S 8 KR 416/04 ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Leipzig (FSS)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 8 KR 416/04 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Bei seltenen Krankheitsbildern (hier: endogene Uveitis) kann eine Therapie mit einem insoweit nicht zugelassenen Medikament auch dann von der gesetzlichen Krankenversicherung zu tragen sein, wenn eine im Sinne der Rechtssprechung des BSG wissenschaftlich hinreichend kontrollierte Studie (noch) nicht vorliegt. Dies gilt im Rahmen einer Interessenabwägung im Wege des vorläufigend Rechtsschutzes dann, wenn keine Behandlungsalternativen bestehen, nach den bisherigen Erkenntnissen von einer hinreichend erfolgreichen Behandlungsaussicht auszugehen ist udn ohne diese Behandlung ein schwerwiegender Gesundheitsschaden (hier: Erblindung) droht.
Az.: S 8 KR 416/04 ER
In dem A n t r a g s v e r f a h r e n
... - Antragsteller - Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte ...
gegen
BKK Hoesch Dortmund, vertreten durch den Vorstand, Kirchderner Straße 47-49, 44145 Dortmund - Antragsgegnerin -
erlässt der Vorsitzende der 8. Kammer, Richter am Sozialgericht Pretzel-Friedsam, ohne mündliche Verhandlung am 10. August 2004 folgenden Beschluss:

I. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung der Hauptsache für den Antragsteller die Kosten einer Interferon alfa-2a (Roferon-A)-Therapie zu übernehmen, soweit die behandelnden Ärzte des Antragstellers diese Behandlung mit diesem Medikament verordnen.
II. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Antragsgegnerin (Ag) im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes verpflichtet ist, die Kosten für eine Interferon alfa-2a (Roferon-A)-Therapie vorläufig zu übernehmen. Hierbei handelt es sich um eine Therapie außerhalb der Zulassungsindikation ("Off-Label-Use"). Interferon alfa-2a (Roferon-A) ist eine immunmodulierende Substanz, die üblicherweise zur Therapie chronisch-leukämischer bzw. lymphatischer Erkrankungen eingesetzt wird. Interferon alfa-2a ist derzeit in Deutschland für die Therapie von Augenerkrankungen nicht zugelassen.

Der am ...1959 geborene Antragsteller (Ast) ist bei der Ag gesetzlich kranken- und pflegeversichert. Seit 1996 leidet er an einem rechtsseitigen zystoiden Makulaödem. Die Sehschärfe betrug seinerzeit rechts 0,32, links 1,0. Seit Juli 1999 ist er wegen beidseitiger Uveitis intermedia bei der Universitäts-Augenklinik Tübingen in Behandlung. Bei beiden Augen bestand ein massives, chronisch zystoides Makulaödem. Seit Juli 2000 zeigte sich auch im linken Auge eine plötzliche Visusminderung. Im Oktober 2003 betrug die Sehschärfe auf dem rechten Auge 0,3, links 0,4. Die Universitäts-Augenklinik Tübingen therapierte das zystoide Makulaödem zwischenzeitlich erfolglos mit einer Kombination aus hochdosierten systemischen Steroiden und Acetazolamid sowie einer Zweifach-Immunsuppression (bestehend aus Methotrexat und Zyclosporin A). Die im November 2001 Pars plana Vitrektomie mit epiretinalem Peeling am rechten Auge führte zu keiner Besserung. Zwar hatte die im Oktober 2003 am linken Auge durchgeführte intravitreale Triamcinolon-Injektion eine vorübergehende Rückbildung des Makulaödems am linken Auge zur Folge; der Visusanstieg auf 0,8 bis 1,0 war jedoch nicht von Dauer (lediglich drei Monate). Weitere Injektionen dieser Art waren nicht möglich, weil als Nebenwirkung der Augeninnendruck auf bis zu 40 mmHG anstieg.

