L 10 RA 505/01

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
10
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 4 RA 815/00
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 RA 505/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die alleinige Geltendmachung und Beitreibung von Lizenzgebühren auch im Rahmen einer GmbH stellt keine selbständige Tätigkeit im Sinne des § 44 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 SGB VI (Fassung bis 31.12.00).
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 18. Dezember 2000 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Abänderung der Bescheide vom 7. September und 3. Dezember 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. März 2000 verurteilt, dem Kläger ab 1. November 1997 anstelle von Berufsunfähigkeitsrente Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu bewilligen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Wiedergewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Der am 1946 geborene (geschiedene) Kläger, Diplom-Ingenieur für Nachrichtentechnik, arbeitete zuletzt als (versicherungspflichtiger) System- und Organisationsprogrammierer bzw. Geschäftsleitungsassistent. Nachdem er am 20. April 1994 eine hypoxische Hirnschädigung als Folge einer fulminanten Lungenembolie erlitten hatte, bewilligte ihm die Beklagte mit Bescheid vom 3. September 1996 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. November 1994 bis 31. Oktober 1997, die mit Bescheid vom 6. November 1996 neu festgestellt wurde.

Unter dem 1. Oktober 1997 beantragte der Kläger, ihm die Rente über den 31. Oktober 1997 hinaus weiter zu gewähren, wobei er auf dem am 2. Mai 1998 unterschriebenen Formularantrag bei der Frage nach einer selbständigen Erwerbstätigkeit eintrug: "ab Nov. 97 versucht, aber kein Erfolg". Die Beklagte erhob das Gutachten des Orthopäden Dr. C. vom 19. Juni 1998 und des Nervenarztes Dr. K. vom 15. Juni 1998. Dr. C. gelangte zu der Einschätzung, der Kläger könne in seinem Beruf nicht mehr arbeiten und sei (auch) erwerbsunfähig; Dr. K. nahm an, als Programmierer könne der Kläger nicht mehr tätig sein und im Übrigen nur noch leichte Arbeiten sitzend mit Unterbrechung unter 2 Stunden täglich verrichten.

Die Beklagte vermutete (wegen des genannten Eintrags auf dem formularmäßigen Weitergewährungsantrag), der Kläger sei möglicherweise (noch) selbständig erwerbstätig, und bat ihn, hierzu Stellung zu nehmen. Da sich der Kläger nicht äußerte, lehnte die Beklagte den (Weitergewährungs)antrag des Klägers mit Bescheid vom 3. September 1998 unter Hinweis auf eine Verletzung der Mitwirkungspflicht ab und gewährte ihm mit Bescheid vom 7. September 1998 Rente (nur) wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit von 1. November 1997 bis 31. Oktober 2000.

Mit Schreiben vom 8. Oktober 1998 wandte sich der Kläger dagegen, dass die Beklagte ihm lediglich Berufsunfähigkeitsrente bewilligt habe, und trug hierzu vor, er sei damit befasst, eine Erfindung seines Vaters zu vermarkten, wofür man eine Firma gegründet habe. Er könne indessen aus gesundheitlichen Gründen nicht erwerbstätig sein. Mit Bescheid vom 3. Dezember 1998 gewährte die Beklagte, die das Schreiben vom 8. Oktober 1998 als Überprüfungsantrag wertete, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Dauer; die im Bescheid vom 7. September 1998 ausgesprochene Befristung der Rentenzahlung auf den 31. Oktober 2000 hob sie auf. Erwerbsunfähigkeitsrente könne der Kläger indessen nach wie vor nicht beanspruchen, weil er nicht nachgewiesen habe, dass er keine selbständige Erwerbstätigkeit ausübe. Deshalb gehe man davon aus, dass er selbständig erwerbstätig sei.

Mit Schreiben vom 7. Januar 1999 erhob der Kläger Widerspruch bzgl. Erwerbsunfähigkeit und trug vor, er verwalte eine Erfindung seines Vaters aus dem Jahr 1968. Die wesentlichen Tätigkeiten erledige ein Patentanwalt. Die Beklagte forderte den Kläger auf, hierzu weiter vorzutragen, und sicherte ihm mit Bescheid vom 4. März 1999 gemäß § 34 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) zu, dass man ihn als dauerhaft erwerbsunfähig behandeln werde, wenn er seine selbständige Erwerbstätigkeit binnen 6 Monaten aufgebe. Mit Schreiben vom 23. November 1999 forderte die Beklagte den Kläger erneut auf, Nachweise über seine selbständige Erwerbstätigkeit bzw. deren Aufgabe vorzulegen. Nachdem sie hierzu keine eindeutigen Erklärungen erhalten hatte, erließ sie den (abweisenden) Widerspruchsbescheid vom 8. März 2000; nach Aktenlage sei davon auszugehen, dass der Kläger selbständig erwerbstätig sei, weil er das Gegenteil nicht belegt habe.

