beweglich.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 26.4.2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie bezieht sich im Wesentlichen auf die Gründe des angefochtenen Urteils. Der Sachverständige Prof. Dr. Dr. A habe in seinem Gutachten die unfallbedingten Beeinträchtigungen unvollständig wiedergegeben. Insbesondere sei die Unterseite ihres linken Daumens vollständig taub. Die neben der Versteifung des Daumengrundgelenks vorliegenden Bewegungseinschränkungen des Daumenendgelenks und des Handgelenks sowie die Taubheit in weiten Bereichen begründeten zusammen eine MdE von 20 vH.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung des Senats war.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist begründet. Das SG hätte die Klage abweisen müssen.
Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 26.10.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.8.2016.
I. Die dagegen gerichtete Klage ist zulässig. Insbesondere ist sie nicht wegen der durch die Rücknahme der Klage im Verfahren mit dem Aktenzeichen S 15 U 335/14 eingetretenen Bestandskraft des Bescheids vom 28.7.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.11.2014 unzulässig. Der hier streitbefangene Bescheid vom 26.10.2015 ist nicht gem § 96 SGG Gegenstand des seinerzeit noch anhängigen Klageverfahrens S 15 U 335/14 geworden. Denn die Beklagte hat damit den Bescheid vom 28.7.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.11.2014 weder abgeändert noch ersetzt.
Mit dem Bescheid vom 28.7.2014 und dem Widerspruchsbescheid vom 19.11.2014 hatte die Beklagte bereits die Anerkennung der Rhizarthrose als Folge des Unfalls vom 23.11.2011 abgelehnt. Weitere Regelungen enthält der Bescheid nicht, insbesondere wurden keine Folgen des Unfalls vom 23.11.2011 positiv festgestellt und nicht über einen Rentenanspruch entschieden. Mit dem hier streitigen Bescheid vom 26.10.2015 hat die Beklagte zum einen der Klägerin für einen Zeitraum in der Vergangenheit eine Rente gewährt und für die Zeit danach ausdrücklich die Zahlung einer Rente abgelehnt. Zum anderen wurden die Folgen des Arbeitsunfalls vom 23.11.2011 festgestellt und darüber hinaus negative Feststellungen dahin getroffen, dass die Rhizarthrose links mit deutlicher Bewegungseinschränkung und Sensibilitätsstörung am linken Handgelenk sowie Bandscheibenvorfälle im HWS-Bereich nicht als Unfallfolgen anerkannt werden. Hinsichtlich der Rhizarthrose wurde damit die Feststellung des Bescheids vom 28.7.2014 wiederholt. Aus der maßgeblichen objektivierten Empfängersicht ist jedoch nicht ersichtlich, dass die Beklagte mit dem Bescheid vom 26.10.2015 ihren Bescheid vom 28.7.2014 abändern oder ganz oder teilweise ersetzen wollte. Sie hat der wiederholten Feststellung, dass die Rhizarthrose keine Folge des Arbeitsunfalls vom 23.11.2011 ist, den Zusatz "siehe dazu aber laufendes Klageverfahren" beigefügt und damit deutlich gemacht, dass sie das auf diese Einzelfrage beschränkte Verfahren weiterführen wollte, also die nunmehr getroffene Entscheidung über den Rentenanspruch nicht an die Stelle der vorangegangenen Teilentscheidung treten sollte. Offenbar wollte man diese Einzelfrage "abschichten" und im laufenden Klageverfahren klären. Über die Sinnhaftigkeit dieses Vorgehens hat das Gericht nicht zu entscheiden. Die nochmalige Feststellung zur Rhizarthrose ist somit als bloße "wiederholende Verfügung" ohne Regelungscharakter anzusehen. Als solche wurde sie nicht nach § 96 SGG Gegenstand des laufenden Klageverfahrens.
Der Bescheid vom 28.7.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.11.2014 ist durch die Rücknahme der dagegen gerichteten Klage bestandskräftig geworden. Für die Beteiligten ist dadurch nach § 77 SGG bindend festgestellt, dass die bei der Klägerin bestehende Rhizarthrose links keine Folge des Arbeitsunfalls vom 23.11.2011 ist. Dies entspricht indes auch der Sachlage, wie unten noch ausgeführt werden wird.
