L 3 R 116/15

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 10 R 757/13
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 3 R 116/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 28. September 2015 wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente nach § 43 Sozialgesetzbuch Sechs-tes Buch (SGB VI) für die Klägerin, die zuletzt als Kaufmann/frau im Einzelhandel in einem Möbelhaus tätig war (Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ist ge-setzlich ausgeschlossen).

Die am 17. März 1970 geborene Klägerin ist gelernte Kauffrau im Einzelhandel. Mehr als 15 Jahre lang war sie im Möbelhandel beschäftigt. Auf ihrer letzten Stelle – im Möbelhaus X. – war die Klägerin seit Juli 2008 arbeitsunfähig erkrankt und bezog bis Februar 2010 Krankengeld sowie anschließend Arbeitslosengeld. Im Juli 2010 nahm die Klägerin ihre Beschäftigung, nach eigenen Angaben aus wirtschaftlichen Gründen, wieder in Vollzeit auf, bis das Beschäftigungsverhältnis sodann im Jahr 2011 durch Abschluss eines Aufhebungs-vertrages endete.

Bei der Klägerin ist ein Grad der Behinderung von 50 anerkannt.

Einen 2008 gestellten Antrag der Klägerin auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 16. Dezember 2008 und Widerspruchsbescheid vom 25. Mai 2009 ab. Dagegen erhob die Klägerin Klage zum Sozialgericht Hamburg (Az. S 20 R 523/09). Während dieses anhängigen Klagverfahrens stellte die Klägerin am 12. Januar 2010 einen Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung bei der Beklagten. Sie trug vor, sich seit 25. Juli 2008 wegen einer Multiplen Chemikalien Sensibilität (MCS) für erwerbsgemindert zu halten.

Auch im Klageverfahren S 20 R 523/09 wies die Klägerin auf ihre Erkrankung an MCS hin und machte geltend, durch Ausdünstungen von Möbeln am Arbeitsplatz belastet zu sein. Das So-zialgericht erhob Beweis durch Einholung eines internistischen Gutachtens des Dr. S. vom 20. April 2010. Dieser hielt die Diagnose einer MCS für hoch wahrscheinlich, legte aller¬dings zugleich dar, dass es keine "harten" Kriterien für diese Diagnose gebe. Die MCS sei eine Ausschlussdiagnose. Ausgeschlossen werden müssten toxische oder immunologische Ätiolo-gien sowie insbesondere psychische Erkrankungen. Dr. S. sah die Erwerbsfähigkeit der Klägerin in Bezug auf ihre Tätigkeit als Einrichtungsberaterin bzw. Möbelfachverkäuferin we-gen der Exposition gegenüber von in Möbeln verwendeten Lacken, Leimen u. ä. als erheblich gefährdet an. Gleichzeitig legte er dar, dass bei einem Einsatz auf einem Arbeitsplatz ohne entsprechende Exposition eine Gefährdung der Erwerbsfähigkeit nicht mehr bestehe.

Im Rentenantragsverfahren diagnostizierte der Internist und Umweltmediziner Dr. K. im Gutachten vom 29. Juli 2010 nach Untersuchung der Klägerin eine MCS, eine bronchiale Hyperreagibilität, leichtgradig ausgeprägt, eine Nickelallergie als Kontaktallergie, eine Rhon-chopathie sowie Adipositas Grad I und wies darauf hin, dass ein Teil der Anamnese tatsächlich für die von Dr. S. gestellte Diagnose MCS spreche, ein anderer Teil indes dagegen: Denn die Klägerin habe jahrzehntelang geraucht, trotz der in Zigaretten enthaltenen Chemika¬lien, was dafür spreche, dass das Rauchen trotz der MCS-Erkrankung über einen langen Zeit¬raum offenbar toleriert worden und der Leidensdruck gering gewesen sei. Trotz ihrer Gesund-heitsstörungen auf internistisch-pneumologisch-umweltmedizinischem Gebiet sei die Klägerin in der Lage, leichte und mittelschwere Tätigkeiten mehr als sechs Stunden täglich zu verrich-ten. Tätigkeiten mit Exposition gegenüber Atemwegsreizstoffen, wie Staub, Rauch, Gasen, Dämpfen, Lösungsmitteldämpfen oder starken Gerüchen, sollten nicht gefordert werden. Die-ses Leistungsvermögen bestehe vorbehaltlich eventueller weiterer Einschränkungen auf ner-venärztlichem Gebiet.