Mit Schreiben vom 14. März 2000 trug der Kläger vor, § 44 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI, in der bis 31. Dezember 2000 geltenden Fassung - a.F. -), wonach nicht erwerbsunfähig sei, wer eine selbständige Tätigkeit ausübe, verletzte sein Recht auf Arbeit und den Gleichheitssatz und sei deshalb verfassungswidrig. Außerdem erhob er am 28. März 2000 Klage beim Sozialgericht Reutlingen. Er sei aus gesundheitlichen Gründen erwerbsunfähig. Bis März 1994 habe er erfolgreich eine Lizenz vermarktet (für einen von ihm 1993 - während einer Zeit der Arbeitslosigkeit - entwickelten Lautsprecher); am 20. April 1994 habe er dann die Lungenembolie mit Hirnschädigung erlitten. Zuvor habe sich die Fa. G. AG (zuständig sei G. Portugal gewesen) in Unkenntnis seiner Erkrankung eine ausschließliche Lizenz an seiner Erfindung gesichert und damit einen Mitarbeitervertrag verbunden. Letztmals sei er am 14. März 1994, eine Woche vor der Lungenembolie, beratend tätig gewesen; seither habe er nichts mehr getan, bis sein Vater sich eingeschaltet habe. Nachdem die Fa. G. AG erfahren habe, dass er nicht mehr arbeiten könne, habe sie die Erfüllung des (Lizenz)vertrags verweigert; sie habe - entgegen anwaltlicher Einschätzung - die Auffassung vertreten, beide Verträge (Lizenz- und Mitarbeitervertrag) hingen zusammen. Wegen der laufenden (Patent)verpflichtungen habe er schließlich Schulden von 55.000.- DM gehabt, bis ihm sein Vater im Rahmen eines "Ingenieurbüros GbR" zum 1. Januar 1998 bei der teilweisen Durchsetzung des Vertrags geholfen habe. Sein Vater habe aber auf einer Sicherheit bestanden, nachdem er ihn, den Kläger, schon zuvor im Rahmen erfolgloser Patente finanziell unterstützt gehabt habe. Deshalb sei eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts gegründet worden, bei der dem Vater wegen seiner, des Klägers, Behinderung die sachliche Leitung vorbehalten gewesen sei; sein Vater habe auch alle Unterlagen zur Verwertung (der Lizenz) gehabt. Dafür habe er die Finanzierung von Anwälten übernommen. Seither habe die Fa. G. AG bis zur Vertragskündigung auch einigermaßen pünktlich gezahlt. Mittlerweile sei sein Vater allerdings ebenfalls schwer (krebs)krank. Für den Rentenanspruch könne es keine Rolle spielen, wenn er aus seiner "Tätigkeit" im Rahmen der mit seinem Vater gebildeten Gesellschaft bürgerlichen Rechts (Lizenz)Einnahmen erziele. Seine Tätigkeit sei eigentlich gar nicht auf Erwerb gerichtet.

Mit Gerichtsbescheid vom 18. Dezember 2000 wies das Sozialgericht die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, der Kläger könne nach der - für verfassungsgemäß erachteten - Vorschrift des § 44 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SGB VI (a.F.) Erwerbsunfähigkeitsrente nicht beanspruchen. Was man unter selbständiger Erwerbstätigkeit im Sinne dieser Vorschrift zu verstehen habe, sage das Gesetz nicht. Nach der Rechtsprechung sei selbständig erwerbstätig, wer im eigenen Namen und auf eigene Rechnung arbeite, eigenverantwortlich und persönlich unabhängig entscheide und vom wirtschaftlichen Ergebnis unmittelbare Vor- oder Nachteile habe. Bei einer Gesellschaft genüge es, wenn entsprechender Einfluss genommen werden könne. Eine unternehmerähnliche Stellung sei ausreichend, etwa, wenn das Unternehmerrisiko (nur) anteilig getragen werde, dafür aber laufend unternehmerische Entscheidungen gefällt würden. Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts seien, ohne dass es auf die Vertretungsregelung ankomme, typischerweise selbständig erwerbstätig, sofern der Gesellschaftszweck auf Erwerb gerichtet sei. Dass all das für den Kläger zutreffe, stehe nach seinem Vorbringen außer Zweifel. Der Gerichtsbescheid wurde dem Kläger mit einem am 18. Dezember 2000 zur Post gegebenen Einschreiben zugestellt.