II. Bei der Klägerin bestehen als Folgen des Unfalls vom 23.11.2011 und der dadurch bedingten Behandlungsmaßnahmen die knöchern fest verheilte Versteifung des Daumengrundgelenks links in Nullstellung sowie eine Bewegungseinschränkung des Daumenendgelenks und dadurch bedingt eine Minderung der groben Kraft der Hand, eine Sensibilitätsminderung über dem Daumen und die verbliebenen Narben mit einer Sensibilitätsstörung an der Streckseite des linken Daumens. Diese Feststellungen beruhen auf den Gutachten von Dr. R 2.5.2015, Dr. R vom 14.11.2015 und Prof. Dr. Dr. A vom 5.11.2017. Die Gutachter haben die Unfallfolgen im Wesentlichen übereinstimmend bezeichnet. Insbesondere besteht Einigkeit darüber, dass die linksseitige Rhizarthrose in keinem ursächlichen Zusammenhang mit der Unfallverletzung steht. Zuletzt hat der Sachverständige Prof. Dr. Dr. A darauf hingewiesen, dass degenerative Veränderungen am linken Daumensattelgelenk bereits auf den kurz nach dem Unfall vom 23.11.2011 angefertigten Röntgenaufnahmen zu erkennen waren und aktuell auch auf der vom Unfall nicht betroffenen rechten Seite radiologisch eine Rhizarthrose erkennbar ist. Der Senat hält die Einschätzung der Gutachter, dass die Arthrose des rechten Daumensattelgelenks nicht durch die Unfallverletzung vom 23.11.2011 verursacht worden ist.
Die feststellbaren Folgen des Arbeitsunfalls vom 23.11.2011 begründen keine MdE von 20 vH. Die Bemessung des Grades der MdE ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG eine tatsächliche Feststellung, die das Tatsachengericht unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalls gemäß § 128 Abs 1 S 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen richterlichen Überzeugung trifft. Bei einer Vielzahl von Unfallfolgen haben sich im Laufe der Zeit für die Schätzung der MdE-Erfahrungswerte herausgebildet. Sie sind in Form von Rententabellen oder Empfehlungen zusammengefasst und dienen als Hilfsmittel für die MdE-Einschätzung im Einzelfall. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber als in sich stimmiges Beurteilungsgefüge die Grundlage für eine gleichbleibende Bewertung der MdE (vgl BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 31/02 R -), ohne dass eine exakte rechtsdogmatische Einordnung der MdE-Tabellen erforderlich wäre (vgl dazu BSG, Urteil vom 20.12.2016 – B 2 U 11/15 R – juris Rn 18 f). MdE-Tabellen bezeichnen typisierend das Ausmaß der durch eine körperliche, geistige oder seelische Funktionsbeeinträchtigung hervorgerufenen Leistungseinschränkungen in Bezug auf das gesamte Erwerbsleben und ordnen körperliche oder geistige Funktionseinschränkungen einem Tabellenwert zu. Die in den Tabellen und Empfehlungen enthaltenen Richtwerte geben damit auch allgemeine Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher Beeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit aufgrund des Umfangs der den Verletzten versperrten Arbeitsmöglichkeiten wieder und gewährleisten, dass die Ver-letzten bei der medizinischen Begutachtung nach einheitlichen Kriterien beurteilt werden (vgl BSG vom 5.9.2006 - B 2 U 25/05 R - und vom 18.3.2003 - B 2 U 31/02 R – jeweils juris).
Ein medizinischer Erfahrungssatz entspricht in der Regel dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand, wenn er von allen oder den meisten in dem entsprechenden Fachgebiet Kundigen vertreten wird. Er kann aber auch dann den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen, wenn er nicht von allen im jeweiligen Erkenntnissystem Handelnden geteilt wird und auch abweichende Auffassungen vertreten werden. Deshalb kann allein aus dem Vorliegen unterschiedlicher Auffassungen bei den im entsprechenden Fachgebiet Kundigen nicht geschlossen werden, dass ein Erfahrungssatz falsch ist oder nicht mehr dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entspricht (vgl BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R juris Rn 28).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze geht der Senat weiterhin mit der weit überwiegenden Meinung der Fachliteratur und der wohl einheitlichen Rechtsprechung davon aus, dass der Verlust eines Daumens im Grundgelenk eine MdE von 20 vH begründet (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, S 605; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Anhang 12, S J 051; inhaltsgleich Kranig in Hauck/Noftz, K § 56 Rn 72, jeweils mwN). Soweit neuerdings hierfür ein Wert von 30 vH angegeben wird, beruht dies nicht auf einem wissenschaftlichen Konsens. Mehrhoff/Ekkernkamp/Wich (Unfallbegutachtung, 14. Auflage 2019, S 177) beziehen sich für die Höherbewertung auf eine "Konsensuskonferenz zur MdE-Neubewertung vom 27.06.2018", ohne hierzu nähere Angaben zu machen. Offensichtlich ist damit die Arbeit der "MdE-Expertengruppe" der DGUV gemeint, die ihre Beratungen im Sommer 2015 aufgenommen hat (vgl Scholtysik/Wich, Minderung der Erwerbsfähigkeit [MdE] in der gesetzlichen Unfallversicherung – Aktuelle Diskussion und Ergebnisse aus der MdE-Expertengruppe, Trauma und Berufskrankheit Sonderheft 4/2018, S 244-250). Die Ergebnisse wurden auf einer Tagung am 27.6.2018 in Berlin der Fachöffentlichkeit vorgestellt und diskutiert. Anschließend sollte der finalisierte Konsensbericht mit Begründungen und den neuen Eckwerten bei Amputationen veröffentlicht werden. Eine Veröffentlichung ist bislang allerdings noch nicht erfolgt (vgl den Bericht von Scholtysik "Sachstand Neubewertung der MdE-Werte", gehalten auf der ver.di Selbstverwaltungstagung GKV/GUV in Berlin am 23.4.2019, im Internet veröffentlicht). Es erfolgten lediglich Diskussionen der neuen "Eckwerte" zur MdE, so auf dem 7. Deutschen Sozialgerichtstag am 27. und 28.9.2018 im Rahmen der Kommission zum SGB VII zum Thema "Grundlagen und Weiterentwicklung der MdE-Bemessung" (vgl das im Internet auffindbare Tagungsprogramm) sowie auf der 94. Tagung der Arbeitsgemeinschaft (AG) Sozialmedizin und Begutachtungsfragen der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) am 25.10.2018 (vgl den Bericht von Schiltenwolf in Orthopädie und Unfallchirurgie 2019, S 44).