Mit Schreiben vom Oktober 2003 zur Vorlage bei der Krankenkasse erläuterte das Universitätsklinikum Tübingen die Therapie mit Interferon alfa-2a (Roferon-A). Die Therapie des zystoiden Makulaödems bei Uveitis erfolge stets systemisch und bestehe normalerweise aus Kortison zur Entzündungshemmung sowie Acetazolamid (Diamox) zur Ausschwemmung des Ödems. Dieses Therapieschema erweise sich jedoch oftmals als ineffektiv. Erfahrungsgemäß blieben Immunsuppressiva häufig wirkungslos für das Ödem, das sich letztendlich nur durch Kortison und Acetazolamid beeinflussen lasse. Eine hohe dauerhafte Dosierung, wie sie zur Beherrschung des Makulaödems notwendig wäre, sei aber wegen der Nebenwirkungen nicht möglich. Neue Alternativen außer der Substanz Interferon alfa-2a zeichneten sich gegenwärtig kaum ab. Nach den seit 1995 durchgeführten Therapieoptimierungsstudien von bislang 50 % mit schwerer Uveitis bei Morbus Behcet (systemische Gefäßentzündung, in 60 bis 80 % der Fällen mit Augenbeteiligung), bei denen die herkömmliche Therpie mit Kortison und Immunsuppressiva versagt oder auf Grund von Nebenwirkungen habe abgebrochen werden müssen, habe sich Interferon alfa-2a als äußerst effektives, herkömmlichen Immunsupressiva deutlich überlegenes, Medikament erwiesen. In allen Fällen (65 Augen), in denen ein Makulaödem bestanden habe, habe sich dieses überraschenderweise unter der Interferon-Therapie vollständig und ohne das Erfordernis zusätzlicher Medikamente zurückgebildet. Es sei das Medikament, das bei Patienten mit Morbus Behcet die Sehschärfe langfristig erhalten könne. Dies ließen die bisher gewonnenen Ergebnisse erwarten, und zwar auch bei endogenen, nicht - infektösen Uveitiden, also bei Entzündungen des Augeninneren, die nicht einen Morbus Becet zur Ursache hätten. Ein Wirksamkeitsnachweis sei schwer zu führen, weil auf Grund der relativ niedrigen Inzidenz der Uveitis (ca. 17 pro 100.000 Einwohner) das Krankheitsbild derart selten sei, dass zunehmend weniger Arzneimittelhersteller in der finanziellen Lage seien, eine kontrollierte Uveitis-Studie durchzuführen. Als eine auf Uveitis spezialisierte Klinik weise sie darauf hin, dass derzeit keine andere Möglichkeit bestehe, das Makulaödem zu therapieren. Ohne Therapie bestehe aber eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit für einen weitgehenden Sehverlust.

Am 09.03.2004 beantragte der Antragsteller über das Universitätsklinikum Tübingen die Kostenübernahme für eine Therapie mit Interferon alfa-2a (Roferon-A). Zwar liege beim Ast kein Morbus Becet als systemische Grunderkrankung vor; es handele sich jedoch um ein zystoides Makulaödem als Komplikation einer Uveitis, die als gleichartig anzusehen sei.

Die Ag holte daraufhin ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Sachsen e.V. vom 31.03.2004 ein. Frau Dr. F ... lehnte eine Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung ab, weil keine zuverlässigen, wissenschaftlich nachprüfbaren, Aussagen zur Wirksamkeit der Therapie bestünden.

Unter Hinweis hierauf lehnte die Ag durch Bescheid vom 05.04.2004 die Kostenübernahme für eine Interferon-Therapie ab. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) fehle es an einer zuverlässigen, wissenschaftlich nachprüfbaren, Aussage, wonach mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden könne. Forschungsergebnisse, die erwarten ließen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden könne, lägen nicht vor. Dies sei nur dann der Fall, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt sei und Ergebnisse einer kontrollierten Phase III-Studie veröffentlicht seien, die eine klinisch relevante Wirksamkeit bzw. einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegten oder wenn außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht seien, die über die Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in den neuen Anwendungsgebieten zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare, Aussagen zuließen und auf Grund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne bestehe. Bislang gäbe es lediglich Fallbeschreibungen bzw. kleinere Studien. Bei der letzten Veröffentlichung im British Journal of Ophthalmology 2003 handele es sich um eine offene, nicht randomisierte unkontrollierte Studie an 50 Patienten. Die gewonnenen Ergebnisse bedürften einer Bestätigung in kontrollierten Studien. Sie müssten noch mit einer anderen Immunsuppression oder gegenüber Placebos verglichen werden.

