L 2 RJ 3278/01

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 5 RJ 1803/00
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 RJ 3278/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Bewertung von Kindererziehungszeiten. Kindererziehungszeiten nach § 70 Abs 2 SGB VI in der vom 1.1.1991 bis 31.12.1996 geltenden Fassung (a.F.) die sich wegen anderweitiger Beitragszeitennach § 70 Abs 1 und 3 SGB VI a.F. nicht rentensteigernd ausgewirkt haben, bleiben bei der Berechnung der pauschalen Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten nach § 307d SGB VI unberücksichtigt.
Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 2. Juli 2001 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 4. Januar 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Mai 2000 verurteilt wird, der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit unter Anhebung der Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten ab 1. Juli 1998 um 0,5447, ab 1. Juli 1999 um 0,6113 und ab 1. Juli 2000 um 0,7446 zu zahlen.

Die Beklagte erstattet der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch der Klägerin auf höhere Rentenleistung unter Anwendung des § 307d Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - SGB VI - (eingeführt durch Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung - Rentenreformgesetz 1999 (RRG 1999) - vom 16. Dezember 1997, BGBl I, 2998, s. Art. 1 Nr. 125) streitig.

Die am 1937 geborene Klägerin ist aus Rumänien kommend am 9. Februar 1989 in das Bundesgebiet eingereist. Sie ist im Besitz des Ausweises für Vertriebene und Flüchtlinge A vom 31. März 1989 des Landratsamtes R ... Nachdem die Beklagte Versicherungszeiten festgestellt hatte (Bescheid vom 9. Januar 1995 in der Gestalt des Bescheides vom 6. Juli 1995), beantragte die Klägerin am 31. Juli 1995 formlos Rente. Nach medizinischen Ermittlungen bewilligte die Beklagte mit Rentenbescheid vom 22. November 1995 in der Gestalt des - bestandskräftig gewordenen - Rentenbescheides vom 27. Februar 1996 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Juli 1995. Für den am 1957 geborenen und am 1957 gestorbenen Sohn A. wurden vom 1. August 1957 bis 30. November 1957 und für den am 1959 geborenen Sohn J. vom 1. Juli 1959 bis 30. Juni 1960 Pflichtbeiträge für Kindererziehung (KEZ - s. § 28b Fremdrentengesetz i.V.m. § 56 SGB VI) anerkannt. Zusätzlich wurden vom 29. bis 31. August 1957 DM 9,92, vom 1. September bis 30. November 1957 DM 297,53, vom 23. bis 31. August 1959 DM 17,71, vom 1. September bis 31. Dezember 1959 DM 263,13 und vom 1. Januar bis 30. Juni 1960 DM 710,16 Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit berücksichtigt. In der Anlage 3 zum Rentenbescheid vom 27. Februar 1996 (Entgeltpunkte (EP) für Beitragszeiten) wurden gem. § 70 Abs. 1 SGB VI für August 1957 0,0020, für September bis November 1957 0,0590, für August 1959 0,0032, für September bis Dezember 1959 0,0422 und für Januar bis Juni 1960 0,1164 EP ermittelt. Der Rentenberechnung wurde in Anwendung des § 70 Abs. 3 SGB VI in der vom 1. Januar 1992 bis 31. Dezember 1996 geltenden Fassung (a.F.; s. Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung - Rentenreformgesetz 1992 (RRG 1992) - vom 18. Dezember 1989, BGBl I, 2261, Art 1 § 70, Art. 85 und Gesetz zur Umsetzung des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung in den Bereichen der Rentenversicherung und Arbeitsförderung - Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) - vom 25. September 1996, BGBl. I, 1461, Art. 1 Nr. 13, Art. 12) für die Monate August bis November 1957 der höhere Mindest-EP von 0,075 pro Monat (insgesamt 0,3 EP) als Pflichtbeiträge für Berufsausbildung zugewiesen und für August 1959 bis Juni 1960 der höhere Mindest-EP für KEZ von 0,0625 pro Monat (insgesamt 0, 6875 EP) zugrunde gelegt.

