S 8 KR 138/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 8 KR 138/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 12 KR 24/04 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Unter Aufhebung des Bescheides vom 26.04.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.2004 wird festgestellt, dass die Kündigung vom 20.04.2004 zum 30.06.2004 wirksam geworden ist. Der Beklagten werden die außergerichtlichen Kosten des Klägers auferlegt. Die Sprungrevision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Frage, wann die vom Kläger gegenüber der Beklagten am 20.4.2004 erklärte Kündigung wirksam geworden ist.

Der Kläger war seit dem 1.4.2003 Mitglied der damaligen U BKK. Die Versicherung erfolgte zum Beitragssatz von 12,8 v.H. Zum 01.04.2004 fusionierte die damalige U BKK mit der BKK C zur U BKK, der Beklagten. Zum 01.04.2004 wurde der Beitragssatz der Beklagten auf 13,8 v.H. festgesetzt. Der Kläger erklärte daraufhin gegenüber der Beklagten mit Schreiben vom 20.4.2004 die Kündigung zum 30.6.2004 unter Berufung auf die Beitragserhöhung. Die Beklagte verfügte ihm gegenüber mit Bescheid vom 26.4.2004, dass sie einer Kündigung zum 30.6.2004 nicht entsprechen könne, da im Falle einer Fusion die Beiträge neu festgesetzt würden und sich deshalb kein Sonderkündigungsrecht ergäbe. Den gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruch wies die Widerspruchsstelle der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 17.5.2004 zurück. Sie erläuterte, dass im Falle einer Fusion die Voraussetzungen des § 175 Abs. 4 Satz 5 SGB V nicht vorlägen und eine Kündigung erst zum Ablauf der in § 175 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannten Bindungsfrist möglich sei. Die Entscheidung des Landessozialgerichts T führe nicht zu einer anderen rechtlichen Bewertung.

Der Kläger hat gegen die Bescheide der Beklagten Klage erhoben, mit der er die Wirksamkeit bzw. Bestätigung der Kündigung zum 30.6.2004 geltend macht. Der Standpunkt der Beklagten, dass ein Sonderkündigungsrecht im Falle von Fusionen ausgeschlossen sei, führe dazu dass sie sich der Pflichten entziehen und der Vorteile der alten Krankenkasse berühmen könne. Sollte die Beklagte nicht an die alten Beitragssätze gebunden sein, so wäre der Kläger auch nicht an die alte Mitgliedschaft gebunden; vielmehr bedürfe es im Falle einer Fusion dann eines Neubeitritts. Mangels Kündigungsbestätigung habe er sich auch noch keine Mitgliedsbescheinigung der neuen Krankenkasse besorgen können. Auf den entsprechenden Hinweis des Gerichtes hin, dass für die Wirksamkeit der Kündigung die Ausübung des Wahlrechts gegenüber der neuen Krankenkasse erforderlich ist, hat der Kläger am 17.6.2004 gegenüber der Beigeladenen die Aufnahme als Mitglied beantragt.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Bescheides vom 26.04.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.2004 festzustellen, dass die Kündigung vom 20.04.2004 zum 30.06.2004 wirksam geworden ist,

hilfsweise zu 1), unter Aufhebung des Bescheides vom 26.04.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.2004 festzustellen, dass die Kündigung vom 20.04.2004 zum 30.09.2004 wirksam wird,

hilfsweise zu 2), die Beklagte zu verpflichten, unter Abänderung des Bescheides vom 26.04.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.2004 eine Kündigungsbestätigung zum 30.9.2004 auszustellen,

hilfsweise zu 3), festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger den aus der Verzögerung des Kassenwechsels in Folge der rechtswidrigen Verweigerung der Ausstellung einer Kündigungsbestätigung entstehenden Schaden zu ersetzen,

hilfsweise zu 4), festzustellen, dass die Weigerung der Beklagten, dem Kläger unverzüglich eine Kündigungsbestätigung auszustellen, rechtswidrig war.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Sie hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig. Für den Kläger gelte die 18-monatige Bindungsfrist. Ein Sonderkündigungsrecht stehe ihm nicht zu, da § 175 Abs. 4 Satz 5 SGB V dieses nur für den Fall der Beitragserhöhung vorsehe und bereits von seinem Wortlaut her nicht eingreife. Eine Beitragserhöhung sei vorliegend nicht gegeben, da die alte Krankenkasse mit ihrer Satzung einschließlich der alten Beitragssatzregelung untergegangen sei und die neue Krankenkasse mit neuer Satzung die neue Beitragssatzhöhe originär festgesetzt habe. Der Gesetzgeber habe mit Absicht kein Sonderkündigunggsrecht von Versicherten bei einer gleichzeitigen Fusion von Krankenkassen vorgesehen. Fusionen unter Krankenkassen seien politisch erwünscht.

