L 3 KG 2/16

Land
Rheinland-Pfalz
Sozialgericht
LSG Rheinland-Pfalz
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
3
1. Instanz
SG Mainz (RPF)
Aktenzeichen
S 14 KG 5/15
Datum
2. Instanz
LSG Rheinland-Pfalz
Aktenzeichen
L 3 KG 2/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Kindergeld: Verhältnis von sozialrechtlichem und steuerrechtlichem Kindergeld - Kein einheitlicher Streitgegenstand - unbefristete Bewilligung von sozialrechtlichem Kindergeld - Änderungsbescheide nach Klageerhebung
1. Mangels einheitlichen Streitgegenstands wird ein steuerrechtlicher Kindergeldbescheid, der im laufenden gerichtlichen Verfahren anstelle eines streitgegenständlichen sozialrechtlichen Kindergeldbescheides ergeht, nicht nach § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens.
2. Bescheide, die nach Klageerhebung eine unbefristete Bewilligung von sozialrechtlichem Kindergeld aufheben oder ändern, werden nach § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens (Abgrenzung zu BFH vom 7.3.2013 – V R 61/10 – und vom 22.12.2011 – III R 41/07 - juris)
1. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mainz vom 3.2.2016 wird zurückgewiesen.
2. Der Aufhebungsbescheid vom 19.10.2016 wird aufgehoben.
3. Die Klagen gegen den endgültigen Bewilligungsbescheid vom 15.3.2016 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 30.11.2017, gegen den vorläufigen Bewilligungsbescheid vom 15.3.2016 sowie gegen die Bescheide vom 04.07.2018 werden abgewiesen.
4. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten sind Ansprüche der Klägerin auf Kindergeld streitig.
Die Klägerin ist niederländische Staatsangehörige und seit dem 10.9.2013 in A (Nordrhein-Westfalen) als Arbeitnehmerin beschäftigt. Sie hat mit ihren Kindern und ihrem Lebensgefährten ihren Wohnsitz in den Niederlanden. Am 12.10.2013 beantragte sie Kindergeld für ihre beiden Söhne F (geb am 2000) und M (geb am 2002). Ausweislich zweier Bescheinigungen des Finanzamts A vom 19.9.2013 und vom 28.5.2014 war die Klägerin in den Jahren 2013 und 2014 beschränkt einkommensteuerpflichtig nach § 1 Abs 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Seit dem Jahr 2015 war sie auf Antrag unbeschränkt einkommensteuerpflichtig.
Der Lebensgefährte der Klägerin war in den Niederlanden beschäftigt und erhielt für beide Kinder Familienleistungen ("Kinderbijslag" und "kindgebonden Budget"). Das kindgebonden budget wird in den Niederlanden einkommensabhängig gewährt und aufgrund einer Prognose jeweils vorläufig bewilligt. Die endgültige Bewilligung erfolgt nach Kenntnis des im jeweiligen Kalenderjahr er-zielten Familieneinkommens. Der kinderbijslag ist nicht vom Einkommen abhängig und wird für jedes Kind quartalsweise gewährt und ausgezahlt. Die S Vbank in D teilte der Beklagten in 2 Schreiben vom 29.1.2014 und vom 12.3.2014 mit, der Anspruchsvorrang hinsichtlich der Familienleistungen liege in den Nieder-landen.
Die Beklagte gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 10.3.2015 vorläufig (Verweis auf § 42 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch – SGB I ) ab September 2013 Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) unter Anrechnung der seinerzeit bewilligten niederländischen Familienleistungen. Dem Bescheid war eine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt, nach der Widerspruch innerhalb von 3 Monaten nach Bekanntgabe des Bescheids zu erheben war. Mit Schreiben vom 19.8.2015, bei der Beklagten eingegangen am 21.8.2015 erhob die Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 15.3.2015 und trug vor, die niederländischen Familienleistungen seien zu hoch angesetzt worden.
Auf Nachfrage der Beklagten erklärte die Klägerin, sie habe den Bescheid vom 10.3.2015 "sofort bekommen". Ihr Steuerberater habe ihr helfen wollen und sei krank geworden. Mit Widerspruchsbescheid vom 8.9.2015 wurde der Widerspruch als unzulässig verworfen und zur Begründung ausgeführt, die Klägerin habe die Widerspruchsfrist von 3 Monaten nicht eingehalten. Auch wenn man zugunsten der Klägerin annehme, dass sie den angefochtenen Bescheid erst am 31.3.2015 erhalten habe, sei die Widerspruchsfrist mit dem 30.6.2015 abgelaufen gewesen. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lägen nicht vor. In einem internen Vermerk vom 7.10.2015 heißt es, der verfristete Widerspruch sei als Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X zu werten, die Stelle "F31" wurde gebeten, darüber zu entscheiden.