Anschließend stellte die Nervenärztin Dr. M. im Gutachten vom 12. August 2010 die Diag-nosen einer Somatisierungsstörung sowie somatoformer autonomer Funktionsstörungen. Sie sah ein vollschichtiges Leistungsvermögen der Klägerin für mittelschwere Arbeiten als gege-ben. Dauerhafte qualitative Einschränkungen seien auf nervenärztlichem Fachgebiet noch nicht zu formulieren, da die therapeutischen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft seien. Vorran¬gig sei eine psychotherapeutische Behandlung; für eine psychosomatische stationäre Reha-bilitation bestehe zum seinerzeitigen Zeitpunkt wegen der bei der Untersuchung erkennbaren Abwehr der Klägerin keine ausreichende Erfolgsaussicht. Dr. M. hielt den zeitlichen Zu-sammenhang der Verschlimmerung der Beschwerden der Klägerin nach Konflikt und Abbruch des Kontakts zur Mutter im Herbst 2009 für auffällig und wies auf einen anhaltenden konflikt-reichen familiären Hintergrund hin.

Die Fachkliniken Abteilung für Psychosomatik und Umweltmedizin, nannten als Entlassungsdiagnosen nach der stationären Behandlung der Klägerin vom 20. De¬zember 2010 bis 26. Januar 2011 eine Anpassungsstörung, eine MCS, Nahrungsmittelintole¬ranzen und eine Fibromyalgie. Die Klägerin wurde arbeitsunfähig entlassen. Empfohlen wur¬den eine ambulante psychiatrische und psychotherapeutische Weiterbehandlung sowie der Besuch von Selbsthilfegruppen.

Im Verfahren S 20 R 532/09 führte Dr. M. am 7. April 2011 im Termin zur mündlichen Verhandlung aus, nach dem Ergebnis der nervenärztlichen Untersuchung der Klägerin im Au-gust 2010 und unter Einbeziehung des Ergebnisses der stationären Behandlung in der psy-chosomatischen Klinik sei davon auszugehen, dass sich für die diagnostizierte Somatisie-rungsstörung in einem absehbaren Zeitraum keine Besserung erreichen lasse und auch kein psychotherapeutischer Ansatz in Form einer ambulanten Psychotherapie oder stationären me-dizinischen Rehabilitationsbehandlung bestehe. Wegen der bestehenden seelischen Behin-derung sei die Erwerbsfähigkeit der Klägerin in ihrem bisherigen Beruf der Verkäuferin erheb-lich gefährdet. Es bestehe eine dauerhafte Leistungseinschränkung für Arbeiten mit Publi-kumsverkehr und erhöhten nervlichen Belastungen, wie erhöhtem Zeitdruck. Auch Nacht-schichten und der Einsatz in einem Großraumbüro seien auszuschließen. Es bestehe auch keine Einsatzfähigkeit im sozialen Bereich. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben würden befürwortet. Es sei angesichts der Motivation der Klägerin von einer guten Erfolgsprognose auszugehen. Die Beteiligten schlossen daraufhin zur Beilegung des Rechtsstreits einen ge-richtlichen Vergleich, in welchem die Beklagte anerkannte, dass die Voraussetzungen für Leis-tungen zur Teilhabe am Arbeitsleben dem Grunde nach vorliegen.