Zur weiteren Sachdarstellung wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten nebst den beigefügten Unterlagen Bezug genommen, insbesondere vollinhaltlich auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden und Erklärungen des Klägers.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist bereits mit ihrem Hauptantrag zulässig und begründet.

Es handelt sich um eine zulässige kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage, §§ 54, 55 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - (Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 06.08.1998 - L 5 K 55/97 -).

Die Klage ist auch begründet. Die Kündigung des Klägers ist zum 30.06.2004 wirksam geworden.

Dem Kläger stand das Kündigungsrecht gemäß § 175 Abs. 4 Satz 2 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) zu (dabei handelt es sich entgegen der allgemein gebrauchten Formulierung nicht um ein "Sonderkündigungsrecht" im engeren Sinne, sondern bei weiterer Geltung der allgemeinen Kündigungsfristen gemäß § 175 Abs. 4 Satz 2 SGB V entfällt im Falle einer Beitragssatzerhöhung -lediglich- die Bindungsfrist gemäß § 175 Abs. 4 Satz 1 SGB V ersatzlos).

Der Kläger war nicht über den 1.4.2004 hinaus an die zum März 2003 getroffene Wahl gebunden, da diese in § 175 Abs. 4 Satz 1 SGB V festgelegte Bindungsfrist vorliegend gemäß § 175 Abs. 4 Satz 5 SGB V nicht galt. Entgegen der Ansicht der Beklagten lag vorliegend eine Beitragssatzerhöhung vor bzw. löste die mit Satzung erfolgte Festsetzung des neuen höheren Beitragssatzes von 13,8 v.H. dieselben Rechtsfolgen wie eine Beitragssatzerhöhung aus. Dies folgt aus dem Umstand, dass die Beklagte nach der Fusion der Krankenkassen als Gesamtrechtsnachfolgerin der damaligen U BKK gemäß § 144 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 150 Abs. 2 Satz 1 SGB V in deren Rechte und Pflichten eingetreten ist. Aus dieser gesetzlich geregelten Gesamtrechtsnachfolge folgt, dass die Beklagte auch hinsichtlich der Beitragsansprüche in alle Rechte und Pflichten der bisherigen Krankenkasse eintrat. Dies bedeutet, dass sie hinsichtlich der Beitragssätze der alten Krankenkasse gemäß § 240 SGB V i.V.m. der Satzung der alten Krankenkasse einerseits in deren Recht auf Zahlung keines niedrigeren Beitragssatzes als 12,8 v.H., aber andererseits auch in die Pflicht auf Beanspruchung keines höheren Beitragssatzes als 12,8 v.H. eintrat. Dies bedeutet zwar nicht, dass sie gegenüber den Mitgliedern der alten beitragsgünstigeren Krankenkasse verpflichtet ist, den alten Beitragssatz weiter fortzuschreiben bzw. in die neue Satzung aufzunehmen. Vielmehr ist es ihr wie im Rahmen einer Beitragserhöhung möglich, einen höheren Beitragssatz festzulegen. In diesem Fall hat sie aber auch die entsprechenden Rechtsfolgen wie bei einer Beitragserhöhung zu tragen.

