L 22 R 184/18

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
22
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 21 R 1674/17
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 22 R 184/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 15. Dezember 2017 und der Bescheid der Beklagten vom 12. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchs-bescheides vom 26. Mai 2017 aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet, den Bescheid vom 17. Juni 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. August 2016 zurückzunehmen, und verurteilt, der Klägerin Regelaltersrente ab dem 1. Juli 1997 unter Anerkennung einer glaubhaft gemachten Beitragszeit vom 29. November 1944 bis 18. Dezember 1944 zu gewähren.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits zu zwei Fünfteln zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Regelaltersrente ab 1. Juli 1997 unter Berücksichtigung glaubhaft gemachter Beitragszeiten von August 1944 bis Dezember 1944 für eine Beschäftigung im Getto Budapest.

Die im März 1926 in T (CSR) geborene, jüdische Klägerin ist seit Juni 1956 Staatsangehörige der USA, wo sie sich seit Oktober 1949 aufhält. Ihr war als Verfolgte im Sinne des § 1 Abs. 1 Bundesentschädigungs-gesetz (BEG) Entschädigung zuerkannt worden (Vergleich vom 3. August 1971 mit dem Bezirksamt für Wiedergutmachung Trier).

Im November 2015 beantragte sie die Zahlung einer Regelaltersrente unter Hinweis auf das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG). Es liege bei ihr eine Tätigkeit in einem Ghetto mit Entgeltleistungen vor. Sie habe von August 1944 bis Januar 1945 evakuierte Räume gesäubert und bombardierte Straßen von Trümmern geräumt. Zugleich gab sie an, von Dezember 1944 bis Februar 1945 illegal gelebt zu haben und verfolgt worden zu sein.

Der Beklagten wurden vom US-amerikanischen Versicherungsträger unter dem 1. Juni 2016 insgesamt 108 Monate mit Pflichtbeiträgen mitgeteilt.

Mit Bescheid vom 31. März 2016 lehnte die Beklagte den Antrag mangels Mitwirkung nach § 66 SGB I ab. Nachdem die Klägerin die Unterlagen mit Schreiben vom 5. April 2016 eingereicht hatte, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 17. Juni 2016 den Antrag ab und führte begründend aus, der Ghettoaufenthalt sei laut Entschädigungsakte durch Zeugenaussagen vom November 1944 bis Dezember 1944 belegt. Die aktuellen Angaben der Klägerin würden sich damit weder hinsichtlich der Zeiträume noch der Art der Beschäftigung decken. Wenn die Klägerin im Ghetto in der Illegalität, wie 1970 angegeben, gelebt habe, so spreche diese Tatsache eindeutig gegen eine Beschäftigung. Diese Widersprüche könnten nicht durch die Behauptung des Gegenteils ausgeräumt werden. Gegen diesen Bescheid wandte sich die Klägerin mit ihrem Widerspruch vom 4. Juli 2016, welcher durch Widerspruchsbescheid vom 24. August 2016 zurückgewiesen wurde.

Mit Schreiben vom 28. Dezember 2016 beantragte die Klägerin die Überprüfung dieses Ablehnungsbescheides. Im Herbst 1944 sei sie ins Ghetto Budapest gekommen. Im Dezember 1944 sei sie von dort geflüchtet. Im Formblatt sei aus Versehen das Datum Januar 1945 eingetragen worden. Aus dem ärztlichen Gutachten vom 6. Juni 1970 sei nicht zu entnehmen, dass sie in Budapest in der Illegalität gelebt habe. Sie habe nur gesagt, dass sie bis 1944, ohne Monatsangabe, in der Illegalität gelebt habe. Sie sei nach Budapest im März 1944 gekommen.

Mit Bescheid vom 12. Januar 2017 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Sie wiederholte dazu die Begründung aus dem Bescheid vom 17. Juni 2016. Dagegen wandte sich die Klägerin mit ihrem Widerspruch vom 6. März 2017. Es sei unverständlich, warum der Rententräger darauf beharre, sie habe im Ghetto Budapest in der Illegalität gelebt. Aus dem ärztlichen Gutachten von 1970 gehe hervor, sie sei mit ihrem Bruder 1942 nach Ungarn geflüchtet, wo sie bis 1944, ohne Monatsangabe, in der Illegalität gelebt habe. Diese Angaben hätten sich auf die Periode vor Budapest bezogen. In der eigenen Aussage erklärte sie ausdrücklich, sie sei Ende März 1944 nach Budapest kommen. Sie habe beschrieben: "Ich konnte mich bei der dortigen jüdischen Gemeinde anmelden." Zuerst sei sie in die gelben Häuser gekommen, wo sie den Judenstern habe tragen müssen und nur für ca. zwei Stunden am Tag die Wohnung habe verlassen dürfen. Im Herbst 1944 sei sie in das Ghetto gezogen. Dort habe diese Beschränkung nicht mehr gegolten. Ab Mai 1944 habe es nach dem Gutachten von Hildrun Glass vom 14. Juni 2006 einen allgemeinen Arbeitsdienst auch für Frauen gegeben, für die jedoch die Sonderregelung gegolten habe, dass sie ausschließlich manuelle Tätigkeiten verrichteten. Da sie bei Beschäftigungsbeginn das vierzehnte Lebensjahr deutlich vollendet gehabt habe, wäre sie nach den geltenden deutschen Vorschriften auch versicherungspflichtig gewesen. Die Angabe Januar 1945 zum Aufenthalt im Ghetto sei ein Versehen gewesen. Im Formblatt habe sie bei den Ersatzzeiten angegeben, dass sie ab 12/44 illegal gelebt habe, also geflüchtet sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 26. Mai 2017 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die Klägerin habe nach ihren früheren Angaben bis 1944 in Ungarn in der Illegalität gelebt. Mit der Besetzung Ungarns durch die Deutschen sei sie nach Budapest gekommen, wo sie bis Anfang Dezember 1944 gelebt habe, bis sie von dem Ghetto weggelaufen sei, nach Buda gekommen sei und wieder versteckt gelebt habe. Die zielgerichteten Angaben der Klägerin im hiesigen Verfahren stünden daher im Gegensatz zu der eidesstattlichen Erklärung und den Zeugenaussagen im früheren Entschädigungsverfahren, die sich die Klägerin zurechnen lassen müsse. Allein der Aufenthalt in einem Ghetto sowie entsprechende Verfolgungsmaßnahmen würden keine Leistung nach dem ZRBG begründen.