Mit Bescheid vom 27. Juli 2011 bewilligte die Beklagte sodann Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, zunächst in Gestalt einer Berufsfindungsmaßnahme, welche die Klägerin, nach zwischenzeitlicher Unterbrechung aus gesundheitlichen Gründen, zu Ende führte. Eine sich daran anschließende Maßnahme beim Träger Sa. brach die Klägerin indes nach wenigen Tagen ab. Ausweislich eines Vermerks in der Verwaltungsakte beklagte die Klägerin während der Maßnahme vielfältige Beschwerden, u. a. Schwindel, Atemnot, Ohrgeräusche und Taubheitsgefühle. Die Klägerin bat die Beklagte deshalb um vorrangige Entscheidung über ihren Antrag auf Erwerbsminderungsrente.

Mit Bescheid vom 12. April 2012 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab. Sie führte aus, die Klägerin sei trotz ihrer Erkrankungen in der Lage, mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein, so dass ein An-spruch auf Rente wegen Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI nicht bestehe.

Die Klägerin legte am 23. April 2012 Widerspruch ein, den sie damit begründete, nicht nur unter MCS, sondern auch unter einer Fibromyalgie zu leiden. Letztere sei, trotz einer starken Verschlechterung in der letzten Zeit, bei der Prüfung der Voraussetzungen für eine Rente nicht berücksichtigt worden. Sie leide inzwischen unter ständigen Schmerzen im gesamten Körper. Hinzu kämen schubweise so starke Schmerzen, dass sie sich überhaupt nicht mehr bewegen und dann auch nicht mehr das Haus verlassen könne. Die Chemikalienunverträglichkeit be-ziehe sich auf eine Vielzahl von Stoffen, darunter Duftstoffe und Lackbestandteile. Daher könne sie sich in vielen Räumen nicht aufhalten. Auch Menschenansammlungen müsse sie meiden. Einige Symptome träten sofort auf, andere erst nach Stunden oder Tagen. Es handele sich um Atemnot und Schmerzen, Kreislaufbeschwerden sowie Hautausschlag bzw. Haaraus-fall. Während der Berufsfindungsmaßnahme hätten sich die Gesundheitsstörungen als so gra-vierend dargestellt, dass durch die Reha-Beraterin ein Abbruch der Maßnahme befürwortet worden sei. Während der Maßnahme habe sich gezeigt, dass sie sich für bestimmte Verrich-tungen in einem eigenen Zimmer aufhalten müsse, da sie das Raumklima nicht ausgehalten habe. Auch habe ein Praktikumsplatz nicht in Aussicht gestellt werden können, da die Chemi-kalienunverträglichkeit so eklatant sei. Die Maßnahme sei deshalb am 20. Januar 2012 durch sie beendet worden. Aufgrund der Gesamtheit der Gesundheitsstörungen sei sie nicht mehr in der Lage, Arbeiten von wirtschaftlichem Wert mehr als drei Stunden täglich unter den Be-dingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben.

Der Neurologe und Psychiater Dr. J. kam in seinem Gutachten vom 10. Februar 2013 zu folgenden Diagnosen: V.a. somatoforme Störung, Adipositas, V.a. arteriellen Hypertonus, V.a. MCS. Dr. J. führte aus, im Untersuchungsbefund sei ein leichtgradiges depressives Syn¬drom zu konstatieren gewesen. Im Vordergrund habe eine Einengung auf diverse körperliche Beschwerden gestanden. Die Krankheitseinsicht sei auch in der Untersuchungssituation ein-geschränkt gewesen. Eine Besserung der Symptomatik bei Inanspruchnahme einer nerven-ärztlichen Mitbetreuung könne aber innerhalb eines Jahres eintreten. Hinweise für ein Fibro-myalgiesyndrom seien aufgrund des aktuellen körperlichen Befundes nicht sicher zu validie-ren. Die Klägerin könne noch leichte körperliche Tätigkeiten ohne höhere Verantwortung ver-richten. Die Leistungsbeurteilung, wie sie Dr. M. im Jahre 2010 vorgenommen habe, bleibe im Wesentlichen gültig.