Am 16. November 1999 beantragte die Klägerin gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) die Überprüfung des Bescheides vom 27. Februar 1996 im Hinblick auf die Bewertung der KEZ ab 1. Juli 1998: Die Rentenanpassungsmitteilungen hätten zu geringe EP berücksichtigt. Mit Bescheid vom 4. Januar 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Mai 2000 stellte die Beklagte fest, dass die vorgenommene Bewertung nicht zu beanstanden sei, denn für die Zeit von August bis November 1957 sei eine Pflichtbeitragszeit für Kindererziehung berücksichtigt worden, und zwar in Höhe von 0,189 EP, auch wenn dies im Bescheid vom 27. Februar 1996 nicht ausgewiesen sei.

Am 19. Mai 2000 hat die Klägerin hiergegen Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben. Zur Begründung hat sie vorgetragen, für die Monate August bis November 1957 habe sich die KEZ nicht ausgewirkt, so dass eine Kürzung um 0,1890 EP nicht erfolgen dürfe. Die Beklagte hat geltend gemacht, es seien die Berechnungsvorschriften vor Inkrafttreten des WFG maßgebend, d.h. neben § 70 Abs. 2 SGB VI habe auch noch Abs. 3 Gültigkeit gehabt, weswegen zunächst EP für KEZ und anschließend EP für Pflichtbeitragszeiten wegen Berufsausbildung zu ermitteln gewesen seien. Mit Gerichtsbescheid vom 2. Juli 2001 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 4. Januar 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Mai 2000 verurteilt, bei der Berechnung der Rente der Klägerin die pauschalen EP für KEZ gemäß § 307d SGB VI für die Zeit von August bis November 1957 ohne Kürzung um 0,1890 EP zu berücksichtigen.

Gegen den der Beklagten am 17. Juli 2001 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 10. August 2001 Berufung eingelegt mit der Begründung, entsprechend der Systematik des § 70 SGB VI a.F. seien zunächst die EP für Beitragszeiten zu ermitteln, dann ggf. eine Aufstockung für Kindererziehungszeiten auf 0,0625 EP und in einem dritten Schritt die Aufstockung für Pflichtbeitragszeiten für eine Berufsausbildung auf monatlich 0,075 EP vorzunehmen. Im Rentenbescheid seien daher EP für Kindererziehungszeiten auch von August bis November 1957 enthalten gewesen.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 2. Juli 2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 2. Juli 2001 mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 4. Januar 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Mai 2000 verurteilt wird, der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit unter Anhebung der Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten ab 1. Juli 1998 um 0,5447, ab 1. Juli 1999 um 0,6113 und ab 1. Juli 2000 um 0,7446 zu zahlen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für rechtmäßig.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg. Das SG hat die Beklagte im Ergebnis zu Recht verurteilt, der Klägerin eine höhere Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen.