Am 17.9.2015 hat die Klägerin beim Sozialgericht (SG) Mainz Klage erhoben und den E-mailverkehr mit ihrem Steuerberater vorgelegt.
Das SG hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 3.2.2016 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Klage sei als Anfechtungsklage gegen den Widerspruchsbescheid vom 8.9.2015 auszulegen. Über mehr dürfe im gerichtlichen Verfahren nicht entschieden werden, weil die Beklagte noch nicht in der Sache entschieden habe. Der Widerspruchsbescheid sei nach deutschem und europäischem Recht rechtmäßig. Hierfür wurde auf die Gründe des Widerspruchsbescheids verwiesen. Die anstehende Prüfung nach § 44 SGB X könne die Klägerin beschleunigen, indem sie der Beklagten die benötigten Unterlagen übermittle.
Der Gerichtsbescheid wurde der Klägerin per Einschreiben mit Rückschein übersandt. Ein Rückschein befindet sich nicht in der Gerichtsakte. Am 19.2.2016 ging beim SG ein Schreiben der Klägerin mit der Überschrift "Widerspruch gegen den Bescheid" ein. Die Klägerin trägt vor, ihr Steuerberater habe ihr versprochen, sich um die Angelegenheit zu kümmern, habe dies aber nicht getan.
Auf Anforderung der Beklagten legte die Klägerin Bescheide über das endgültige kindgebonden budget für die Jahre 2013 und 2014 vor. Die Beklagte hat daraufhin mit Bescheid vom 15.3.2016 der Klägerin für die Zeit vom 1.9.2013 bis zum 31.12.2014 endgültig Kindergeld nach dem BKGG bewilligt. Die Neuberechnung führte zu einer Nachzahlung von 472,23 EUR.
Mit einem weiteren Bescheid vom 15.3.2016 hat der Beklagte der Klägerin monatliche Leistungen von 155,91 EUR als Vorschüsse auf das Kindergeld nach dem BKGG ab April 2016 gewährt und dabei niederländische Familienleistungen von 224,09 EUR berücksichtigt.
Mit Schreiben vom 25.3.2016 an die Beklagte bemängelte die Klägerin nochmals, es würden zu hohe niederländische Familienleistungen berücksichtigt. Diesem Schreiben war eine Bescheinigung des Finanzamtes A vom 3.3.2015 für ihre Arbeitgeberin beigefügt, wonach die Klägerin im Jahr 2015 auf Antrag unbeschränkt einkommensteuerpflichtig war. Die Beklagte hat mit Bescheid vom 19.10.2016 die Bewilligung von Kindergeld nach dem BKGG für die beiden Kinder der Klägerin für das Jahr 2015 aufgehoben. Die Entscheidung wurde auf § 48 SGB X gestützt. Zur Begründung wurde ausgeführt, ein Anspruch auf Kindergeld nach dem BKGG habe im Jahr 2015 nicht bestanden, weil die Klägerin nach § 1 Abs 3 EStG unbeschränkt steuerpflichtig gewesen sei. Ein Anspruch auf Kindergeld bestehe nach dem Einkommensteuergesetz (EStG). Mit einem weiteren Bescheid vom 19.10.2016 hat die Beklagte der Klägerin auf der Grundlage des endgültigen Bescheids vom 30.9.2016 über das kindgebonden budget für 2015 Kindergeld nach dem EStG unter Berücksichtigung der niederländischen Familienleistungen für das Jahr 2015 abschließend bewilligt und der Klägerin 1.478,76 EUR nachgezahlt. Nachdem die Klägerin nachgewiesen hatte, dass ihr Lebensgefährte letztlich für das Jahr 2014 kein kindgebonden budget erhalten hatte und schon erhaltene Leistungen zurückzahlen musste, teilte die Be-klagte der Klägerin mit Schreiben vom 30.11.2017 mit, für 2014 sei ein kindgebonden budget von 347,00 EUR angerechnet worden, sie werde eine Nachzahlung in dieser Höhe erhalten. Mit Bescheiden vom 4.7.2018 hat die Beklagte der Klägerin für das Jahr 2016 abschließend sowie für 2017 und ab Januar 2018 vorläufig Kindergeld nach dem EStG bewilligt.