Dagegen hat die Klägerin am 20. Juni 2017 über die Beklagte Klage beim Sozialgericht Berlin erhoben. Zur Begründung hat sie auf ihren Vortrag im Widerspruchsverfahren verwiesen.

Mit Gerichtsbescheid vom 15. Dezember 2017 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat auf die Begründung im Widerspruchsbescheid vom 26. Mai 2017 verwiesen und ergänzend ausgeführt, dass es glaubhaft sei, dass sich die Klägerin in der angegebenen Zeit im Ghetto Budapest aufgehalten habe. Die Klägerin habe sich in den früheren Aussagen im Entschädigungsverfahren niemals dazu geäußert, in welcher Form sie im Ghetto gearbeitet habe. Darüber hinaus habe sie im Entschädigungsverfahren angegeben, dass sie ihre Wohnung im Ghetto nur für ca. zwei Stunden am Vormittag habe verlassen dürfen, was eine behauptete Beschäftigung nicht glaubhaft erscheinen lasse. Auch unter Berücksichtigung der divergierenden Zeitangaben im Hinblick auf die Aufenthaltsdauer im Ghetto Budapest sei der Beklagten darin zuzustimmen, dass die Angaben insgesamt widersprüchlich seien und im Kern nicht übereinstimmten.

Gegen den ihrer Prozessbevollmächtigten am 8. Januar 2018 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 23. März 2018 beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingelegte Berufung. Bereits im September 1941 hätten die Verfolgungsmaßnahmen begonnen. Im Sommer 1942 sei sie zu ihrem Onkel in Subron (Ungarn) geflohen und im März 1944 nach Budapest gekommen. Zuerst habe sie in den Häusern, die mit einem gelben Stern markiert gewesen seien, gelebt. Sobald ein offizielles Ghetto in Budapest gebaut worden sei, das müsse Ende Sommer 1944 gewesen sein, sei sie ins Ghetto gebracht worden. Sie könne sich heute nicht mehr an das genaue Datum erinnern. Es sei sehr wichtig gewesen, Arbeit zu finden, um regelmäßige Essensrationen zu bekommen. Die Arbeit sei ihr vom Judenrat übertragen worden. Sie habe evakuierte Häuser räumen müssen und Trümmer von den ausgebombten Straßen entfernen müssen. Sie sei bis Dezember 1944 im Ghetto geblieben, als sie mit ihrer Freundin davongelaufen sei. Für ihren Entschädigungsvorgang sei die Beschäftigung im Ghetto nicht relevant gewesen. Sie sei danach auch nicht gefragt worden. Der Hauptpunkt zu dieser Zeit sei der Entzug der Freiheit gewesen. Die Klägerin hat die Angaben ihres Bruders im Entschädigungsverfahren eingereicht. Sie hat eine weitere Erklärung vom 18. Juli 2019 eingereicht. Danach habe sie bereits während des Aufenthalts in den gelben Häusern einige Stunden am Tag verschiedene Straßenreinigung machen müssen. Für diese Arbeit habe sie Essen bekommen. Ende September, es sei um die Tage des jüdischen Neujahrsfestes gewesen, sei sie in das Ghettoviertel überstellt worden, wo sie mit ihrem älteren Bruder A gewohnt habe. Anfangs sei das Ghetto nicht umzäunt gewesen. Es sei aber immer schwieriger geworden, sich frei zu bewegen. Sie habe sich gleich beim Judenrat um Arbeit beworben, da die Priorität war, sich vor den Deportationen zu schützen und Essensrationen zu bekommen. Sie könne sich an Arbeiten wie Wegräumen von Trümmern und Putzarbeiten mit anderen erinnern. Sie wisse, dass sie mit ihrer Freundin S zusammengearbeitet habe. Leider seien ihr Namen der anderen Person nicht mehr bekannt. Je nach Bedarf sei die Arbeit an verschiedenen Straßen im Ghetto eingeteilt worden. Sie habe hierfür täglich Essen bekommen. Die Essensrationen seien immer weniger geworden. Ihre Freundin habe Verbindungen zu einer Frau in Buda gehabt. Ihr Bruder habe ihr geraten zu fliehen. So sei sie mit ihrer Freundin über die Donau nach Buda geflüchtet. Das Chanukka-Fest sei schon vorbei gewesen, als sie flohen. Am 7. Februar 1945 sei das Schrecklichste passiert. Ihre Freundin sei auf der Straße in Buda von den Deutschen erschossen worden. Sie selbst habe auch Wunden erlitten. Es sei ein Wunder, dass sie heute am Leben sei. Die Klägerin hat das Gutachten von Hildrun Glass vom 14. Juni 2006 (erstattet in einem anderen Verfahren zum Aktenzeichen S 4 RJ 1892/04 u.a. – Bl. 105 ff. Gerichtsakte) eingereicht. Mit Schreiben vom 18. November 2019 gab die Prozessbevollmächtigte der Klägerin an, es müsse davon ausgegangen werden, dass die Flucht wohl doch Ende Dezember 1944 oder eher Anfang Januar 1945 gewesen sein müsse. Die Klägerin wisse, dass es sehr kalt gewesen sei und dass sowohl Weihnachten als auch Chanukka vorbei gewesen seien.