Mit Widerspruchsbescheid vom 11. Juli 2013 wies die Beklagte daraufhin den Widerspruch zurück. Sie wiederholte und vertiefte die Begründung des Ausgangsbescheides und wies er-gänzend auf das Gutachten des Dr. J. hin.

Dagegen hat die Klägerin am 30. Juli 2013 Klage erhoben.

Sie hat im Wesentlichen ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren wiederholt und ergän-zend vorgetragen, zu der Krankenhauseinweisung im Dezember 2010 sei es wegen gesund-heitlich massiver Reaktionen auf das "Mobbing" durch ihren Arbeitgeber gekommen. Neben der erheblichen MCS bestehe bei ihr eine psychische Beeinträchtigung. Ihre Umstellfähigkeit sei aufgehoben. Die Zusammenarbeit mit anderen Menschen in einem Raum sei aufgrund der MCS so gut wie ausgeschlossen. Dazu bedürfe es eines ausgesprochen wohlwollenden Um-feldes, um ihr Arbeitsbedingungen zu ermöglichen, unter denen sie ohne Gefahr der Ver-schlechterung überhaupt einer Tätigkeit nachgehen könne. Derlei Tätigkeiten seien auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt jedoch nicht in relevanter Zahl vorhanden, so dass der Arbeitsmarkt verschlossen sei.

Im psychosomatischen Fachgutachten hat Dr. B. unter dem 1. März 2014 eine Somati-sierungsstörung und eine Essstörung mit Adipositas diagnostiziert. Die MCS und die Schmerz-attacken verstehe er als Teil der Somatisierungsstörung. Zudem bestünden zahlreiche soma-tische Beschwerden, wie Allergien, eine Abzessneigung, eine Ekzemneigung, etc ... Ob es sich um eine Somatisierungsstörung oder eine MCS mit Störung der Krankheitsbewältigung han-dele, sei für die Einschätzung des Leistungsvermögens irrelevant. Soweit es das Leistungs-vermögen betreffe, schränke der lange Krankheitsverlauf die Belastbarkeit der Klägerin glaub-haft für schwere und dauerhaft mittelschwere Tätigkeiten einschließlich Akkord und hohem Zeitdruck ein. Leichte bis eingestreut mittelschwere Arbeiten könne die Klägerin aber voll-schichtig ausführen. Wechselnde Körperhaltungen seien möglich; die Arbeit auf Leitern, Ge-rüsten und unter widrigen Witterungsbedingungen sei hingegen nicht zumutbar. Die genann¬ten Einschränkungen bestünden seit Antragstellung. Weiter hat der Sachverständige ausge¬führt, unabhängig von der genauen Diagnose zeige die Klägerin glaubhaft über viele Jahre große Schwierigkeiten in ihrer Anpassungsfähigkeit im Berufsalltag und im Umgang mit ande¬ren Menschen. Sie erkläre diesen Umstand ausnahmslos mit einer MCS. Eine Infragestellung dieses Selbstverständnisses werde mit allen Mitteln verhindert. Es bleibe offen, ob diese "Wei-gerung" als Selbststabilisierung diene oder Ausdruck eines aggravationsnahen Krankheitsge-winns sei. Jedenfalls zeigten die Leistungsfähigkeit der Klägerin im Kontakt, die Vermeidungs-haltung im Alltag, die Durchhaltefähigkeit im Interview und die lebensgeschichtlichen Angaben keinen Menschen, dem keinerlei Willensanstrengung zumutbar wäre und der nicht mehr über die psychische Flexibilität verfüge, Veränderungen zu ertragen. Sich mit anderen Perspektiven auseinanderzusetzen, sei der Klägerin sehr wohl zumutbar. Es seien bei weitem nicht alle therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft; dies gelte für eine zumutbare schulmedizinische Symptombehandlung ebenso wie für eine ambulante psychosomatisch-psychotherapeutische Behandlung. Eine Besserung sei möglich. Unter einer motiviert durchgeführten tagesklini¬schen psychosomatischen Behandlung oder einer ambulanten Psychotherapie sei in drei bis sechs Monaten durchaus eine relevante Veränderung zu erwarten.