Die Klägerin hat im Berufungsverfahren endgültige Bescheide über das kindgebonden budget für die Jahre 2013, 2014, 2015, 2016 und 2017 sowie eine Übersicht über den kinderbijslag vom 4. Quartal 2014 bis zum 4. Quartal 2016 vorgelegt.
Die Klägerin beantragt erkennbar,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mainz vom 3.2.2016 aufzuheben, den Bescheid vom 10.3.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.9.2015, den Bescheid vom 15.3.2016 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 30.11.2017 und die Bescheide vom 15.3.2016, 19.10.2016 und vom 4.7.2018 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab dem 1.9.2013 höheres Kindergeld zu gewähren, sowie den Aufhebungsbescheid vom 19.10.2016 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen und die Klagen abzuweisen.
Sie trägt vor, sie habe nunmehr bis Dezember 2016 abschließend Kindergeld unter Berücksichtigung der endgültig gezahlten niederländischen Familienleistungen bewilligt. Der Umstand, dass die Klägerin ab Januar 2015 Kindergeld nach dem EStG erhalte, führe dazu, dass sich das gerichtliche Verfahren nur auf den Zeitraum September 2013 bis Dezember 2014 und auf die Frage erstrecke, ob der Klägerin Kindergeld nach dem BKGG rechtmäßig gewährt worden sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten des Beklagten und der Gerichtsakten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung des Senats war.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung, die die Klägerin erkennbar mit ihrem "Widerspruch gegen den Bescheid" eingelegt hat, ist unbegründet. Das SG hat die Klage gegen den vorläufigen Kindergeldbescheid vom 10.3.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.9.2015 im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Die Klage gegen den Aufhebungsbescheid vom 19.10.2016 ist begründet. Die Klagen gegen die anderen erst während des Berufungsverfahrens ergangenen Bescheide sind unbegründet bzw unzulässig.
Gegenstand des Klageverfahrens war zunächst der vorläufige Kindergeldbescheid vom 10.3.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.9.2015. Der Senat sieht anders als das SG keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin nur den Widerspruchsbescheid anfechten wollte. Diese für die Klägerin nachteilige Einschränkung des Streitgegenstandes hätte einer ausdrücklichen und unmissverständlichen Erklärung bedurft, die die nicht rechtskundig vertretene Klägerin nicht abgegeben hat und die vom SG auch nicht nachgefragt wurde. In dem Umstand, dass die Klägerin die Versäumung der Widerspruchsfrist mit Unterlassungen eines Dritten zu erklären versucht, kann keine ihr Klagebegehren einschränkende Prozesserklärung gesehen werden.
Der nach Einlegung der Berufung ergangene endgültige Kindergeldbescheid nach dem BKGG vom 15.3.2016 ist gem § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens geworden, da er den vorläufigen Bewilligungsbescheid vom 10.3.2015 für die Zeit vom 1.9.2013 bis zum 31.12.2014 ersetzt hat. Dies gilt unabhängig davon, dass der vorläufige Bescheid wegen Versäumung der Widerspruchsfrist bindend geworden war.
Entsprechendes gilt auch für den ebenfalls auf der Grundlage des BKGG ergangenen vorläufigen Kindergeldbescheid vom 15.3.2016 für die Zeit ab dem 1.4.2016. Damit hat die Beklagte die unbefristete vorläufige Bewilligung von Kindergeld durch eine andere Regelung ersetzt. Geändert oder ersetzt wird ein Bescheid immer, wenn er denselben Streitgegenstand wie der Ursprungsbescheid betrifft, bzw wenn in dessen Regelung eingegriffen und damit die Beschwer des Betroffenen vermehrt oder vermindert wird (Leitherer in Meyer-Ladewig ua, SGG, 12. Aufl, § 96 Rn 4 ff mwN). Ergehen auf einen zeitlich nicht beschränkten Dauerverwaltungsakt hin Folgebescheide, werden diese bei entsprechender inhaltlicher Regelung in (direkter) Anwendung von § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Verfahrens; denn jeder dieser Bescheide ist dann ggf als ein den ursprünglichen Dauerverwaltungsakt abändernder Bescheid zu verstehen (BSG, Urteil vom 17.12.2015 – B 8 SO 14/14 R – juris Rn 11).