Die Klägerin hat die Versicherung an Eides statt vom 19. November 2019 eingereicht. Darin gab sie an, sich ab März 1944 in den gelben Sternhäusern mit Ausgangszeit für private Erledigungen für zwei Stunden untergebracht gewesen zu sein. Ansonsten habe sie über den Tag verschiedene Arbeiten verrichtet, die für Essensrationen erfolgt sein. Als Chanukka vorbei gewesen sei (es war gefroren) kurz vor der Befreiung, sei sie geflohen. Es gebe leider keine Zeugen mehr. AS sei erschossen worden.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 15. Dezember 2017 und den Bescheid der Beklagten vom 12. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Mai 2017 aufzuheben, die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 17. Juni 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. August 2016 zurückzunehmen, und zu verurteilen, ihr die Regelaltersrente ab dem 1. Juli 1997 unter Anerkennung einer glaubhaft gemachten Beitragszeit vom August 1944 bis Dezember 1944 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie meint, eine Beschäftigung im Ghetto Budapest sei nicht glaubhaft gemacht worden. Es würden durchaus Entschädigungsverfahren existieren, in denen eine Arbeit im Ghetto zumindest erwähnt werde. Auch hätten die Verfolgten die Möglichkeit gehabt, im Entschädigungsverfahren entsprechende Ausführungen zu machen. Wenn davon im Einzelfall, wie vorliegend, kein Gebrauch gemacht worden sei, spräche dies eher gegen als für eine Beschäftigung im Ghetto. Es habe sich dabei um eine das Ghettoleben prägende Tatsache gehandelt. Weder die Klägerin noch die Zeugen hätten eine Beschäftigung der Klägerin im Ghetto erwähnt.

Der Senat hat den Aufsatz von Hildrun Glass: Ungarn – Die letzten Ghettos des Krieges, in Hensel, Jürgen/Lehnstaedt, Stephan (Hrsg.): Arbeit in den nationalsozialistischen Ghettos, Osnabrück 2013, S. 333 ff., beigezogen.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gegeben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, der Inhalte der Beweismittel des Entschädigungsverfahrens und des Verfahrens über ein Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit in einem Ghetto sowie des sonstigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, der BEG-Entschädigungsakte des Amtes für Wiedergutmachung in Saarburg und der Akte des Bundesamtes für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen (BADV) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat kann gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten dazu ihr Einverständnis erklärt und umfassend Gelegenheit hatten, ihre Sachverhaltsdarstellung und ihre Rechtsauffassungen vorzubringen und klarzustellen. Die vom Senat vorgenommene Ermessensabwägung berücksichtigt auch das gesetzgeberische Ziel der Verfahrensbeschleunigung.

Die zulässige Berufung ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Gegenstand der Klage ist die Anfechtung des Überprüfungsbescheides vom 12. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Mai 2017 und damit kombiniert die Verpflichtung der Beklagten, den Ablehnungsbescheid vom 17. Juni 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. August 2016 nach § 44 Abs. 1 SGB X zurückzunehmen. Zugleich verfolgt die Klägerin eine Leistungsklage mit dem Ziel der Regelaltersrente dem Grunde nach. Ihre Leistungsgrundklage stützt die Klägerin auf Beitragszeiten nach dem ZRBG. Dazu hatte die Klägerin erstinstanzlich – wie bereits im Widerspruchsverfahren – klargestellt, dass Ghettozeiten für Januar 1945 nicht geltend gemacht würden und die entsprechende Angabe im Vordruck ein Versehen gewesen sei. Sofern die Klägerin nunmehr im Berufungsverfahren ausführt, die Flucht aus dem Ghetto sei doch "eher im Januar 1945" erfolgt, könnte darin zwar eine zulässige Klageerweiterung im Sinne § 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG, die noch keine Klageänderung im eigentlichen Sinne darstellt, zu sehen sein. Der Vortrag ist jedoch rein tatsächlicher Art und es lässt sich auch angesichts der Unbestimmtheit dieses Vortrags kein prozessrechtlich relevanter Wille der Klägerin erkennen, den Umfang der erstinstanzlich geltend gemachten Beitragszeiten zu erweitern, als vielmehr zu verdeutlichen, dass jedenfalls die bisher geltend gemachte Forderung hinsichtlich der tatsächlichen Umstände zu Recht geltend gemacht wird.

Diese Klagen sind zulässig und im tenorierten Umfang begründet. Der Überprüfungsbescheid der Beklagten vom 12. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Mai 2017 und der Ablehnungsbescheid vom 17. Juni 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. August 2016 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat Anspruch auf Regelaltersrente ab 1. Juli 1997 unter Anerkennung einer glaubhaft gemachten Beitragszeit vom 29. November 1944 bis 18. Dezember 1944. Lediglich, soweit die Klägerin die Anerkennung weiterer Beitragszeiten geltend macht, ist die Klage unbegründet.

Die Klägerin hat Anspruch darauf, dass die Beklagte im Wege der Überprüfung nach § 44 Abs: 1 SGB X den Bescheid vom 17. Juni 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. August 2016 über die Ablehnung einer Regelaltersrente zurückzunimmt und ihr Regelaltersrente gewährt. Der Bescheid vom 12. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Mai 2017, der diese Rücknahme abgelehnt hat, ist deshalb aufzuheben.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass dieses Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind.

Diese Voraussetzungen liegen vor, denn der bestandskräftige Bescheid vom 17. Juni 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. August 2016 ist nicht rechtmäßig. Auf Renten mit Zeiten nach dem ZRBG ist § 44 Abs. 4 SGB X nicht anzuwenden (§ 3 Abs. 3 ZRBG).

Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Regelaltersrente.

Das anzuwendende Recht bestimmt sich dafür nach § 300 SGB VI.

