S 11 RA 2/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 11 RA 2/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 29.12.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.04.2004 wird aufgehoben. Die Beklagte hat die Kosten der Klägerin zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Zuzahlung zu einer stationären Rehabilitationsmaßnahme.

Die am 00.00.0000 geborene Klägerin, Versicherungskauffrau im Außendienst, beantragte mit Schreiben vom 19.11.2002 eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme. Nach Durchführung der Maßnahme in der Zeit vom 21.10 bis zum 02.12.2003 verlangte die Beklagte mit Bescheid vom 29.12.2003 eine Zuzahlung i.H.v. 378.- Euro (42 Tage a 9.- Euro).

Ihren am 23.01.2004 erhobenen Wiederspruch begründete die Klägerin damit, ihr Einkommen sei derart niedrig, dass sie durch die Zuzahlung unzumutbar belastet werde. Sie verwies auf Provisionsabrechnungen der D Versicherung für die Monate Juni, Juli und Oktober 2002.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 23.04.2004 zurück. Sie führte aus, eine unzumutbare Belastung sei nur dann gegeben, wenn das monatliche Nettoeinkommen des Rehabilitanden 40 % der monatlichen Bezugsgröße nicht übersteige. Die Klägerin habe im Monat vor der Antragstellung jedoch 1.798,28 Euro Einkommen erzielt.

Hiergegen richtet sich die am 00.00.0000 erhobene Klage.

Die Klägerin wiederholt und vertieft ihr bisheriges Vorbringen. Sie hat den ihre Steuerpflicht im Jahr 2002 betreffenden Bescheid des Finanzamts B-Kreis über Einkommenssteuer, Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer vom 12.05.2004 vorgelegt.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 29.12.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.04.2004 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie bleibt bei ihrer bisherigen Auffassung.

Hinsichtlich der wesentlichen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Entscheidungen der Beklagten sind rechtswidrig im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da eine Zuzahlung die Klägerin unzumutbar belasten würde.

Nach § 32 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) zahlen Versicherte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und stationäre Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in Anspruch nehmen, für jeden Kalendertag den sich nach § 40 Abs. 5 Sozialgesetzbuch - Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) ergebenden Betrag. Die Voraussetzungen aus § 32 Abs. 1 Satz 1 SGB VI sind erfüllt. Insbesondere ergibt sich der tägliche Betrag i.H.v. 9.- Euro aus § 40 Abs. 5 Satz 1 SGB V in der vom 01.01.2002 bis 31.12.2002 gültigen Fassung. Diese Fassung war von der Beklagten anzuwenden, denn bei zwischenzeitlichen Rechtsänderungen ist das Recht zum Zeitpunkt der Antragstellung maßgeblich (SG Berlin, Gerichtsbescheid vom 03.02.1999, S 24 RJ 370/98).

Zugleich sind jedoch die Voraussetzungen des Absehens von der Zuzahlungspflicht nach § 32 Abs. 4 SGB VI gegeben. Nach § 32 Abs. 4 SGB VI bestimmen die Träger der Rentenversicherung, unter welchen Voraussetzungen von der Zuzahlung abgesehen werden kann, wenn sie den Versicherten unzumutbar belasten würde. Die Träger der Gesetzlichen Rentenversicherung haben von dem ihnen eingeräumten Spielraum (hierzu Niesel, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 32 SGB VI, Rn. 14) durch Erlass der "Richtlinien für die Befreiung von der Zuzahlung bei medizinischen und sonstigen Leistungen zur Rehabilitation" vom 29.10.1996 (in Kraft ab 1.1.1997; abgedruckt in DangVers 1997, 128 und bei Niesel, a.a.O., Anhang § 32 SGB VI; i.F.: "Richtlinien") Gebrauch gemacht. Bei den "Richtlinien" handelt es sich um norminterpretierende Verwaltungsvorschriften zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der unzumutbaren Belastung. Insbesondere kann sich der Rentenversicherungsträger hierbei insgesamt an den für das Übergangsgeld maßgeblichen Vorrschriften orientieren (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22.11.1999, L 4 RA 36/99).

Gemäß § 2 Abs. 1 1.Spiegelstrich der "Richtlinien" sind Versicherte vollständig von der Zuzahlung befreit, deren monatliches Nettoerwerbseinkommen 40 v.H. der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Viertes Buch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB IV) nicht übersteigt. Maßgeblich bei dieser Prüfung sind nach § 4 Satz 2 der "Richtlinien" grundsätzlich die Verhältnisse im Kalendermonat vor Antragstellung. Monatliche Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV war für das Jahr 2002 ein Betrag von 2345.- Euro; davon 40% sind 938.- Euro.