Eine andere Auslegung der Vorschriften der §§ 175, 150, 144 SGB V würde tatsächlich zu dem den Betroffenen nicht mehr vermittelbaren Ergebnis führen, dass für sie bei einer Kassenfusion gewisse Pflichten (Bindungsfrist) weiterbestehen, während gewisse Rechte untergehen (Entfallen der Bindungsfrist oder sog. Sonderkündigungsrecht), obwohl die Vorschrift des § 175 Abs. 4 Satz 1 und Satz 5 SGB V offensichtlich in beiden Fällen vom Fortbestand einer Krankenkasse ausgeht (Satz 1: " ... an die Wahl der Krankenkasse mindestens 18 Monate gebunden ..."; Satz 5: "Satz 1 gilt nicht, wenn die Krankenkasse ihren Beitragssatz erhöht"). Sollte mit der Beklagten der Schluss gezogen werden, dass § 175 Abs. 4 Satz 5 SGB V im Falle einer Fusion keine Anwendung finde, so müsste dieses konsequenterweise auch für § 175 Abs. 1 Satz 1 SGB V gelten, was ebenfalls zur Möglichkeit einer Kündigung ohne Bindungsfrist führen würde. Des Weiteren spricht auch die Entstehungsgeschichte des § 175 SGB V gegen die von der Beklagten vertretene Auslegung (vgl. hierzu ausführlich: LSG NRW, Beschluss vom 8.7.2004 - L 2 B 16/04 KR ER -).

Der Kläger hat auch das ihm zustehende Wahlrecht gegenüber der Beigeladenen zum 1.7.2004 ausgeübt.

Der getroffenen Entscheidung steht nicht entgegen, dass der Kläger das in § 175 SGB V vorgeschriebene formalisierte Verfahren (Kündigung, Vorlage einer Kündigungsbestätigung bei der neuen Krankenkasse, Ausstellen einer Mitgliedsbescheinigung und Nachweis der neuen Mitgliedschaft innerhalb der Kündigungsfrist) nicht eingehalten hat bzw. einhalten konnte. Insoweit kommt der erfolgten gerichtlichen Feststellung die entsprechende ersetzende Wirkung zu. Denn das formalisierte Verfahren gemäß § 175 SGB V bezweckt allein die Vermeidung einer Doppelversicherung oder Versicherungslücke im Zusammenhang mit einem Kassenwechsel. Sind diese Voraussetzungen eines Kassenwechsels jedoch ohnedies Gegenstand einer gerichtlichen Prüfung, so ist es zur Vermeidung eines reinen Formalismus sinnvoll, das Ergebnis der Prüfung unmittelbar gerichtlich festzustellen, zumal der Kläger allein durch den verfahrensbedingten Zeitablauf Rechte verlieren würde.

Der getroffenen Entscheidung steht des Weiteren nicht entgegen, dass der Zeitpunkt des begehrten Kassenwechsels bereits vergangen ist. Insoweit geht das Gericht davon aus, dass der Zeitpunkt der Wirksamkeit der Kündigung erforderlichenfalls auch rückwirkend festgestellt werden kann. In solch einem Fall ist das Versicherungsverhältnis rückabzuwickeln; das bedeutet: Rückzahlung der überzahlten, gesamten Beiträge durch die Beklagte an den Kläger, Nachzahlung der gesamten ab dem Kündigungszeitpunkt/Beginn der neuen Mitgliedschaft fälligen Beiträge durch den Kläger an die Beigeladene (oder eine direkte Verrechnung der - ggf. niedrigeren - Beiträge zwischen Beklagter und Beigeladener sowie ggf. Erstattung der Beitragsdifferenz an den Kläger), Erstattung von möglicherweise durch den Kläger in der Zwischenzeit in Anspruch genommenen Leistungen zwischen der Beklagten und der Beigeladenen. Auch das Bundessozialgericht geht davon aus, dass selbst die Erbringung von Sozialleistungen in der Vergangenheit der rückwirkenden Beendigung der alten und Neubegründung der neuen Mitgliedschaft grundsätzlich nicht entgegensteht, da insoweit zwischen den Leistungsträgern dem Grunde nach Erstattungsansprüche bestehen (Urteil vom 06.02.1992 - 12 RK 14/90 -). Dies entspricht zudem dem in § 131 Abs. 1 SGG zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken der möglichst vollständigen Restitution. Eine andere Lösung würde dazu führen, dass dem Kläger die Vollziehung einer rechtzeitigen Kündigung und des Kassenwechsels allein unter Berücksichtigung der Rechtsmittelfristen in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht möglich wäre und der ggf. rechtswidrige Zustand bis zum Ende eines ggf. zeitintensiven Verfahrens unkorrigierbar festgeschrieben würde. Gerade in zahlreichen Parallelverfahren ist von der überwiegenden Zahl der Gerichte das Vorliegen eines Anordnungsgrundes abgelehnt worden (vgl. Beschlüsse des Thüringer LSG vom 6.7.2004 - L 6 KR 468/04 ER -, des LSG Berlin vom 24.6.2004 - L 15 B 51/04 KR ER -, des Hessischen LSG vom 3.8.2004 - L 14 KR 142/04 ER -, des Bayrischen LSG vom 10.8.2004 - L 4 B 315/04 -, des LSG Baden-Württemberg vom 12.8.2004 - L 11 KR 2737/04 -; die Gefahr eines drohenden unwiederbringlichen Rechtsverlustes allein durch Zeitablauf nehmen dagegen die Senate des LSG NRW an: Beschlüsse vom 22.7.2004 - L 16 B 51/04 KR ER -, vom 27.07.2004 - L 16 B 64/04 KR ER -, vom 21.6.2004 - L 5 B 24/04 KR ER - und vom 16.7.2004 - L 2 B 19/04 KR ER -).