Nach § 300 Abs. 1 SGB VI gilt: Vorschriften dieses Gesetzbuchs sind von dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an auf einen Sachverhalt oder Anspruch auch dann anzuwenden, wenn bereits vor diesem Zeitpunkt der Sachverhalt oder Anspruch bestanden hat. Aufgehobene Vorschriften dieses Gesetzbuchs und durch dieses Gesetzbuch ersetzte Vorschriften sind nach § 300 Abs. 2 SGB VI (aber) auch nach dem Zeitpunkt ihrer Aufhebung noch auf den bis dahin bestehenden Anspruch anzuwenden, wenn der Anspruch bis zum Ablauf von drei Kalendermonaten nach der Aufhebung geltend gemacht wird.

Der Anspruch auf eine Regelaltersrente wurde am 18. Juni 1997 geltend gemacht, denn nach § 3 Abs. 1 Satz 1 ZRBG gilt ein Antrag auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung als am 18. Juni 1997 gestellt.

Nach § 35 SGB VI in der Fassung des insoweit maßgebenden Gesetzes vom 18. Dezember 1989 (BGBl. I 1989, 2261, I 1990 1337) – a.F. – haben Versicherte Anspruch auf Altersrente, wenn sie 1. das 65. Lebensjahr vollendet und 2. die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Die im März 1926 geborene Klägerin vollendete im März 1991 ihr 65. Lebensjahr. Sie war auch Versicherte.

Versicherter im Sinne des materiellen Rentenversicherungsrechts ist jeder, der eine Beitragszeit erlangt hat. Dies geschieht grundsätzlich dadurch, dass ein Beitrag entweder von dem Bürger selbst oder für ihn von seinem Arbeitgeber wirksam gezahlt wird. Versicherter im materiell-rechtlichen Sinne ist ferner auch jeder, dem kraft Bundesrecht eine Beitragszeit – auch ohne Beitragszahlung – zuerkannt worden ist (BSG, Urteil vom 14.05.2003, B 4 RA 6/03 R, juris-RdNr. 16).

Beitragszeiten sind Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind. Pflichtbeitragszeiten sind auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten (§ 55 SGB VI a.F.).

Die Klägerin legte eine solche Beitragszeit zurück.

Dies folgt für die von ihr angegebenen Tätigkeiten im Ghetto Budapest aus § 2 Abs. 1 ZRGB, der bestimmt: Für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto gelten Beiträge als gezahlt, und zwar 1. für die Berechnung der Rente als Beiträge nach den Reichsversicherungsgesetzen für eine Beschäftigung außerhalb des Bundesgebiets sowie 2. für die Erbringung von Leistungen ins Ausland als Beiträge für eine Beschäftigung im Bundesgebiet (Ghetto-Beitragszeiten).

Eine solche Beschäftigung liegt vor.

Nach § 1 Abs. 1 ZRBG gilt dieses Gesetz für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn 1. die Beschäftigung a) aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist, b) gegen Entgelt ausgeübt wurde und 2. das Ghetto in einem Gebiet des nationalsozialistischen Einflussbereichs lag, soweit für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird. Als System der sozialen Sicherheit ist jedes System anzusehen, in das in abhängiger Beschäftigung stehende Personen durch öffentlich-rechtlichen Zwang einbezogen wurden, um sie und ihre Hinterbliebenen für den Fall der Minderung der Erwerbsfähigkeit, des Alters und des Todes oder für einen oder mehrere dieser Fälle durch regelmäßig wiederkehrende Geldleistungen zu sichern.

Die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 ZRBG sind erfüllt. Dabei ist ausreichend, wenn die danach erforderlichen Tatsachen glaubhaft gemacht sind.

Nach § 1 Abs. 2 ZRBG ergänzt dieses Gesetz die rentenrechtlichen Vorschriften des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG). Nach § 3 Abs. 1 WGSVG gilt: Für die Feststellung der nach diesem Gesetz erheblichen Tatsachen genügt es, wenn sie glaubhaft gemacht sind. Eine Tatsache ist glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist. Als Mittel der Glaubhaftmachung können auch eidesstattliche Versicherungen zugelassen werden (§ 3 Abs. 2 Satz 1 WGSVG).

Eine Tatsache ist als glaubhaft anzusehen, wenn mehr dafür als dagegen spricht. Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es reicht die gute Möglichkeit aus, wobei es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht; von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss den übrigen gegenüber einer das Übergewicht zukommen, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (BSG, Beschluss vom 08.08.2001, B 9 V 23/01 B, juris-RdNr. 5, unter Hinweis u.a. auf BSG, Urteil 17.12.1980, 12 RK 42/80, juris-RdNr. 26).

Die Klägerin war Verfolgte im Sinne des BEG.

Nach § 1 Abs. 1 BEG ist Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen, in seinem beruflichen oder in seinem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat (Verfolgter).

Der Klägerin war nach dem Feststellungsbescheid vom 15. August 1961 des Bezirksamtes für Wiedergutmachung Trier Verfolgte im Sinne des § 1 Abs. 1 BEG. Ihr wurde Entschädigung für Schaden an Freiheit und an Gesundheit wegen einer während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft aus rassistischen Gründen erlittenen Verfolgung gewährt.

Mit überwiegender Wahrscheinlichkeit hielt sich die Klägerin vom 29. November bis 18. Dezember 1944 zwangsweise im Ghetto Budapest auf.

Das Ghetto bestand als (geschlossenes) Ghetto vom 29. November 1944 bis zu seiner Befreiung durch die Sowjetarmee im Januar 1945. Es lag jedenfalls in einem Gebiet des nationalsozialistischen Einflussbereichs, nachdem am 19. März 1944 deutsche Truppen Ungarn besetzt hatten und der Kriegsverbrecher Eichmann wiederholt nach Budapest kam, um mit seinem Sondereinsatzkommando die Vernichtung der in Ungarn lebenden Juden zu organisieren (Glass, Aufsatz S. 343, Gutachten S. 1 und 11).