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 307d SGB VI. Danach werden für die Ermittlung des Monatsbetrags der Rente die in den persönlichen EP enthaltenen EP für KEZ durch pauschale EP für KEZ ersetzt, wenn am 30. Juni 1998 Anspruch auf eine Rente, bei der KEZ angerechnet worden sind, bestanden hat (Satz 1). Die pauschalen EP für KEZ ergeben sich, indem die Anzahl an Monaten mit KEZ mit 0,0833 EP vervielfältigt werden (Satz 2). Von den pauschalen EP für KEZ werden in der Zeit vom 1. Juli 1998 bis zum 30. Juni 1999 85 v.H. und vom 1. Juli 1999 bis zum 30. Juni 2000 90 v.H. für die Leistung berücksichtigt (Satz 5). Die höhere Bewertung der KEZ erfolgt demnach in einem pauschalierenden Verfahren ohne neue Rentenfeststellung, ohne neuen Rentenbescheid (s. Zweng/Scheerer, Handbuch der Rentenversicherung, § 307 d SGB VI Rdnr. 2, 10; Hauck/Haines, § 307d SGB VI Rdnr. 6 f.; Verbandskommentar § 307d SGB VI Rdnr. 8.1). Die Rentenanpassungen zum 1. Juli 1998, 1999 und 2000 (vgl. §§ 65, 119 Abs. 2 SGB VI) sind Verwaltungsakte (§ 31 SGB X) lediglich insofern, als sie eine Regelung über die Wertfortschreibung einer bereits zuerkannten Rente treffen (vgl. BSG SozR 3-1300 § 31 Nr. 13); über die "maschinelle Neubewertung der KEZ enthielten sie keine Regelungen. Die Klage ist demnach (§ 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) auf Leistung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in gesetzlicher Höhe gerichtet. Eines Antrags gem. § 44 SGB X bedurfte es ebenso wenig wie eines Vorverfahrens; dennoch erteilte Bescheide sind auf Anfechtungsklage (vgl. BSGE 75, 262, 265) aufzuheben. § 307d SGB VI tritt für Berechtigte, denen eine Rente mit angerechneten KEZ am 27. Juni 1996 (Tag der Bekanntgabe der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. März 1996, 1 BvR 609/90 und 1 BvR 692/90, (vgl. SozR 3-2200 § 1255a Nr. 5 = NJW 1996, 2293)) bereits bindend bewilligt worden war, am 1. Juli 1998 in Kraft (vgl. Art. 33 Abs. 2 und 12 RRG 1999). Der Klägerin war mit Rentenbescheid vom 27. Februar 1996 - damit vor dem 27. Juni 1996 - bereits bindend eine Rente bewilligt worden, so dass § 307d SGB VI für die Klägerin am 1. Juli 1998 zur Geltung gelangte. Demnach sind pauschale EP für KEZ zu ermitteln. Vom 1. Juli 1998 bis 30. Juni 1999 sind das - jeweils gerundet nach § 121 Abs. 2 SGB VI - 1,1329 (16 Monate KEZ x 0,0833 x 85%), vom 1. Juli 1999 bis 30. Juni 2000 1,1995 (16 Monate x 0,0833 x 90%) und ab 1. Juli 2000 1,3328 EP (16 Monate x 0,0833 x 100%). Da die pauschalen EP für KEZ die in den persönlichen EP enthaltenen EP für KEZ ersetzen, sind die bisher angerechneten EP für KEZ von den pauschalen EP für KEZ abzuziehen. Diese grundsätzliche Berechnungsweise steht zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit. Die Beklagte ist jedoch der Auffassung, dass die im Bescheid vom 27. Februar 1996 für August bis September 1957 ermittelten persönlichen EP 0,1890 EP für KEZ enthalten und - ebenso wie die EP für KEZ für August 1959 bis Juni 1960 (0,5882 EP) - von den pauschalen EP für KEZ und daher insgesamt 0,7772 EP für KEZ abzuziehen seien. Sie begründet ihre Auffassung mit der Systematik des § 70 Abs. 1 bis 3 SGB VI a.F. und der sich daraus ergebenden "Reihenfolge" der Ermittlung von EP.