Am 20. Januar 2001 hat der Kläger Berufung eingelegt. Er trägt (ergänzend und präzisierend) vor, er sei Inhaber eines Lizenzgegenstandes, den er durch Lizenzvertrag vom 3. April 1994 der Fa. G. AG gegen Zahlung einer Lizenzgebühr für die Zeit der Nutzung überlassen habe. Beim Einzug der Lizenzgebühr gehe es nicht um eine selbständige Erwerbstätigkeit, sondern um die Erwirtschaftung eines Vermögensertrags, ähnlich der Fallgestaltung, dass Einkünfte aus Vermietung oder Verpachtung erzielt würden. Nach Abschluss des Lizenzvertrages habe er nichts mehr zu tun gehabt; sein Vertragspartner habe von ihm auch nichts verlangt. Er habe vielmehr für sein Patent von der Fa. G. AG - ohne weiteres eigenes Zutun - schließlich seine Lizenzgebühren erhalten. Dass er dafür mit seinem Vater eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts gegründet habe, könne keine ausschlaggebende Rolle spielen. Denn der Gesellschaftszweck bestehe ausschließlich darin, ausstehende Lizenzgebühren, die die Fa. G. AG nicht zahlen wolle, einzufordern. Diese Gesellschaft habe er gründen müssen, weil für die Durchsetzung der Ansprüche erhebliche Mittel notwendig seien, er selbst kein Geld mehr habe und sein Vater - für seine finanzielle Hilfe - habe abgesichert sein wollen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 18. Dezember 2000 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 7. September und 3. Dezember 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. März 2000 zu verurteilen, ihm für die Zeit ab 1. November 1997 anstelle von Berufsunfähigkeitsrente Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz des Klägers lehnte das Sozialgericht Reutlingen mit Beschluss vom 25. April 2000 (S 4 RA 816/00 ER) ab. Die dagegen eingelegte Beschwerde des Klägers wies der Senat mit Beschluss vom 20. Juli 2000 (L 10 RA 2221/00 ER-B) zurück.

Mit Beschluss vom 8. November 2001 hat der Senat dem Kläger unter Beiordnung des Prozessbevollmächtigten Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren bewilligt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, des Sozialgerichts und des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Ihm steht für die Zeit ab 1. November 1997 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit i.S.d. § 44 SGB VI a.F. zu, die ihm die Beklagte (im Wege des Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X) hätte bewilligen müssen. Hierfür sind folgende Erwägungen des Senats maßgeblich:

Mit dem Sozialgericht hält auch der Senat die Regelung des § 44 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SGB VI a.F. für verfassungsmäßig; insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Gerichtsbescheids verwiesen. Was die Anwendung dieser Vorschrift anbelangt, hat das Sozialgericht ebenfalls zutreffend dargelegt, wie der Begriff der selbständigen Erwerbstätigkeit auszulegen ist; hierüber streiten die Beteiligten auch nicht. Allerdings hat das Sozialgericht zu Unrecht angenommen, der Kläger übe eine selbständige Erwerbstätigkeit in diesem Sinne aus. Der (unter den Beteiligten unstreitige) Sachverhalt trägt diese Einschätzung nicht. Denn die Tätigkeit des Klägers erschöpft sich (unwidersprochen und ohne dass insoweit Zweifel bestünden) darin, Lizenzgebühren aus seinem Patent - mit der Hilfe seines Vaters, auf die er offenbar angewiesen ist - geltend zu machen und beizutreiben. Nur hierauf ist der Gesellschaftszweck der aus dem Kläger und seinem Vater bestehenden Gesellschaft bürgerlichen Rechts gerichtet. Damit steht vorliegend aber, wie der Kläger mit Recht vorbringt, lediglich die Verwaltung des eigenen Vermögens in Rede und keine selbständige Erwerbstätigkeit der Art, wie sie (allgemein) im angefochtenen Gerichtsbescheid richtig umschrieben ist. Dass sich die Vermögensverwaltung auf einen Lizenzgegenstand richtet und zur Geltendmachung der Lizenzgebühren eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts gegründet wurde, ändert nichts. Im Kern geht es nach wie vor darum, Einkünfte aus dem eigenen Vermögen zu ziehen, nicht anders als in Fällen, in denen bspw. die Verwaltung einer eigenen Wohnung und das Einziehen (bzw. ggf. Beitreiben) der vereinbarten Wohnungsmiete in Rede stehen (vgl. zu einem solchen Fall - wenngleich in anderem Zusammenhang - das Senatsurteil v. 31. Mai 2001 - L 10 LW 5087/00).

Offenbar haben die Angaben des Klägers auf dem formularmäßigen Weitergewährungsantrag vom 2. Mai 1998 zu Missverständnissen geführt, die bislang nicht auszuräumen waren. Nach Ansicht des Senats steht nunmehr aber fest, dass der (aus medizinischer Sicht unstreitig erwerbsunfähige) Kläger (doch) nicht selbständig erwerbstätig war, sondern (nur) den Versuch unternommen hat, sein Patent zu verwerten, was der Gewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente nach Maßgabe des bis 31. Dezember 2000 geltenden Rechts freilich nicht im Weg steht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Da die Berufung des Klägers Erfolg hat, sind ihm seine außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
Saved