Der Aufenthalt der Klägerin in diesem Ghetto ist durch ihre eidesstattliche Erklärung vom 10. Mai 1961 sowie durch die eidesstattlichen Erklärungen der Zeugen Svom 10. Mai 1961 und W vom 22. Juni 1961 glaubhaft gemacht. In ihrer eigenen Erklärung gab die Klägerin an, dass sie sich, nachdem sie zunächst in den "gelben Häusern" habe leben müssen, im Herbst 1944, als in Budapest "ein amtliches Ghetto" eingerichtet worden sei, seit Beginn darin aufgehalten habe und auch während des Ghettoaufenthalts den Judenstern weiterhin getragen habe. Die beiden Zeugen S und W gaben jeweils in ihren eidesstattlichen Erklärungen an, dass in Budapest ungefähr im November 1944 ein Ghetto eingerichtet worden sei. In diesem Ghetto und zuvor in den "gelben Häusern" hätten sich sowohl die Zeugen wie auch die Klägerin aufgehalten. Der Zeuge S führte aus, er habe auch während der Ghettozeit die Klägerin häufig gesehen und wisse, dass sie den Judenstern auch dort ununterbrochen getragen habe. Die Zeugin W gab an, dass die Klägerin ebenso wie alle seit Beginn in diesem Ghetto jüdische Kennzeichen getragen habe. Sie habe die Klägerin in dem Ghetto oft gesehen und sie hätten miteinander gesprochen. Beide Zeugen gaben weiter an, dass sie mit der Klägerin im Ghetto Budapest bis Dezember 1944 gewesen sein. Es sei der Klägerin damals gelungen, vom Ghetto wegzulaufen. Die Zeugen hätten sie dann aus den Augen verloren.

Weil das Ghetto erst am 29. November 1944 eingerichtet wurde (Gutachten Glass S. 12), kann eine Zeit der Beschäftigung in diesem Ghetto für Zeiträume vor dem 29. November 1944 nicht glaubhaft gemacht werden. Soweit die Klägerin an anderer Stelle ausgeführt hat, sie sei bereits nach dem jüdischen Neujahrsfest im September 1944 in das Ghetto gezogen, lässt sich dies insbesondere anhand der Ausführungen der von der Klägerin zitierten Sachverständigen Glass nicht hinreichend nachvollziehen, so dass eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für diesen Vortrag der Klägerin nicht angenommen werden kann. Nach den Ausführungen der Sachverständigen Glass gab es nähere Planungen zur Errichtung eines Ghettos erst ab Ende November 1944, wobei eine Rolle spielte, dass – entgegen den Wünschen Eichmanns – in der umgesetzten Variante mit ihrer Lage im Stadtzentrum dort bereits sehr viele "Sternhäuser" gewesen seien (Gutachten S. 12). Es mag mithin sein, das die Klägerin bereits ab September 1944 in den "Sternhäusern" im Bereich des späteren Ghettos leben musste, als Ghetto wurde es erst Ende November eingerichtet. Vollständig abgesperrt war das Ghetto erst am 10. Dezember 1944 (Gutachten S. 13), was den Vortrag der Klägerin bestätigt, dass das Ghetto zunächst noch nicht vollständig abgeriegelt war. Die Zeugen S und W und die Klägerin haben in ihren Aussagen im Entschädigungsverfahren mit dem Ghetto erkennbar das erst ab 29. November 1944 bestehende "amtliche" Ghetto" gemeint.

Dessen ungeachtet hält der Senat den Aufenthalt der Klägerin in den gelben "Sternhäusern" jedenfalls ab 16. Juni 1944 wegen der Erklärungen der genannten Zeugen und der eidesstattlichen Erklärung der Klägerin ebenfalls für überwiegend wahrscheinlich. Auch die Beklagte erkennt die zwangsweise Zusammenführung der jüdischen Bevölkerung in den "gelben Häusern" bzw. "Sternhäusern" ab 16. Juni 1944 zutreffend als Ghetto-Zeit an. Dies wird durch die entsprechenden Ausführungen von Glass dazu (im Gutachten S. 2 f., 9 und Aufsatz S. 343 f.) bestätigt. Danach begann im Juni die Ghettoisierung mit der Konzentrierung der Budapester jüdischen Bevölkerung in den Sternhäusern zur Vorbereitung der für Juli 1944 vorgesehenen Deportation. Der Judenrat war bereits im März 1944 gebildet worden (Glass, Aufsatz S. 343), was den Vortrag der Klägerin nachvollziehbar erscheinen lässt, sich gleich im März 1944 in Budapest beim Judenrat gemeldet zu haben.

Wegen ihrer eigenen Angaben in der eidesstattlichen Erklärung vom 10. Mai 1961, in der die Klägerin ausführte, sie sei bis Anfang Dezember 1944 im Ghetto gewesen, und diese Angaben zeitlich deutlich näher zu den hier zu beurteilenden Geschehnissen erfolgten, hält der Senat es nicht für überwiegend wahrscheinlich, dass die Klägerin auch noch für Zeiträume nach dem 18. Dezember 1944 im Ghetto war. Ihre eigene Angabe in ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 19. November 2019, dass sie das Ghetto verließ, als Chanukka vorbei war, führt aus Sicht des Senats zu einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit ihres Aufenthalts bis zum Ablauf des Chanukka-Festes am 18. Dezember 1944 (Chanukka war 1944 bis zum 18. Dezember). Dass sie das Ghetto erst Anfang Januar 1945 verlassen haben könnte, stünde auch nicht in Übereinstimmung mit den Aussagen der Zeugen S und W.