Die Besonderheiten des Kindergeldrechts geben keinen Anlass, dies hier anders zu sehen. Lediglich für den Fall der Ablehnung von Kindergeld nach dem EStG hat der Bundesfinanzhof (BFH) in ausdrücklicher Abgrenzung zum BSG entschieden, dass Bescheide, die nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung ergehen, nicht nach § 68 FGO in das laufende gerichtliche Verfahren einbezogen werden (Urteil vom 7.3.2013 – V R 61/10 – und vom 22.12.2011 – III R 41/07 juris). Dies hat seinen Grund darin, dass der Ablehnungsbescheid nach Ansicht des BFH den Anspruch auf Kindergeld nur für die Zeit bis zum Abschluss des Einspruchsverfahrens regelt, ein später ergehender Verwaltungsakt also den Ablehnungsbescheid nicht ändert oder ersetzt. Das Kindergeldrecht unterscheide sich darin vom Sozialhilfe- und Grundsicherungsrecht. Diese Grundsätze sind allerdings auf zeitlich unbegrenzte Bewilligungsbescheide nicht anwendbar, da diese bis auf weiteres, also über eine mögliche Einspruchs- oder Widerspruchsentscheidung hinaus wirken sollen.
Demnach sind Gegenstände des Verfahrens geworden:
-der vorläufige Kindergeldbescheid vom 10.3.2015, der nach Ergehen der Bescheide vom 15.3.2016 zunächst noch Gültigkeit für Zeit vom 1.1.2015 bis zum 31.3.2016 hatte,
-der endgültige Kindergeldbescheid vom 15.3.2016, der die Zeit vom 1.9.2013 bis zum 31.12.2014 betrifft, einschließlich des dazu ergangenen Änderungsbescheids vom 30.11.2017,
-der vorläufige Kindergeldbescheid vom 15.3.2016 für die Zeit ab dem 1.4.2016
-der Aufhebungsbescheid vom 19.10.2016.
Dagegen sind die auf das EStG gestützten Bescheide vom 19.10.2016 und vom 4.7.2018 nicht nach § 96 SGG in das Verfahren einbezogen worden. Zwar regeln sie den Kindergeldanspruch der Klägerin neu, sie betreffen jedoch nicht denselben Streitgegenstand wie die zuvor streitgegenständlichen Bescheide (zu dieser Voraussetzung BSG aaO und Beschluss vom 23.3.2017 B 13 R 165/17 B – juris Rn 7).
Streitgegenstand ist nach hM (vgl dazu Schmidt in Meyer-Ladewig ua, SGG, 12. Aufl, § 95 Rn 5) der prozessuale Anspruch, nämlich das vom Kläger aufgrund eines bestimmten Sachverhalts an das Gericht gerichtete Begehren. Bei der wie hier mit der (Teil-)Anfechtungsklage kombinierten Leistungsklage ist Streitgegenstand der aus einem bestimmten Sachverhalt abgeleitete Anspruch des Klägers auf Verpflichtung des Beklagten zu der begehrten Leistung. Im SGG gilt der auch im Zivilprozessrecht herrschende prozessuale Streitgegenstandsbegriff (vgl zB BSG, Urteil vom 26.3.2014 – B 10 EG 2/13 R – juris Rn 13). Nach der prozess-rechtlichen Auffassung vom Streitgegenstand wird mit der Klage nicht ein bestimmter materiellrechtlicher Anspruch geltend gemacht. Gegenstand des Rechtsstreits ist vielmehr der eigenständige prozessuale Anspruch. Dieser wird bestimmt durch den Klageantrag, in dem sich die vom Kläger geltend gemachte Rechtsfolge konkretisiert, und durch den Lebenssachverhalt (Anspruchsgrund), aus dem der Kläger die begehrte Rechtsfolge herleitet (std Rspr des BGH, vgl zB Urteil vom 6.5.1999 – IX ZR 250/98 – juris Rn 16). Der jeweilige Streitgegenstand wird demnach aus dem Klageantrag und dem diesem zugrundeliegenden Lebenssachverhalt abgeleitet, wobei im sozialgerichtlichen Verfahren der für die Entscheidung erhebliche Lebenssachverhalt von Amts wegen zu ermitteln ist.