Hiergegen legte der Ast am 04.05.2004 Widerspruch ein. Besonders der Visus auf dem linken Auge habe sich seit April wieder verschlechtert. Eine Alternative zur Behandlung des Makulaödems gebe es nicht.

Unter dem 11.05.2004 wies die Ag darauf hin, dass es sich nach der Rechtsprechung des BSG um eine schwerwiegende Erkrankung handele. Nach den ärztlichen Angaben wirkten Kortikosteroide intravitreal. Da er somit auf Kortikosteroide anspreche, sei weiterhin eine Verabreichung in systematischer (wohl richtig: systemischer) Form mit Kontrolle des Augeninnendruckes nicht von vornherein auszuschließen. Ein indikationsbezogener wissenschaftlicher Wirksamkeits- und Unbedenklichkeitsnachweis für die beantragte Therapie liege zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht vor. Bisher gäbe es lediglich Fallbeschreibungen bzw. kleinere Studien. Die letztgenannte Veröffentlichung betreffe eine offene Studie, d.h. eine Untersuchung, bei denen sowohl Patienten als auch Untersucher über die Art der Behandlung informiert seien. Solche Studientypen seien jedoch anfällig für systematische Fehler, die sich aus der Erwartungshaltung von Patienten und Untersucher ergäben. Daraus könnten lediglich erste Hinweise, jedoch keine Wirksamkeitsnachweise entnommen werden.

Durch Widerspruchsbescheid vom 15.06.2004 wies die Ag den Widerspruch zurück.

Hiergegen hat der Ast am 16.07.2004 Klage zum Sozialgericht Leipzig erhoben. Er hat zugleich vorläufigen Rechtsschutz beantragt. Auch außerhalb der Zulassungsindikation bestehe ein Anordnungsanspruch auf Kostenübernahme für eine Interferon alfa-2a-Therapie. Andere Therapiemöglichkeiten gäbe es nicht. Dies sei ihm von Dr. D ... mitgeteilt worden und werde zur Glaubhaftmachung eidesstattlich versichert. In den entsprechenden Fachkreisen sei unbestritten, dass Interferon alfa-2a bei okulärem Morbus Behcet sehr effektiv wirke. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse ließen sich ohne Weiteres auf Patienten übertragen, die an einem Makulaödem im Rahmen einer Uveitis unklarer Genese (endogene Uveitis) litten; denn bei zystoidem Makulaödem bei endogener Uveitis müsse von denselben pathophysiologischen Mechanismen ausgegangen werden wie bei zystoidem Makulaödem bei Uveitis im Rahmen eines Morbus Becet. Interferon alfa-2a wirke auch auf das zystoide Makulaödem bei endogener Uveitis. Diese Annahme werde bestätigt durch sieben behandelte Patienten, von denen sechs sofort auf die Therapie angesprochen hätten. Die besondere Eilbedürftigkeit resultiere daraus, dass ein Verlust seines Augenlichtes drohe, wenn nicht umgehend mit der Therapie von Interferon alfa-2a begonnen werde. Er sei außerstande, die Kosten von wenigstens 7000,00 EUR, zuzüglich der Kosten für einen einwöchigen stationären Aufenthalt, aus eigenen Mitteln vorzufinanzieren. In Abwägung seiner schwerwiegenden Interessen habe das Interesse der Ag zurückzustehen, die Hauptsache nicht vorwegzunehmen.