Die Klägerin übte vom 29. November bis 18. Dezember 1944 eine von § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZRBG erfasste Beschäftigung aus

Darunter fällt jegliche Beschäftigung, die von Verfolgten ausgeübt wurde, während sie sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten haben. Ist diese Voraussetzung erfüllt, bedarf es keiner gesonderten Prüfung mehr, ob Dienstleistungen oder Arbeiten, die außerhalb des räumlichen Bereichs eines Ghettos verrichtet wurden, "Ausfluss der Beschäftigung im Ghetto waren". Abgesehen davon, dass der Wortlaut nicht dazu zwingt, die Anwendung des Gesetzes auf Beschäftigungen innerhalb eines Ghettos zu beschränken, müsste sich die Gegenmeinung mit dem Einwand einer willkürlichen Abgrenzung auseinandersetzen. Die Unterscheidung hat lediglich insoweit Bedeutung, als bei einer Tätigkeit außerhalb des Ghettos eher die Prüfung veranlasst sein könnte, ob es sich um Zwangsarbeit gehandelt hat (BSG, Urteil vom 03.06.2009, B 5 R 26/08 R, RdNr. 17 in Abgrenzung zu BSG, Urteil vom 14.12.2006, B 4 R 29/06 R, RdNr. 99).

Das Merkmal einer aus eigenem Willensentschluss zustande gekommenen Beschäftigung ist aus der bisherigen Rechtsprechung übernommen worden und dient der tatsächlichen Abgrenzung zur Zwangsarbeit. Insoweit kann auf das Gesetz über die Errichtung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" vom 2. August 2000 (BGBl I 2000, 1263) - EVZStiftG - zurückgegriffen werden, das in § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 demjenigen eine Entschädigung wegen Zwangsarbeit zubilligt, der in einem Ghetto unter vergleichbaren Bedingungen (wie in einem Konzentrationslager) inhaftiert war und "zur Arbeit gezwungen wurde". Diese Wendung macht auch für das ZRBG deutlich, dass eine Situation, in der jemand (allgemein) zur Arbeit gezwungen "war", nach dem Gesetz noch keine Zwangsarbeit darstellt. Ein genereller (faktischer oder rechtlicher) Arbeitszwang allein macht die mit Rücksicht darauf ausgeübte Tätigkeit nicht zur Zwangsarbeit und steht deshalb einer "Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss" nicht entgegen; eine solche ist vielmehr erst dann nicht mehr gegeben, wenn jemand zu einer (spezifischen) Arbeit gezwungen "wurde" (BSG, Urteil vom 03.06.2009, B 5 R 26/08 R, RdNr. 19).

Ob eine aus eigenem Willensentschluss i.S. des ZRBG zustande gekommene Beschäftigung oder eine den eigenen Willensentschluss ausschließende Zwangsarbeit vorlag, ist vor dem Hintergrund der wirklichen Lebenslage im Ghetto zu beurteilen. Dabei sind die Sphären "Lebensbereich" und "Beschäftigungsverhältnis" grundsätzlich zu trennen; ebenso spielen die Beweggründe zur Aufnahme der Beschäftigung keine Rolle. Eine aus eigenem Willensentschluss aufgenommene Beschäftigung liegt vor, wenn der Ghetto-Bewohner noch eine Dispositionsbefugnis zumindest dergestalt hatte, dass er die Annahme oder Ausführung der Arbeit auch ohne unmittelbare Gefahr für Leib, Leben oder seine Restfreiheit ablehnen konnte. Davon ist regelmäßig dann auszugehen, wenn es sich um eine vom Judenrat angebotene Arbeit handelt, ohne dass im Einzelnen zu ermitteln wäre, wer letztlich als "Arbeitgeber" fungierte und wie das Verhältnis zwischen diesem, dem Beschäftigten und dem Judenrat ausgestaltet war (BSG, Urteil vom 03.06.2009, B 5 R 26/08 R, RdNr. 21).

Ein bestimmtes Mindestalter als Voraussetzung einer Beschäftigung, insbesondere ein solches von 14 Jahren, ist nicht erforderlich, weil auch verbotswidrige Kinderarbeit erfasst werden soll (BSG, Urteil vom 02.06.2009, B 13 R 139/08 R, Rdnr. 24, m.w.N.). Die Altersgrenze spielt im Falle der Klägerin, die bereits im März 1944 ihr 18. Lebensjahr vollendet hatte, keine Rolle.

Entgelt ist jegliche Entlohnung, gerade auch in Form von Nahrungsmitteln oder entsprechenden Lebensmittelkarten und Gutscheinen (Coupons). Weitergehende Erfordernisse (z.B. Einhaltung einer Mindesthöhe oder die Miternährung einer anderen Person) müssen nicht erfüllt werden. Unerheblich ist daher, ob das Entgelt nur "geringfügig" war oder zum Umfang der geleisteten Arbeit in keinem angemessenen Verhältnis stand, ob als Entgelt nur Sachbezüge in Form freien Unterhalts (oder eines Teils davon) gewährt wurden oder ob das Entgelt unmittelbar von der Beschäftigungsstelle ("Arbeitgeber") oder von einer anderen Instanz (z.B. dem Judenrat) gewährt wurde (BSG, Urteil vom 03.06.2009, B 5 R 26/08 R, RdNr. 25).