Streitgegenstandseinheit liegt demnach vor, wenn die streitige Rechtsfolge sich aus einem einheitlichen Lebenssachverhalt (Klagegrund) ergibt und lediglich auf unterschiedliche materielle subjektive Rechte gestützt werden kann (vgl Vollkommer in Zöller, ZPO, 32. Auflage, Einleitung Rn 71, juris). In diesem Fall ist der Anspruch unter jedem in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkt zu prüfen (§ 17 Abs 2 S 1 GVG; Ausnahmen: Art 14 Abs 3 S 4 und 34 Abs 3 GG, vgl § 17 Abs 2 S 2 GVG). Wird die begehrte Rechtsfolge auf einen einheitlichen Lebenssachverhalt gestützt, liegt ein einheitlicher Streitgenstand vor, auch wenn sich die in Frage kommenden Anspruchsgrundlagen materiell-rechtlich gegenseitig ausschließen (Vollkommer aaO, Rn 71).
Bei Beachtung dieser Grundsätze betreffen die auf die Vorschriften des EStG gestützten Kindergeldbescheide nicht denselben Streitgegenstand wie der auf dem BKGG beruhende Bescheid vom 10.3.2015. Dabei ist nicht entscheidend, dass die Klägerin aus ihrer Sicht einen einheitlichen Anspruch auf höheres Kindergeld für ihre zwei in den Niederlanden lebenden Söhne verfolgt und ihr gleichgültig sein dürfte, ob sich ihr Anspruch aus § 62 EStG oder § 1 BKGG ergibt. Ansprüche auf Kindergeld nach dem EStG und dem BKGG stellen selbständige prozessuale Ansprüche dar, da sie auf notwendig unterschiedlichen anspruchsbegründenden Lebenssachverhalten beruhen.
Kindergeld nach § 1 Abs 1 S 1 BKGG erhält für seine Kinder, wer nach § 1 Abs 1 und 2 EStG nicht unbeschränkt steuerpflichtig ist, auch nicht nach § 1 Abs 3 EStG als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt wird und eine der weiteren Voraussetzungen nach Nrn 1-4 erfüllt. Kindergeld nach dem EStG erhält, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder nach § 1 Abs 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird (§ 62 Abs 1 EStG).
Die anspruchsbegründenden Sachverhalte unterscheiden sich in den tatsächlichen Voraussetzungen der Leistungsansprüche dergestalt, dass derselbe Lebenssachverhalt auch nicht alternativ beide Ansprüche begründen kann. Wer Anspruch auf Kindergeld nach dem BKGG hat, kann ohne Änderung seines steuerrechtlichen Status und damit des Klagegrundes keinen Anspruch auf Kindergeld nach § 62 EStG haben. Im umgekehrten Fall gilt entsprechendes. Ein Wechsel der Anspruchsgrundlage erfordert zwingend eine Änderung des Klagegrundes. Die Regelungsbereiche des BKGG und der §§ 62 ff EStG schließen sich daher gegenseitig weitgehend aus (Treiber in Blümich, EStG, Stand Januar 2018, § 62 Rn 11).
Mangels einheitlichen Streitgegenstands wird ein steuerrechtlicher Kindergeldbescheid, der im laufenden gerichtlichen Verfahren anstelle eines streitgegenständlichen sozialrechtlichen Kindergeldbescheides ergeht, nicht nach § 96 SGG Gegenstand des sozialrechtlichen Verfahrens.
Eine Zuständigkeit des Senats für die Entscheidung über die auf das EStG gestützten Kindergeldbescheide kann sich auch nicht aus § 17a Abs 5 GVG ergeben, da das SG nicht darüber entschieden hat.
Die Berufung gegen die Abweisung der Klage gegen den vorläufigen Bescheid vom 10.3.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.9.2015 ist unbegründet. Dies ergibt sich schon daraus, dass der Bescheid vom 10.3.2015 durch Ablauf der Widerspruchsfrist bindend geworden war. Auf die Gründe des Widerspruchsbescheids vom 8.9.2015 wird insoweit verwiesen (§ 136 Abs 3 iVm §153 Abs 1 SGG). Die Klage war schon deswegen unbegründet, das SG hat sie im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Verlauf und Ergebnis des von der Beklagten an-gekündigten Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X sind für die Entscheidung nicht von Belang.