Bei der Expertengruppe der DGUV handelt es sich um ein unabhängiges und neutrales Gremium mit unfallchirurgisch-orthopädischen, reha-, sozial- und arbeitsmedizinischen Experten, die von den jeweiligen medizinischen Fachgesellschaften benannt wurden, ergänzt um Experten der Unfallversicherungsträger. Wissenschaftlicher Leiter ist der Unfallchirurg Prof. Dr. S , der auch Leiter der Arbeitsgemeinschaft Sozialmedizin und Begutachtungsfragen der DGOU ist. Die Expertengruppe hat ihre Untersuchungen auf Gliedmaßenverluste beschränkt. Der zunächst verfolgte Ansatz, die Anforderungen des heutigen Arbeitsmarkts als Maßstab der Funktionseinschränkungen zu nehmen, konnte nicht weiterverfolgt werden, da keine validen Arbeitsmarktdaten zu verschlossenen Beschäftigungsmöglichkeiten mit bestimmten Gliedmaßenverlusten erhoben werden konnten. Die schließlich ausgesprochenen Vorschläge zur MdE-Bewertung beruhen auf dem "vielfältigen Fachwissen" der Mitglieder der Expertengruppe über Funktionsstörungen und deren Auswirkungen im Erwerbsleben (Scholtysik aaO S 246 f). Der gruppeninterne Konsensusprozess erfolgte auf der Grundlage aller bekannten MdE-Tabellenwerte ausgehend von den jeweils schwersten Verletzungsfolgen unter Einteilung in Funktionsklassen. Berücksichtigung fand weiter das bei dem überwiegenden Anteil der Betroffenen erreichbare Therapieergebnis auf der Grundlage leitliniengerechter Therapie. Die konsentierten Vorschläge zur MdE bei Gliedmaßenverlusten liegen zum Teil über und zum Teil unter den bisher anerkannten Erfahrungswerten.
Aus den Berichten ist zu entnehmen, dass die Vorschläge der Expertengruppe zwar auf vielfältigem Fachwissen und langjähriger Erfahrung ihrer Mitglieder als behandelnde Ärzte und Gutachter (so zB in der Person des wissenschaftlichen Leiters Schiltenwolf) beruhen und eine gewisse Plausibilität für sich haben. Sie können aber zumindest noch nicht als aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand angesehen werden.
Die Beeinträchtigungen der linken Hand der Klägerin begründen nach den geltenden Erfahrungswerten keine MdE von 20 vH. Dies ergibt sich aus der Erwägung, dass erst der Verlust eines Daumens im Grundgelenk diesen Wert erreicht, die Klägerin aber bei erhaltenem Daumen mit teilweise erhaltener Greiffunktion jedenfalls wesentlich besser gestellt ist als bei einem Verlust des Daumens. Die vom SG angeführten zusätzlichen Einschränkungen durch Minderung der Sensibilität und die Einschränkung der Beugefähigkeit des Daumenendgelenks fallen dabei nicht erheblich ins Gewicht. Denn auch unter Berücksichtigung der dadurch zweifellos erschwerten Greifbewegungen verbleibt der Klägerin nach operativ herbeigeführter Versteifung des Grundgelenks in Nullstellung in Anbetracht der vom Sachverständigen Prof. Dr. Dr. A mitgeteilten Funktionsbefunde eine Gebrauchsfähigkeit der verletzten linken Hand, die im Fall des Verlusts des Daumens nicht bestünde. Die Einschätzung der durch die Folgen des Unfalls vom 23.11.2011 bedingten MdE mit 20 vH wäre nur dann vertretbar, wenn man dem Vorschlag der MdE-Expertengruppe der DGUV folgte und eine MdE von 30 vH für den Verlust eines Daumens annehmen wollte. Dies gilt auch für den von Mehrhoff ua (aaO S 179) angegebenen Wert von 15 vH für die Versteifung eines Daumengrundgelenks in Nullstellung. Die Übernahme der Vorschläge der MdE-Expertengruppe scheidet jedoch aus den oben dargelegten Erwägungen aus.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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