Die Klägerin hat sich gegen diese Beurteilung gewandt und ausgeführt, jeder Kontakt mit an-deren Menschen könne bei ihr zu Schmerzen und dem Auftreten diverser anderer körperlicher Symptome führen. Daher sei ihr auch die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln nicht möglich, zumal neben der MCS auch Platzangst bestehe. Sie hat dazu eine Stellungnahme des Dr. P., Arzt für Allgemeinmedizin und Umweltmedizin, vom 26. Juni 2014 vorgelegt.

In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 31. Juli 2014 hat Dr. B. ausgeführt, die von Dr. P. genannten Beschwerden würden nicht von den in der gutachterlichen Untersu¬chung vorgetragenen abweichen. Der Bericht erbringe daher keine neuen Erkenntnisse. Auch sei der akademische Streit, ob es eine MCS überhaupt gebe oder ob unbewusste psychody¬namische Prozesse eine Rolle spielten, hier nicht relevant. Die MCS diene der Klägerin als Erklärung und Rechtfertigung. Es habe sich eine Vermeidungshaltung entwickelt, und sekun¬där diene die MCS zur Alltags- und Beziehungssteuerung, wie dies in der Untersuchung auch eindrucksvoll zu erleben gewesen sei. Unabhängig von der Frage möglicher Ursachen sei von ihm die Frage untersucht worden, welche Willensanspannung der Klägerin noch möglich sei. Insoweit stehe für ihn nach dem Ergebnis der gutachterlichen Untersuchung fest, dass sich die Klägerin ihren sozialen Problemen, ihrer Impulsivität, ihren beruflichen Problemen und ihrer Kränkbarkeit sowie den Anforderungen des Lebens und der Arbeit stellen könne und es ihr zumutbar sei, die notwendigen Behandlungen einzuleiten und deren Belastungen auszuhal¬ten. Es liege keine Einschränkung oder Behinderung vor, die der Klägerin dies verbieten würde. Bei allen Schwierigkeiten habe die Klägerin in der Untersuchung eine ausreichende Ein- und Umstellfähigkeit gezeigt, habe Aufgaben bewältigen und Anspannungen aushalten können. Die eigenen Ressourcen würden von der Klägerin unterschätzt. Sofern sie auf der einseitigen Sichtweise beharre, wäre dies prognostisch ungünstig, könne dann aber nicht als Folge einer psychischen Erkrankung gewertet werden, sondern als Konsequenz ihrer Willens¬bildung.

Die Klägerin hat im Nachgang auch zu dieser Stellungnahme und erneut zum Gutachten Ein-wände erhoben und darüber hinaus die Ansicht vertreten, der Sachverhalt bedürfe weiterer Aufklärung durch Einholung eines umweltmedizinischen Gutachtens sowie einer berufskund-lichen Stellungnahme.

Nach Anhörung von Dr. B. im mündlichen Verhandlungstermin vom 28. September 2015, der sein Gutachten erläutert hat, ist das klagabweisende Urteil des Sozialgerichts vom 28. September 2015 ergangen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Erwerbsminderungs-rente, weil ein vollschichtiges Leistungsvermögen für zumindest leichte Arbeiten mindestens sechs Stunden täglich bestehe und auch die sog. Wegefähigkeit gegeben sei. Dies folge aus den überzeugenden Ausführungen von Dr. B., denen sich das Gericht anschließe. Damit könne die Klägerin die besonders leichten Pack-, Montier-, Produktions-, Prüf- und Etikettier-arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausüben. Hierzu sei keine besondere Teamfähig-keit erforderlich.

Gegen die am 15. Oktober 2015 zugestellte erstinstanzliche Entscheidung hat die Klägerin am 29. Oktober 2015 Berufung eingelegt. Das erstinstanz¬liche Gericht habe schon den Sachver-halt nicht zureichend aufgeklärt. Es fehle ein umweltme¬dizinisches Gutachten, um die Auswir-kungen der bei der Klägerin im Vordergrund stehenden MCS zu beurteilen. Desweiteren fehle es an einer berufs¬kundigen Einschätzung. Das Gutachten von Dr. B. beschäftige sich hauptsächlich mit der psychologischen Seite und nicht mit der körperlichen Situation. Sie (die Klägerin) habe sich bemüht, eine Lösung zu finden, welche eine berufliche Tätigkeit umfasse, jedoch sei ihr das nicht gelungen.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 28. September 2015 sowie den Bescheid der Beklagten vom 12. April 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 2013 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin eine Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung gemäß § 43 SGB VI zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, das erstinstanzliche Urteil sei nicht zu beanstanden. Das Sozialgericht habe den Sachverhalt zureichend aufgeklärt. Das Gutachten von Dr. B. überzeuge ebenfalls.

Im von der Klägerin gemäß §109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beantragten Gutachten ist der Arzt für Innere Medizin und Arbeitsmedizin, Lungen- und Bronchialheilkunde sowie Umwelt-medizin Dr. S. unter dem 23. Februar 2017 sowie in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 2. Februar 2019 zu dem Ergebnis gekommen: Das Leistungsvermögen umfasse zumin¬dest leichte Arbeiten mit qualitativen Einschränkungen, d. h. insbesondere frei von Exposition mit Rauchen, Dämpfen und Gasen sowie sonstigen Ausdünstungen, sechs Stunden täglich und mehr. Die Wegefähigkeit sei gegeben. Aus den Berichten des Klinikums I. ergebe sich der Verdacht auf eine psychische Erkrankung, der dort allerdings mangels Mitarbeit nicht geklärt werden konnte.

Zu dem Gutachten von Dr. S. äußerte sich die Klägerin kritisch und bemängelte, auch Dr. S. würde ihre Situation nur teilweise erfassen.

In seiner berufskundigen Stellungnahme vom 26. November 2017 hat der Teamleiter im Job-center "team.arbeit.hamburg" M. ausgeführt, die Klägerin könne leichte Pack-, Sortier- und Montiertätigkeiten verrichten, wenn Arbeitsbetriebe mit Ausdünstungen wie die Gummiin¬dustrie gemieden würden. Beispielsweise zugänglich sei die Medikamenten-Umverpackung. Denkbar seien weiter Arbeiten im kaufmännischen Bürobereich, insbesondere im Einzelbüro. Hier gebe es Bereiche für gelernte sowie angelernte Tätigkeiten.

Nach Einholung der berufskundigen Stellungnahme M. hat die Klägerin vorgetragen, die genannten Verweisungstätigkeiten könne sie schon deswegen nicht ausüben, da sie an allen Arbeitsplätzen Kontakt zu Menschen, die nach Körperpflegemittel und Parfüm riechen würden, hätte. Hinzu käme der Geruch der Ware, mit der umzugehen wäre. Das gelte auch für jegliche Tätigkeit im kaufmännischen Bereich. Aus diesem Grund habe der Rentenversi¬cherungsträger die Teilhabeleistungen am Arbeitsleben auch abgebrochen.

Ausweislich des Entlassungsbriefes des Klinikums I. vom 9. November 2017 ist im Rah¬men einer ambulanten Behandlung im Herbst 2017 der Verdacht auf eine paranoide Schizo¬phrenie aufgekommen, nachdem die Klägerin dort geschildert hatte, ihr Körper und ihr Gehirn würden durch einen Nachbarn, einem ehemaligen Polizisten, über ein Funkgerät und Medika¬mente manipuliert. Die wahnhafte Symptomatik hat unter den Gesprächen in der Klinik wieder abgenommen.

Der Neurologe und Psychiater Dr. N. ist in seinem Gutachten vom 20. März 2019 zu dem Ergebnis gelangt, trotz der Entwicklung wahnhafter Vorstellungen seit etwa 2017 (die mit Er-folg durch Medikamente behandelbar seien) sei die Klägerin noch in der Lage, leichte, einge-streut mittelschwere Arbeiten einfacher geistiger Art mit geringer Verantwortung regelmäßig sechs Stunden und mehr auszuüben. Die Arbeiten sollten nicht unter besonderem Zeitdruck, unter Akkordbedingungen oder mit besonderen Anforderungen an die Team- und Konfliktfä-higkeit stattfinden. Die Wegefähigkeit sei erhalten. Auch sei die Klägerin noch ausreichend in der Lage, Hemmungen gegenüber einer Arbeitsleistung zu überwinden.

Die Beklagte hat vorgetragen, dass die Ermittlungen im Berufungsverfahren die Richtigkeit der Entscheidung bestätigten. Der Bericht des Klinikums I. über eine zwischenzeitliche Be-handlung zeige sogar, dass bei der Klägerin die Entzündungsparameter rückläufig seien.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die auf die Prozessakten dieses Verfahren und die Prozessakte S 20 R 532/09 sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen. Sie sind Gegenstand der münd-lichen Verhandlung des Senats gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin (vgl. §§ 143, 144, 151 SGG) ist nicht begründet. Auch die Ermittlungen im Berufungs-verfahren haben zu dem Ergebnis geführt, dass die Klägerin noch über ein Leistungsvermögen für zumindest leichte Arbeiten sechs Stunden und mehr täglich mit qualitativen Einschränkun-gen bei erhaltener Wegefähigkeit und einer ausreichenden Fähigkeit, Hemmungen gegenüber einer Arbeitsaufnahme überwinden zu können, verfügt. Das ist das übereinstimmende Ergeb-nis sämtlicher ärztlicher Gutachten. Damit kann sie jedenfalls auf dem allgemeinen Arbeits-markt tätig sein. Hier gibt es auch unter Berücksichtigung der qualitativen Einschränkungen (insbesondere in Form der Vermeidung chemischer Substanzen oder Ar¬beitsstoffe mit beson-derer Geruchsbelästigung sowie Belastungen durch erhöhte Anforderun¬gen an Teamfähigkeit oder unter Zeitdruck bzw. Akkord) eine ausreichende Anzahl von Ar¬beitsplätzen. Es besteht kein Anspruch auf die begehrte Rente. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Sozialgericht die auf Gewährung einer Rente wegen verminderter Er¬werbsfähigkeit gerichtete Klage abgewiesen. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat insoweit Bezug auf die Begründung des sozialgerichtlichen Urteils (§ 153 Abs. 2 SGG).