Hinsichtlich der Bescheide, die erst im Berufungsverfahren Gegenstand des Verfahrens geworden sind, hat der Senat als erste Instanz über die Klage zu entscheiden und dies im Entscheidungstenor deutlich zu machen (Leitherer in Meyer-Ladewig, SGG, 12. Aufl, § 96 Rn 2, 7).
Die Klage gegen den endgültigen Kindergeldbescheid vom 15.3.2016 in der Fassung der Änderung vom 30.11.2017 für die Zeit vom 1.9.2013 bis zum 31.12.2014 ist unbegründet. Dieser Bescheid ist nicht zu beanstanden. Er beruht auf § 1 Abs 1 Nr 1 BKGG. Danach erhält Kindergeld für seine Kinder, wer nach § 1 Abs 1 und 2 EStG nicht unbeschränkt steuerpflichtig ist und auch nicht nach § 1 Abs 3 EStG als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt wird und in einem Versicherungspflichtverhältnis zur Bundesagentur für Arbeit nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch steht oder versicherungsfrei nach § 28 Absatz 1 Nummer 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch ist. Diese Voraussetzungen erfüllte die Klägerin in den Jahren 2013 und 2014.
Auf den Kindergeldanspruch von 368,00 EUR waren die niederländischen Familienleistungen anzurechnen. Dies ergibt sich aus Art 68 Abs 1 Buchst b und Abs 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 (EGV 883/2004). Sind wie hier Familienleistungen von mehreren Mitgliedsstaaten aus denselben Gründen zu gewähren, so richtet sich die Rangfolge bei Ansprüchen, die durch eine Beschäftigung ausgelöst werden, nach dem Wohnort der Kinder (Art 68 Abs 1 Buchst b EGV 883/2004). Bei Zusammentreffen von Ansprüchen werden die Familienleistungen nach den vorrangigen Rechtsvorschriften gewährt. Ansprüche auf Familienleistungen nach anderen widerstreitenden Rechtsvorschriften werden bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt; erforderlichenfalls ist ein Unterschiedsbetrag in Höhe des darüber hinausgehenden Betrags der Leistungen zu gewähren (Art 68 Abs 2 S 1 und 2 EGV 883/2004).
Demnach waren hier wovon der niederländische Träger und die Beklagte übereinstimmend ausgehen die niederländischen Familienleistungen vorrangig mit der Folge, dass das höhere deutsche Kindergeld "auszusetzen" war, soweit in den Niederlanden Leistungen gewährt wurden und der Klägerin der Differenzbetrag zu gewähren war. Nach Ergehen des Änderungsbescheids vom 30.11.2017 sind Fehler insoweit nicht mehr ersichtlich.
Die Klage gegen den Vorschussbescheid vom 15.3.2016 für die Zeit ab April 2016 ist unbegründet. Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage erkennbar höheres vorläufiges Kindergeld nach dem BKGG. Einen Anspruch auf diese Leistung hatte sie schon dem Grunde nach nicht, da sie wegen ihrer unbeschränkten Steuerpflicht nicht die Voraussetzungen nach § 1 Abs 1 S 1 BKGG erfüllte. Dementsprechend bestand gem § 42 Abs 1 SGB I kein Anspruch auf einen Vorschuss auf Kindergeld nach dem BKGG. Ihr kann demnach kein höherer Vorschuss zugesprochen werden. Die Frage, in welchem Verhältnis der (zum Vorteil der Klägerin) rechtswidrige Vorschussbescheid nach dem BKGG zu den nach dem EStG ergangenen Bescheiden vom 4.7.2018 steht, muss für die Entscheidung des vorliegenden Falles nicht erörtert werden.
Die Klage gegen den Aufhebungsbescheid vom 19.10.2016 ist begründet. Mit diesem Verwaltungsakt hat die Beklagte die vorläufige Bewilligung für das Jahr 2015 aufgehoben, weil unbeschränkte Steuerpflicht und deswegen kein Anspruch nach BKGG mehr bestand. Dieser Bescheid kann in Anbetracht seines Wortlauts mangels anderer aussagekräftiger Umstände nicht als (der Sache nach gebotener) endgültiger Ablehnungsbescheid über sozialrechtliches Kindergeld nach dem BKGG ausgelegt werden. Die gebotene Entscheidung wäre in der gegebenen Situation nicht die Aufhebung des Vorschussbescheids, sondern die abschließende Entscheidung über den Kindergeldantrag nach dem BKGG gewesen. Diese hätte wegen der von Anfang fehlenden Voraussetzungen des sozialrechtlichen Kindergelds eine Ablehnungsentscheidung sein müssen (vgl zum Verhältnis zwischen vorläufiger und endgültiger Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II BSG, Urteil vom 29.4.2015 B 14 AS 31/14 R – juris Rn 23 mwN). Der von vornherein auf Ersetzung durch einen endgültigen Verwaltungsakt angelegte Vorschussbescheid erledigt sich ohne Aufhebung mit der Bekanntgabe des endgültigen Bescheids (BSG, Urteil vom 9.5.1996 7 RAr 36/95 – juris).