Diese Auffassung der Beklagten findet jedoch im Gesetz keine Stütze. § 70 SGB VI a.F. regelte die Ermittlung von EP für Beitragszeiten: in Abs. 1 für solche aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung, in Abs. 2 für KEZ und in Abs. 3 für Pflichtbeitragszeiten für eine Berufsausbildung. Hierbei war für die Beitragszeiten nach Abs. 2 und 3 bestimmt, dass diese Zeiten einen "festen Wert" (0,0625 bzw. 0,075 EP), mindestens jedoch die nach Abs. 1 ermittelten EP erhalten. Entgegen der Auffassung der Beklagten ergibt sich aus der Anordnung der Abs. 2 und 3 keine "Reihenfolge" der Ermittlung von EP in der von ihr dargelegten Weise. Der Wortlaut der Vorschrift gibt hierfür nichts her; im Gegenteil: die Bezugnahme sowohl in Abs. 2 als auch in Abs. 3 auf Abs. 1 macht deutlich, dass ein Zusammenhang lediglich zwischen den Abs. 1 und 2 und den Abs. 1 und 3 besteht, nicht aber zwischen den Abs. 2 und 3. Gegen die Argumentation der Beklagten spricht vor allem, dass der Gesetzgeber die Anrechnung von KEZ gegenüber anderen bereits vorhandenen Beitragszeiten "subsidiär" ausgestaltet und in solchen Fällen ein entsprechendes (weiteres) Sicherungsbedürfnis verneint hatte (vgl. BVerfG, Urteil vom 12. März 1996 - 1 BvR 692/90 - mit Hinweis auf BTDrucks 10/2677 S. 30). Aus dieser Subsidiarität folgt, dass KEZ erst dann zum Tragen kommen, soweit die entsprechenden Zeiten nicht mit anderweitigen Beitragszeiten belegt sind. Für die Rente der Klägerin waren jedoch für August bis November 1957 - als anderweitige Beitragszeiten und unabhängig vom Tatbestand der KEZ - EP nach § 70 Abs. 1 und 3 SGB VI a.F. zu ermitteln. Folgerichtig weist der Bescheid vom 27. Februar 1996 auch keine EP für KEZ aus.

Ungeachtet dessen gebietet § 307d SGB VI, dass nur diejenigen EP für KEZ in Abzug zu bringen sind, die eine Rentenerhöhung bewirkt haben, die "angerechnet" wurden. § 307d SGB VI stellt eine Sonderregelung zu § 70 Abs. 2 SGB VI (i.d.F. des Gesetzes vom 16. Dezember 1997), mit dem die additve Bewertung der KEZ eingeführt wurde, dar. Sie stellt sicher, dass Bestandsrentner mit KEZ - wie die Klägerin - für diese Zeiten die gleiche Leistung erhalten, wie Renten, die nach dem 30. Juni 1998 zugehen. So sollen durch die Neuregelung gerade diejenigen einen Vorteil erlangen, bei denen bislang die Anerkennung von KEZ - verfassungswidrig (s. BVerfG a.a.O.) - zu keiner Rentenerhöhung geführt hatte, weil die KEZ bislang durch gleichzeitige sonstige Beitragszeiten ganz oder teilweise - wie es bei der Klägerin infolge der zeitgleichen höher zu bewertenden Pflichtbeitragszeit für eine Berufsausbildung der Fall war - verdrängt wurden. § 307d SGB VI hat für Bestandsrentner wie die Klägerin zur Folge, dass die pauschalen EP für KEZ (hier für August bis November 1957) erstmals eine Erhöhung der Rente bewirken (vgl. Kasseler Kommentar § 307d SGB VI RdNr. 3 f.; Zweng/Scheerer a.a.O. Rdnr. 1, 7; Hauck/Haines a.a.O. Rdnr. 12; Gemeinschaftskommentar § 307d SGB VI Rdnr. 6 sowie die amtliche Begründung zum Gesetzentwurf (BT-Drs. 13/8011 S. 66) und Polster, DRV 1998, 71, 76).

Damit kommt der Senat - in Übereinstimmung mit dem SG - zu dem Ergebnis, dass die Beklagte zu Unrecht für August bis November 1957 EP für KEZ in Ansatz gebracht und diese (0,189 EP) von den pauschalen EP für KEZ abgezogen hat. Sie hat daher der Klägerin eine höhere Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen und zwar unter Anhebung der EP für KEZ ab 1. Juli 1998 um 0,5447 (1,1329 EP - 0,5882 EP), ab 1. Juli 1999 um 0,6113 (1,1995 EP - 0,5882EP) und ab 1. Juli 2000 um 0,7446 (1,3328 EP - 0,5882 EP).

Die Berufung der Beklagten ist daher mit der im Tenor genannten Maßgabe zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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