Die Klägerin hat glaubhaft gemacht, dass sie im Ghetto Budapest vom 29. November bis 18. Dezember 1944 eine aus eigenem Willensentschluss zustande gekommene Beschäftigung gegen Entgelt ausübte. Dies folgt aus ihren gegenüber dem Senat gemachten Angaben sowie ihrer eidesstattlichen Erklärung vom 19. November 2019. Sie gab dazu an, dass sie sich gleich beim Judenrat um Arbeit beworben habe, da die Priorität gewesen sei, sich vor den Deportationen zu schützen und Essensrationen zu bekommen. Sie habe Arbeiten zur Reinigung von geräumten Wohnungen und zur Trümmerbeseitigung auf den bombardierten Straßen verrichtet. Sie wisse, dass sie mit ihrer Freundin zusammengearbeitet habe. Leider seien ihr Namen der anderen Personen nicht mehr bekannt. Je nach Bedarf sei die Arbeit an verschiedenen Straßen im Ghetto eingeteilt worden. Sie habe hierfür täglich Essen bekommen. Die Essensrationen seien immer weniger geworden.

Mit diesen Angaben ist die Ausübung einer aus eigenem Willensentschluss zustande gekommenen Beschäftigung im Ghetto Budapest ebenso glaubhaft gemacht wie deren Ausübung gegen Entgelt in Form von Lebensmitteln, die überlebenswichtig waren.

Die Angaben der Klägerin sind glaubhaft gemacht, denn die von ihr geschilderten tatsächlichen Umstände sind auch unter Berücksichtigung früherer eigener Angaben der Klägerin, insbesondere in ihrer früheren eidesstattlichen Erklärung vom 10. Mai 1961, überwiegend wahrscheinlich. Es besteht die gute Möglichkeit, dass eine solche Beschäftigung tatsächlich von der Klägerin ausgeübt wurde, um dadurch die prekäre Lebenssituation zu verbessern. Diese Lebenssituation spricht dafür, dass auch die seinerzeit 18-jährige Klägerin eine sich bietende Möglichkeit nutzte, Hunger zu lindern, statt darauf zu verzichten und sich vor Deportation zu schützen.

Bestätigt werden die Angaben der Klägerin durch die Ausführungen der Gutachterin Glass, die zum einen auf den Dauerbeschuss der Stadt Budapest (Gutachten S. 25: fast tägliches Bombardement), in deren Zentrum das Ghetto lag, durch die Rote Armee, welche bereits am 8. Dezember 1944 mit der Belagerung der Stadt begann und zu diesem Zeitpunkt Budapest weitgehend (drei Seiten) umzingelt hatte (Gutachten S. 17), hingewiesen hat. Das Ghetto sei am 10. Dezember und am 20. und 21. Dezember 1944 schwer getroffen worden (Gutachten S. 20). Wiederholte Bombardierung (auch bereits vor Beginn der eigentlichen Belagerung, Bombenangriffe erfolgten bereits im Juli 1944, Glass Aufsatz S. 353) macht die von der Klägerin angegebenen Räumungsarbeiten nachvollziehbar. Ebenso erscheint plausibel, dass bei Errichtung des Ghettos erst Ende November 1944 noch Unterkünfte nach der Räumung durch ihre Vorbesitzer zu säubern waren.

Die Sachverständige Glass schildert auch nachvollziehbar, dass die Lebensbedingungen im geschlossenen Ghetto äußerst schwierig waren, dass die Menschen hungerten und froren (Gutachten S. 25). Die Vorräte im Ghetto reichten für die vorgesehenen Rationen nicht (Gutachten S. 32). Wenn zugleich ausgeführt wird, dass sich immer weniger Menschen freiwillig meldeten, um der Verwaltung bei der Aufrechterhaltung einer rudimentären Infrastruktur und der Erfüllung der erforderlichen Gemeinschaftsaufgaben zu gewinnen, zumal das Ghetto vorrangig für die Aufnahme der Arbeitsunfähigen bestimmt war (Glass, Aufsatz S. 356), erscheint es glaubhaft, dass die Klägerin ihre Situation durch freiwillige Arbeiten zu verbessern suchte und dies auch konnte.

Entgegen der Ansicht der Beklagten verbleiben keine widersprüchlichen Angaben zu von ihr zuvor getätigten Äußerungen. Für die Zeit vom 29. November bis 18. Dezember 1944 hat die Klägerin niemals die Angabe getätigt, sie hätte in dieser Zeit in der Illegalität im Ghetto gelebt. Für diese Zeit hat sie auch zu keinem Zeitpunkt die Angabe gemacht, nur für zwei Stunden das Haus verlassen zu dürfen, weil sich diese Angabe auf ihren Aufenthalt in den "gelben Häusern" bezog.

Soweit die Beklagte und das Sozialgericht eine Beschäftigung als die unwahrscheinlichere Variante angesehen haben, überzeugt dies nicht, denn die Nichterwähnung dieser Beschäftigung in früheren Erklärungen ist ohne weiteres nachzuvollziehen. Eine solche Würdigung setzt voraus, dass in eidesstattlichen Erklärungen, die in BEG-Verfahren abgegeben wurden, Angaben von Betroffenen zur Ausübung freiwilliger Beschäftigungen zu erwarten waren, denn lediglich in diesem Fall kann aus einem Schweigen zu solchen Beschäftigungen auf ihr Nichtvorliegen geschlussfolgert werden. Kam es hingegen auf freiwillige Beschäftigungen in BEG-Verfahren nicht an, ist schon nicht zu erwarten, dass solche in eidesstattlichen Erklärungen erwähnt werden, so dass sich verbietet, aus dem Schweigen in solchen eidesstattlichen Versicherungen auf ein Nichtvorhandensein freiwilliger Beschäftigungen zu schließen. Das im Falle der Klägerin eingesetzte Antragsformular des BEG-Verfahrens zu Schäden an Körper und Gesundheit enthält Fragen zu (zwangsweisen oder freiwillig verrichteten) Tätigkeiten während der Verfolgung nicht, lediglich wurde nach Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung gefragt (Frage 13 des Vordrucks). Im BEG-Verfahren wurde somit nicht nach einer freiwilligen Beschäftigung gefragt, so dass sich ohne Weiteres erschließt, wenn dazu Angaben fehlen. Angesichts dessen war es im Fall der Klägerin auch fernliegend, in der eidesstattlichen Erklärung vom 10. Mai 1961, die dem Antrag entsprechend bezweckte, ihre Angaben zum erlittenen Schaden an Gesundheit und Freiheit glaubhaft zu machen, sich zu einer freiwilligen Beschäftigung zu äußern, zumal die Verletzung des Armes nach der Flucht aus dem Ghetto beim Versuch der deutschen Truppen, die Klägerin zu erschießen, erfolgte. Mithin bestand für die Klägerin keine Veranlassung, sich in diesem Antrag zu einer solchen freiwilligen Beschäftigung zu erklären.