Er beantragt,

der Antragsgegnerin im Rahmen des vorläufigen Rechts- schutzes aufzugeben, die Kosten für eine Interferon alfa-2a (Roferon-A)-Therapie zu übernehmen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Selbst wenn zu Gunsten des Ast unterstellt würde, dass es keine anderen (vertraglichen) Therapieoptionen gäbe, liege keine gesicherte Datenlage vor, die einen Behandlungserfolg mit der beantragten Therapie (kurativ oder palliativ) begründen könnte. Die vom BSG geforderten kontrollierten Studien seien noch nicht durchgeführt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt von zwei Gerichtsakten (Hauptsache- und Antragsverfahren) sowie einen Verwaltungsvorgang der Ag Bezug genommen.

II.

Der statthafte und zulässige Antrag ist begründet.

Das Gericht kann nach Maßgabe des § 86 b Abs. 2 SGG auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Ast vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Da der Ast die vorläufige Kostenübernahme für eine Therapie begehrt, erstrebt er vorläufigen Rechtsschutz entsprechend § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG. Denn anders als bei einer sogenannten Sicherungsanordnung (§ 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG), bei der die Sicherung eines status quo im Vordergrund steht, geht es bei einer sogenannten Regelungsanordnung, wie im vorliegenden Fall, um die Begründung einer neuen Rechtsposition.

Für die Regelungsanordnung sind (ebenso wie nach § 123 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)) der durch die einstweilige Anordnung zu sichernde Anspruch (Anordnungsanspruch) und der Grund, weshalb die einstweilige Anordnung ergehen soll (Anordnungsgrund), glaubhaft zu machen.

Die Voraussetzungen für einen Anordnungsanspruch sind im Falle der Vorwegnahme der Hauptsache nur glaubhaft gemacht, wenn eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit für das Obsiegen im Hauptsacheverfahren besteht (so: OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 20.08.1992, DVBl. 93, 66). Andererseits muss die Anwendung des vorläufigen Rechtsschutzes unter Beachtung des jeweils betroffenen Grundrechtes und des Erfordernisses des effektiven Rechtsschutzes aus Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) erfolgen. Dann müssen jedoch gewichtige Anhaltspunkte dafür sprechen, dass das Rechtsmittel in der Hauptsache aller Voraussicht nach erfolgreich sein wird (BVerfG, Beschluss vom 25.10.1988, NJW 89, 827).

Nimmt der Erlass der einstweiligen Anordnung die Hauptsache aber vorweg, sind an die Prognose der Erfolgsaussichten besondere Anforderungen zu stellen. Denn mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung darf grundsätzlich nicht etwas begehrt und im gerichtlichen Verfahren zugesprochen werden, was als Vorgriff auf den im Hauptsacheverfahren geltend zu machenden Anspruch anzusehen ist, weil das Gericht dem Wesen und dem Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend die Grenzen der vorläufigen Regelung grundsätzlich nicht überschreiten und damit das im Verwaltungs- und Klageverfahren verfolgte Ziel nicht vorwegnehmen darf (Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl., § 123 Rdnr. 13 ff). Mit der Regelungsanordnung dürfen deshalb nur Maßnahmen zur Regelung eines "vorläufigen Zustandes" angeordnet werden. Nur dann, wenn das Recht des Ast sonst vereitelt oder ihm aus sonstigen Gründen eine bloß vorläufige Regelung nicht zumutbar wäre, ist ausnahmsweise eine Vorwegnahme der Hauptsache, insbesondere eine endgültige Befriedigung des geltend gemachten Anspruches, zulässig.

Zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes kann mit der einstweiligen Anordnung die Hauptsache ausnahmsweise nur vorweggenommen werden, wenn ohne die einstweilige Anordnung schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile für den Ast. entstehen (BVerfGE 46, 166 ff). Die Entscheidung, ob in Anbetracht der besonderen Umstände des Falles ausnahmsweise durch die einstweilige Anordnung die Hauptsache vorweggenommen werden darf, hängt damit wesentlich von der Bedeutung und Dringlichkeit des Anspruches und der Größe sowie Irreparabilität des Schadens für den Ast. bzw. die Allgemeinheit ab. Für die Entscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichtes maßgeblich (BVerfGE 42, 299). Diese Anforderungen sind vorliegend erfüllt:

Im Hinblick auf das betroffene Rechtsgut (Gesundheit) besteht nach Auskunft der behandelnden Universitätsklinik Tübingen, an der zu zweifeln das Gericht keinerlei Veranlassung sieht, eine erhebliche Gefährdung. Ohne Bewilligung der beantragten Therapie ist in naher Zukunft mit dem endgültigen Verlust der Sehkraft zu rechnen. Alternative Behandlungsmöglichkeiten existieren nach der, im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen und gebotenen, summarischen Betrachtungsweise nicht. Dies geht aus dem Schreiben der Universitäts-Augenklinik Tübingen vom Oktober 2003 hervor. Das Gericht misst deren Erkenntnissen insbesondere deswegen hohen Stellenwert zu, weil diese als Anstalt des öffentlichen Rechts Forschung und Lehre in der Augenheilkunde in besonderem Maße verpflichtet ist.

Entgegen der Rechtsauffassung der Ag verspricht die weitere Behandlung mit Kortikosteroiden nicht den notwendigen dauerhaften Erfolg. Einerseits gehen hiervon erhebliche weitere schädliche Nebenwirkungen aus, da diese Methode den Augeninnendruck weiter ansteigen lässt. Insoweit sie anregt, diesen fortlaufend zu kontrollieren, ist hiervon andererseits allein noch keine dauerhafte Beseitigung der davon ausgehenden Gesundheitsgefahren zu erwarten, zumal wenn nach Auffassung der Ag keine Behandlungsalternativen nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung bestehen sollen. Vielmehr wäre dann entweder von einer Verschlimmerung des Makulaödems oder von einer Erhöhung des Augeninnendrucks auszugehen, ohne dass die Grunderkrankung (Uveitis) damit dauerhaft geheilt oder deren Fortschreiten zumindest verhindert werden könnte.

Der Ast hat auch einen Anordnungsanspruch auf (vorläufige) Bewilligung der beantragten Therapie. Versicherte haben Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern (§ 27 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V)). Nach § 31 Abs. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit sie in der vertragsärztlichen Versorgung verordnungsfähig sind. Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung müssen nach § 12 Abs. 1 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürften die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.

Unstreitig ist nach den Ausführungen im MDK-Gutachten von Frau Dr. F ... vom 31.03.2004 Interferon alfa-2a in Deutschland unter dem Handelsnamen Roferon-A zur Behandlung der Haarzell-Leukämie, des progressiven asymptomatischen Karposi-Sarkoms bei Aids-Patienten, der Philadelphia-Chromosomen-positiven chronischen myeloischen Leukämie in der chronischen Phase, cutanen-T-Zell-Lymphomes, der chronischen Hepatitis B und C, des follikulären Non-Hodgkin-Lymphomes, des fortgeschrittenen Nierenzell-Karzinoms und des malignen Melanoms zugelassen. Keine Zulassung liegt indes vor für die Behandlung der Uveitis und zur Therapie von anderen Augenerkrankungen. Unstreitig ist auch weder die Erweiterung der Zulassung beantragt, noch liegen Ergebnisse einer kontrolilerten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) vor, die eine entsprechende Wirksamkeit, auch außerhalb der arzneimittelrechtlichen Indikation, auf augenärztlichem Gebiet belegen.

Gleichwohl ist trotz insoweit fehlender arzneimittelrechtlicher Zulassung und unter Beachtung des betroffenen Grundrechtes zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes eine Kostenübernahme für die Interferon alfa-2a-Therapie angezeigt. Zwar kann nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes, der das Gericht im Grundsatz folgt, ein zugelassenes Arzneimittel grundsätzlich nicht zu Lasten der Krankenversicherung in einem Anwendungsgebiet verordnet werden, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt; hiervon kann jedoch ausnahmsweise abgewichen werden, wenn es bei einer schweren Krankheit keine Behandlungsalternative gibt und sich nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis die begründete Aussicht besteht, dass mit dem Medikament ein Behandlungserfolg erzielt werden kann (BSG, Urteil vom 19.03.2002, Az: B 1 KR 37/00 R).