Bei der Aufhebung des Vorschussbescheids vom 10.3.2015 handelt es sich um einen belastenden Verwaltungsakt. Obwohl die Aufhebung nur zu dem Zweck erfolgte, der Klägerin Kindergeld nach dem EStG zu gewähren, das sich der Höhe nach nicht von dem KiG nach dem BKGG unterscheidet, wird sie durch diese Verfügung formell beschwert.
Der Aufhebungsbescheid vom 19.10.2016 ist schon formell rechtswidrig, da es an der nach § 24 Abs 1 SGB X erforderlichen Anhörung fehlt. Ob von der Anhörung nach § 24 Abs 2 SGB X ausnahmsweise abgesehen werden konnte, in Betracht käme hier ein Fall von § 24 Abs 2 Nr 3 SGB X, kann dahinstehen. Denn die Beklagte hat nicht dargelegt, welche Erwägungen sie im Rahmen ihres Ermessens bewogen haben, von einer Anhörung abzusehen. Zwar müssen die Ermessenserwägungen nicht in einer eigenen Entscheidung über das Absehen von der Anhörung mitgeteilt werden, da diese Entscheidung nicht als Verwaltungsakt ergeht (vgl dazu Franz in jurisPK SGB X § 24 Rn 59 f). Die Behörde hat dann jedoch im gerichtlichen Verfahren ihre Ermessensgesichtspunkte darzulegen, um die Entscheidung nach § 24 Abs 2 SGB X hinsichtlich Ermessensfehlern gerichtlich überprüfen zu können. Sie trägt die materielle Beweislast für die Rechtmäßigkeit des von ihr erlassenen belastenden Verwaltungsakts. Der Verwaltungsakt muss aufgehoben werden, wenn das Gericht mangels entsprechen-der Angaben der Behörde nicht feststellen kann, dass sie rechtmäßig von einer Anhörung abgesehen hat (BVerwG, Urteil vom 29.4.1983 – 1 C 5.83 – juris Rn 25, Franz aaO; vgl auch Sächsisches LSG, Urteil vom 4.5.2017 – L 3 AL 39/14 – juris Rn 35). Das ist hier der Fall. Die Beklagte hat zu einer Ermessensausübung nichts dargelegt. Der Vertreter der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt, dass die Gründe für das Unterlassen der Anhörung unbekannt sind und dass man darüber nur Vermutungen anstellen könne.
Der Senat entnimmt dem Verhalten der Klägerin, dass sie im Berufungsverfahren auch die Kindergeldbescheide überprüft haben möchte, die auf das EStG gestützt sind. So hat die Klägerin auch für die Zeiträume, in denen sie Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG hatte, Unterlagen zu den niederländischen Familienleistungen vorgelegt. Da die auf das EStG gestützten Bescheide wie oben dargelegt wurde nicht Gegenstand des Verfahrens geworden sind, sind die dagegen gerichteten Klagen unzulässig. Die Klägerin hätte, sollte sie diese Bescheide für fehlerhaft gehalten haben, dagegen Einspruch und im Falle der Zurückweisung ihrer Einsprüche Klage zum zuständigen Finanzgericht erheben müssen. Ohne dass es darauf ankommt weist der Senat darauf hin, dass keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese Kindergeldbescheide zum Nachteil der Klägerin rechtswidrig sein könnten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 S 1 SGG. Das geringfügige Obsiegen der Klägerin im Berufungsverfahren rechtfertigt keine Kostenquotelung. Die Aufhebung des rechtswidrigen Aufhebungsbescheids vom 19.10.2016 hat für die Höhe der ihr zustehenden Leistungen im Ergebnis keine Bedeutung.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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