In Würdigung der gesamten Umstände erachtet es der Senat daher als glaubhaft gemacht, dass die Klägerin im Ghetto Budapest vom 29. November bis 18. Dezember 1944 eine aus eigenem Willensentschluss zustande gekommene Beschäftigung gegen Entgelt ausübte. Zwar als möglich, jedoch nicht überwiegend wahrscheinlich sieht der Senat eine freiwillige Beschäftigung während des Aufenthalts in den "Sternhäusern" an. Die von der Klägerin selbst angegebenen strikten Ausgangsbeschränkungen beim Aufenthalt in diesen Häusern wurden auch von der Sachverständigen Glass bestätigt (Glass, Gutachten S. 11). Ab 16. Oktober 1944 war es den Betroffenen sogar vollständig verboten, die "Sternhäuser" zu verlassen (Glass, Gutachten S. 7). Diese Ausgangsbeschränkungen standen einer Beschäftigung entgegen. Auf welchem Weg die Klägerin für die Ausübung einer Beschäftigung mit Reinigungs- und Räumaufgaben, die nicht als Zwangsarbeit zu qualifizieren wäre, einen Dispens erlangt haben sollte, hat sie nicht plausibel gemacht.

Für die Zeit vom 29. November bis 18. Dezember 1944 wird auch keine Leistung i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 2. Satzteil und Satz 2 ZRBG erbracht. Die der Klägerin mit Bescheid vom 4. Dezember 2017 auf ihren beim Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen gestellten Antrag erbrachte Anerkennungsleistung nach der Anerkennungsrichtlinie vom 12. Juli 2017 ist keine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit. Es handelt sich schon nicht um eine regelmäßig wiederkehrende Geldleistung, denn nach § 2 Abs. 1 der Anerkennungsrichtlinie besteht die Leistung, auf die nach § 3 der Anerkennungsrichtlinie kein Rechtsanspruch besteht, aus einer (einmaligen) Kapitalzahlung in Höhe von 2.000 Euro. Zudem ordnet § 1 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie ausdrücklich an, dass die Prüfung anderer Entschädigungsansprüche und der Ansprüche nach dem ZRBG von dieser Richtlinie unberührt bleiben.

Die allgemeine Wartezeit ist ebenfalls erfüllt.

Sie beträgt als Voraussetzung für einen Anspruch auf Regelaltersrente fünf Jahre (§ 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI). Auf die allgemeine Wartezeit werden Kalendermonate mit Beitragszeiten angerechnet (§ 51 Abs. 1 SGB VI).

Die Klägerin erreicht zwar mit den Beitragszeiten vom 29. November bis 18. Dezember 1944 keine fünf Jahre, sondern nur 2 Kalendermonate. Auf die Wartezeit werden jedoch auch die in den USA zurückgelegten Versicherungszeiten angerechnet. Die Mindestversicherungszeiten nach § 7 Abs. 2 BRDUSASVA sind wegen § 1 Abs. 3 ZRBG unbeachtlich.

Nach Art. 7 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika über Soziale Sicherheit vom 7. Januar 1976 (BGBl II 1976, 1358) in der Fassung des Zusatzabkommens vom 2. Oktober 1986 (BGBl II 1988, 83) - BRDUSASVA - gilt: Sind nach den Rechtsvorschriften beider Vertragsstaaten Versicherungszeiten zurückgelegt, so berücksichtigt der Träger, der den Anspruch auf Geldleistungen und Sachleistungen nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften feststellt, die Versicherungszeiten, die nach den Rechtsvorschriften des anderen Vertragsstaates anrechnungsfähig sind und nicht mit Versicherungszeiten zusammenfallen, die nach den für den Träger geltenden Rechtsvorschriften anrechnungsfähig sind. Zu den Versicherungszeiten gehören nach Art 1 Nr. 7 BRDUSASVA Beitragszeiten.

Nach Mitteilungen des US-amerikanischen Versicherungsträgers hat die Klägerin insgesamt 108 Monate Pflichtbeitragszeiten zurückgelegt, also 9 Jahre.

Die Regelaltersrente ist ab 1. Juli 1997 zu gewähren.

Nach § 99 Abs. 1 SGB VI wird eine Rente aus eigener Versicherung von dem Kalendermonat an geleistet, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen für die Rente erfüllt sind, wenn die Rente bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats beantragt wird, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Bei späterer Antragstellung wird eine Rente aus eigener Versicherung von dem Kalendermonat an geleistet, in dem die Rente beantragt wird.

Die Klägerin vollendete das 65. Lebensjahr im März 1991, so dass wegen der nach § 3 Abs. 1 Satz 1 ZRBG angeordneten fiktiven Antragstellung am 18. Juni 1997 die Regelaltersrente bereits zum 1. Juli 1997 zu beginnen hat, denn das ZRBG trat selbst auch erst mit Wirkung ab 1. Juli 1997 in Kraft (Art. 3 Abs. 2 des Gesetzes vom 20.06.2002 – BGBl. I 2002, S. 2074).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und berücksichtigt den anteiligen Erfolg der Rechtsverfolgung.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen hierfür (§ 160 Abs. 2 Nr 1 und 2 SGG) nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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