Das Einkommen der Klägerin im Monat Oktober 2002 hat diesen Betrag überschritten. Jedoch darf in Fällen wie dem vorliegenden in Abweichung von § 4 Satz 2 der "Richtlinien" nicht das Einkommen des Monats vor Antragstellung zugrunde gelegt werden, vielmehr ist das durchschnittliche Monatseinkommen während des Jahres der Antragstellung heranzuziehen. Dementsprechend sind die Richtlinien (die als untergesetzliches Recht der Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der Sozialgerichte unterliegen) im Lichte des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) auszulegen; insbesondere muss die Formulierung "grundsätzlich" in § 4 Satz 2 der "Richtlinien" so verstanden werden, dass die "Richtlinien" insoweit Ausnahmenen zulassen. Sinn von § 32 Abs. 4 SGB VI und der "Richtlinien" ist es, in wirtschaftlich begründeten Fällen Ausnahmen von der Zuzahlungspflicht zu machen. Eine wörtliche Anwendung der "Richtlinien" hat jedoch zur Folge, dass Versicherte mit stark schwankendem Einkommen benachteiligt werden, wenn sie im nach § 4 Satz 2 der "Richtlinien" maßgeblichen Monat ein außergewöhnlich hohes Einkommen erzielt haben. Ein sachlicher Grund im Sinne der Dogmatik zu Art. 3 Abs. 1 GG für diese (nicht auch in § 32 Abs. 4 SGB VI angelegte) Ungleichbehandlung ist nicht ersichtlich. Dies brauchten zwar die Träger der Rentenversicherung bei Erlass der "Richtlinien" nicht zu berücksichtigten, denn das Rentenversicherungsrecht geht - wie sich etwa aus den §§ 1 bis 3 SGB VI ergibt - vom typischen Bild des abhängig beschäftigten Versicherten und den hierbei typischen wirtschaftlichen Verhältnissen aus, zu denen insbesondere ein mehr oder weniger gleich hohes monatliches Entgelt zählt. Hieraus ergibt sich jedoch zugleich, dass jedenfalls von § 4 Satz 2 der "Richtlinien" abgewichen werden muss, wenn sich aufgrund atypischer Umstände des Einzelfalls aus seiner Anwendung eine unzumutbare Belastung ergäbe. Aufgrund der Sachnähe zwischen der Zuzahlungspflicht und dem Anspruch auf Übergangsgeld liegt es nahe, in Fallkonstellationen wie der vorliegenden auf den Regelungsgedanken aus § 47 Abs. 1 Satz 6 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) zurückzugreifen, der für die Berechnung des Übergangsgelds ähnliche Ausgleiche bei Einmalzahlungen vorsieht.

Das durchschnittliche monatliche Nettoerwerbseinkommen im Jahr der Antragstellung (2002) hat die sich aus § 2 Abs. 1 1.Spiegelstrich der "Richtlinien" i.V.m. § 18 Abs. 1 SGB IV ergebenden Grenze von 938.- Euro nicht überstiegen. Weder § 32 SGB VI noch die "Richtlinien" bestimmen näher, wie das Nettoerwerbseinkommen im Sinne von § 2 Abs. 1 1.Spiegelstrich der "Richtlinien" zu berechnen ist. Ausgehend vom Regelungszweck des § 32 Abs. 4 SGB VI, Ausnahmen von der Zuzahlungspflicht in Fällen unzumutbarer finanzieller Belastung zuzulassen, darf als Nettoeinkommen nur derjenige Betrag zugrunde gelegt werden, der dem Rehabilitanden nach Abzug von Steuern und Beiträgen zur Sozialversicherung zur Verfügung steht.

Ausweislich des vorgelegten Steuerbescheides beliefen sich die Einkünfte der Klägerin aus Gewerbebetrieb im Jahr 2002 auf 17.299.- Euro (monatlich durchschnittlich 1.441,58 Euro). Hiervon sind Einkommens- und Kirchensteuer in Höhe von insgesamt 901,33 Euro abzuziehen (verbleibt monatlich durchschnittlich 1.366,50 Euro) sowie Versicherungsbeiträge i.H.v. 7.364.- Euro (ergibt monatlich durchschnittlich 752,83 Euro). Nicht zum selben rechnerischen, aber dennoch zum selben inhaltlichen Ergebnis führt eine analoge Anwendung der in § 18 b Abs. 5 SGB IV enthaltenen Pauschalierungsregelungen (für die spricht, dass es sich auch dort um Billigkeitsregelungen handelt, die sich an den tatsächlichen Einkommensverhältnissen der Betreffonenen orientieren). Hiernach wäre das monatliche durchschnittliche Bruttoeinkommen (1.441,58 Euro) um 40 v.H. zu kürzen, was einen Betrag von monatlich 864,94 Euro ergibt.

Auf eine verfristete Antragstellung (vgl. § 4 Satz 1 der "Richtlinien") hat sich die Beklagte nicht berufen, sondern im Widerspruchsbescheid zur Sache entschieden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Entscheidung über die Zulassung der Berufung beruht auf § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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