Nach der Rechtsprechung des BSG kommt die Verordnung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchti- genden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. auf Grund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Damit dieses angenommen werden kann, müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann.

Hier hat das Universitätsklinikum Tübingen, das nach eigener Einschätzung über eine besondere augenärztliche Fachkunde mit dem Krankheitsbild des Ast verfügt, in nachweisbarer Form mit der Interferon alfa-2a-Therapie überaus positive Erfahrungen gemacht.

Die Rechtsprechung des BSG zum Erfordernis eines kontrollierbaren Wirksamkeitsnachweises kann jedoch dann nicht ohne Weiteres übertragen werden, wenn wegen der ausgesprochenen Seltenheit der Erkrankung - wie im Falle des Ast - wissenschaftlich fundierte und kontrollierte Studien in erheblichem Umfang nicht vorliegen können. Andernfalls wäre mangels vertretbarer Behandlungsalternativen trotz positiver medizinischer Ergebnisse eine erfolgreiche Behandlung des Ast nicht mehr zu gewährleisten. Sofern überhaupt noch wissenschaftlich belegbare Studien zur Behandlung von Uveitis durchgeführt werden sollten, kämen diese im Falle des Ast zu spät. Das Erfordernis kontrollierter Studien ist insoweit bei ausgesprochenen seltenen Krankheitsbildern entsprechend zu modifizieren.

Denn in Anbetracht der Schwere der Erkrankung und der drohenden Erblindung ist dem Ast nicht zuzumuten, den Erfolg des Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Versicherte haben indes einen Rechtsanspruch auf Linderung ihrer Leiden und auf eine, den weiteren Krankheitsverlauf stoppende, Behandlung. Dies gilt selbst dann, wenn die Auswirkungen von Roferon-A auf den Ast nicht mit letzter Konsequenz wissenschaftlich fundiert nachgewiesen sind. Maßgeblich ist hierbei nach der aufgezeigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Folgenabwägung: Abzuwägen ist zwischer einer - zwar nicht nach den vorgenannten Maßstäben wissenschaftlich nachgewiesenen, nach Auskunft der Augenklinik aber erfolgversprechenden - Behandlung mit einer Interferon alfa-2a-Therapie einerseits und einer nicht risikofreien und auf Dauer wirkungslosen fortgesetzten Kortison-Behandlung andererseits. Nach fachmedizinischer Einschätzung von Dr. D ..., an der zu zweifeln das Gericht keine Veranlassung sieht, ist bei endogener Uveitis von denselben pathophysiologischen Mechanismen auszugehen wie bei einer Uveitis im Rahmen eines Morbus Becet, sodass die Ergebnisse der hierzu noch vorhandenen Studien zu Interferon alfa-2a (Roferon-A) hierauf zu übertragen sind.

Interferon alfa-2a bzw. Roferon-A ist nicht zur Behandlung auf augenärztlichem Gebiet zugelassen. Nach dem MDK-Gutachten besteht aber im Hinblick auf bestimmte Indikationen eine Zulassung im Sinne des Arzneimittelgesetzes. Das erkennende Gericht hat im Falle einer inhalativen Applikation statt der arzneimittelrechtlich zugelassenen intravenösen und später dann subcutanen Injektion entschieden, dass zwar grundsätzlich im Hinblick auf die Rechtsprechung des BSG zum sogenannten "Off-Label-Use" auch die Darreichungsform ein Zulassungskriterium ist. Eine davon abweichende Applikation umfasst damit grundsätzlich nicht den von der Zulassung des Arzneimittels gedeckten Bereich (Beschluss vom 07.05.2003, Az: S 8 KR 9/03 ER; vgl. auch: BSG, wie vor; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 19.08.2002, Az: L 1 B 66/02 KR ER). Gleichwohl hat es unter Güterabwägung der Form der Anwendung im Hinblick auf die Schwere der Erkrankung keine entscheidungserhebliche Bedeutung beigemessen (ebenso: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 25.06.2002, Az: L 4 KR 90/02 ER). Dies liegt darin begründet, dass - wenn nach der vorgenannten Rechtsprechung des BSG unter bestimmten Voraussetzungen eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für Fertigarzneimittel besteht, die für Anwendungsgebiete verordnet werden, auf die sich die Zulassung nicht erstreckt - dies erst recht gelten muss für Arzneimittel, die zwar in einer anderen Form, aber doch in dem Anwendungsbereich, für den sie zugelassen sind, eingesetzt werden.