Das Berufungsgericht überzeugen die erst- wie zweitinstanzlich eingeholten Gutachten. Alle Gutachten stimmen in ihrer Einschätzung überein, dass die Klägerin aufgrund ihrer gesund-heitlichen Einschränkungen – selbst wenn als Diagnose eine MCS angenommen werde – zwar in qualitativer Hinsicht eingeschränkt ist, aber dennoch weder ein zeitlich limitiertes noch ein aufgehobenes Leistungsvermögen vorliegt. Schwerwiegende Auswirkungen auf die kör¬perliche Leistungsfähigkeit sind ausweislich der ausführlichen Darlegungen von Dr. S. in seinem Gutachten nicht belegbar. Vielmehr hat er im wesentlichen regelrechte altersent¬sprechende Befunde erheben können. Aus arbeitsme-dizinischer Sicht könne ein Arbeitsplatz so gestaltet werden, dass die Klägerin dort keine Be-schwerden habe. Das werde gestützt durch den Umstand, dass sie sich im häuslichen Bereich fast beschwerdefrei bewegen könne. Letztendlich entspricht dies auch der Einschätzung des behandelnden Arztes Dr. P., der davon ausgeht, dass eine gewisse Arbeitsfähigkeit wiederhergestellt werden könne, wenn ein Arbeitsbereich ohne direkten Kundenkontakt und mit beschränktem Kontakt zu Mitarbei¬tern gewählt würde (vgl. Bericht vom 26. Juni 2014). Aus psychiatrischer Sicht hat Dr. B. bereits sehr ausführlich und gut nachvollziehbar dargelegt, welche Einschränkungen bei der Klägerin bestehen. Diese hat er jedoch als nicht sehr schwerwiegend beurteilt, weil die Klägerin nach dem Ergebnis seiner Untersuchung noch über eine gute Aufmerksamkeit, Konzentration und ein gutes Durchhaltevermögen verfügte, und in der Lage war, sich an Regeln und Routinen anzupassen, eine Tagesstruktur aufrecht-zuerhalten und Anspannungen zu ertragen. Auch schwerwiegende strukturelle Defizite seien auszuschließen. Aus den Äußerungen der Klägerin habe sich darüber hinaus ergeben, dass sie ihren Haushalt selbst bestreite, Wege mit dem Auto zurücklege, Kontakte zu Bekannten pflege und gelegentlich essen oder spazieren gehe. Die mehrstündige Untersuchung im Rah-men der Begutachtung habe sie ohne längere Pausen und ohne spürbaren Konzentrations-verlust durchgestanden. Dr. N. hat diese Einschätzung ein¬drucksvoll bestätigt. Er hat die Klägerin als wach, ori¬entiert und bewusstseinsklar erlebt, zwar nur nuanciert schwingungsfähig, aber in der Affekt¬lage überwiegend im mittleren Bereich. Es gebe keine pathologischen Ängste und keine Per-sönlichkeitsstörung. Auch er hat keine Konzentrationsstörungen feststellen können. Daher ist er zu dem Ergebnis gekommen, dass keine gravierenden Beeinträchtigungen in den psychi-schen Grundfunktionen des Erlebens, Handelns und Gestaltens bei ausreichend strukturierten Willenskräften gegeben seien. Dem widerspreche nicht die im Bericht des Klinikum I. vom 9. November 2017 geschilderte wahnhafte Symptomatik, denn dieses Phänomen zeige ein einzelnes, abgegrenztes Wahnsystem ohne größere Auswirkungen auf andere Lebensbe-reiche, welches im Übrigen gut behandelbar sei und bei seiner Untersuchung nicht mehr fest-gestellt werden konnte. Konsequent kommt auch er in seiner Gesamteinschätzung daher zu einem nur wenig qualitativ eingeschränkten psychischen Leistungsvermögen und insgesamt zu einem ausreichenden Funktionsniveau für leichte Arbeiten sechs Stunden und mehr täglich. Bestätigt wird die Einschätzung letztlich auch durch den Bericht des Klinikum I. vom 9. November 2017, in dem ebenfalls beschrieben wird, dass die Klägerin über zahlreiche Res-sourcen verfüge, ihre Probleme dynamisch und zielgerichtet angehe und am Ende der Be-handlung wieder psychisch stabil gewesen sei. Unter Beachtung der qualitativen Einschränkungen stehen der Klägerin eine Vielzahl von Ar-beitsplätzen offen, wie dies in der Stellungnahme M. mit Beispielen belegt aufgeführt wird. Gewisse alltägliche Belastungen wie z. B. durch Duftstoffe in Körperpflegeartikeln oder Parfums bei anderen Beschäftigten, sind der Klägerin zumutbar. Dies haben sämtliche Sach-verständige ausgeführt. Letztendlich wird dies bestätigt dadurch, dass die Klägerin durchaus, wenn auch eingeschränkt, am öffentlichen Leben teilnimmt und im häuslichen Bereich Putz-mittel zu verwenden vermag.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.

Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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