Da bereits der Hauptantrag des Klägers begründet ist, bedurfte es keiner Entscheidung mehr darüber, ob die Kündigung jedenfalls genau zum Ablauf der 18-monati-gen Bindungsfrist (Hilfsantrag zu 1) wirksam geworden ist. Hinsichtlich des Hilfsantrags zu 1) hat die Beklagte - wie aus Parallelverfahren bekannt - von Versicherten die zusätzliche ausdrückliche Formulierung einer ordentlichen Kündigung gefordert, da sie sich durch den vom LSG NRW zwar einschränkend ausgelegten, aber in seinem Wortlaut nicht abgeänderten Tenor des strafbewehrten Beschlusses des Sozialgerichts Düsseldorf vom 24.5.2004 - S 34 KR 86/04 ER - (nachfolgend: Beschluss des LSG NRW vom 8.7.2004 - L 2 B 16/04 KR ER -) gehindert sieht, den einzelnen Klägern während der laufenden Verfahren von sich aus zumindest eine Kündigungsbestätigung zum Zeitpunkt des Ablaufs der 18-monatigen Bindungsfrist ("ordentliche Kündigung") auszustellen, auch wenn dieser Zeitpunkt oftmals während des Klageverfahrens eintritt. So ist die ungewöhnliche Situation entstanden, dass sich ein im Sinne der Versicherten ergangener Beschluss zu ihren Lasten auswirkt. Darüber hinaus berechnet die Beklagte den Lauf der Kündigungsfrist erst ab dem Zugang dieser zusätzlichen Erklärung und nicht ab dem Zeitpunkt der ursprünglichen, streitbefangenen Kündigungserklärung, die sicherlich eine hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung mitumfasst; dies jedenfalls, wenn die Nachhaltigkeit des Wechselwillens durch die Einlegung der Rechtsmittel bis hin zur Klage deutlich zum Ausdruck gekommen ist. Des Weiteren brauchte auch nicht über die Hilfsanträge zum Schadensersatz (zu den Erfolgsaussichten: Beschluss des LSG NRW 21.6.2004 - L 5 B 24/04 KR ER -) und der Fortsetzungsfeststellungsklage entschieden zu werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Sprungrevision war auch unter Berücksichtigung der bereits anhängigen Revisionsverfahren B 00 KR 00/00 und B 00 KR 00/00 zuzulassen, da in der höherrichterlichen Rechtsprechung zwischenzeitlich zusätzlich die Frage der Umsetzung bzw. der rechtlichen Konsequenzen aus erheblich zeitversetzten Entscheidungen im Sinne der Kläger umstritten ist. Dies führt dazu, dass im Zuge des sich gegenüber der Beklagten entwickelten Massenverfahrens mit der sich ergebenden Verfahrensdauer selbst Versicherte, die im Vertrauen auf die anhängigen Rechtsmittelverfahren und nach etwaiger Ablehnung einstweiliger Anträge nichts weiter unternehmen, auch nach Ablauf der 18-monatigen Bindungsfrist keine (hilfsweise) Kündigungsbestätigung erhalten und so Gefahr laufen, auch über die 18-Monats-Frist hinaus einen unwiederbringlichen Rechtsverlust zu erleiden.
Rechtskraft
Aus
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