Im Unterschied hierzu handelt es sich hier nicht nur um eine andere Darreichungsweise, sondern darüber hinaus um eine andere als von der Zulassung erfasste Indikation, d.h. eine Anwendung auf augenärztlichem Gebiet. Dieser "Off-Label-Use" ist ausnahmsweise vorliegend zulässig. Hierbei war aber zu berücksichtigen, dass unstreitig wissenschaftlich nachprüfbare umfangreiche Studien im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes nicht vorliegen. Zwar verlieren demzufolge die Zulassungsvorschriften zu einem erheblichen Teil ihre Bedeutung, wenn der gesetzlichen Krankenversicherung eine Erweiterung der Anwendungsgebiete eines Arzneimittels ohne Zulassung im Verfahren nach § 135 Abs. 2 SGB V erreicht werden kann, so dass sich die Hersteller den Aufwand und die Kosten eines neuen Zulassungsverfahrens ersparen können. Gleichwohl hat auch das BSG darauf abgehoben, dass in der medizinischen Diskussion weitgehende Einigkeit darüber besteht, dass in bestimmten Versorgungsbereichen und bei einzelnen Krankheitsbildern auf einen, die Zulassungsgrenzen überschreitenden, Einsatz von Medikamenten nicht völlig verzichtet werden kann. Andernfalls würde den Patienten eine dem Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung vorenthalten. Für einen Gebrauch außerhalb der zugelassenen Indikation im engeren Sinne wird ein Bedarf gesehen, etwa bei ernsten, lebensbedrohenden Krankheiten wie Krebs oder Aids oder bei einem mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Schmerzen verbundenen Leiden, das wegen fehlender therapeutischer Alternative nicht wirksam behandelt werden kann. So liegt der Fall hier. Da die Ag letztlich nicht in der Lage war, effektive andere Behandlungsalternativen im Falle des Ast zu benennen, war zu Gunsten des Ast ein Anordnungsanspruch anzunehmen. Im Falle der Verordnung bleiben der Ag mögliche Regressansprüche erhalten (vgl. dazu auch: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 24.06.2002, Az: S L 5 B 22/02 KR ER).

Es besteht auch ein erforderlicher Anordnungsgrund. Aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) folgt, dass die Gerichte wegen der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zur Verfügung stehenden kurzen Zeit die anstehenden Rechtsfragen nicht vertieft behandeln können und auf eine summarische Prüfung beschränkt sind. Die Entscheidung ist mithin maßgeblich auf Grund einer Folgenabwägung zu treffen (vgl. ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, bspw. Beschluss vom 04.07.2001, Az: 1 BvR 165/01 m.w.N.). Wegen der Schwere der Erkrankung des Ast und der daraus resultierenden besonderen Dringlichkeit eines Therapiebeginns wären die Folgen einer ablehnenden Entscheidung für den Ast von besonderem, in der Lebensqualität erheblich beeinträchtigenden Gewicht. Eine weiter fortschreitende Visusminderung und mögliche Erblindung ist nach der, auch von der Ag nicht in Zweifel gezogenen, Einschätzung des behandelnden Augenarztes zumindest wahrscheinlich. Da nach den im vorläufigen Rechtsschutzverfahren angegebenen wissenschaftlichen Studien eine den weiteren Sehverlust aufhaltende Wirkung durch Interferon alfa-2a-Therapie mittels Roferon-A erreicht werden kann, ist ein Erfolg im Hauptsacheverfahren nicht ausgeschlossen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved