L 1 RJ 25/04

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 15 RJ 392/01
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 RJ 25/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 5. November 2003 wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Hinsichtlich des Sachverhalts bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens wird auf den Tatbestand des angegriffenen Urteils des Sozialgerichts Hamburg vom 5. November 2003 verwiesen. Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Das Vorliegen der Voraussetzungen für eine solche Rente könne nicht festgestellt werden, weil nach Einschätzung des Neurologen/Psychiaters Dr. F. das von der Klägerin gezeigte Verhalten nicht konsistent, eine Zuordnung zu einer bestimmten psychischen Erkrankung nicht möglich und deswegen die Feststellung gesundheitlicher Einschränkungen ausgeschlossen sei. Insbesondere sei das Verhalten vermutlich willentlich gesteuert und der willensgesteuerte Anteil könne aufgrund der Verhaltensweisen der Klägerin nicht abgeschätzt werden. Die Beurteilung des medizinischen Sachverständigen werde bestätigt durch die Beobachtungen des im Verwaltungsverfahren tätig gewordenen Internisten Dr. J. zur Verhaltensänderung bei der Klägerin nach Abschluss der Untersuchung sowie dadurch, dass die Klägerin in der Lage gewesen sei, sich seit der Antragstellung dreizehn mal zahnärztlich und zwölf mal gynäkologisch behandeln zu lassen, aber nur eine Behandlung bei dem Gynäkologen – und zwar die zeitlich nach der gerichtlichen Anfrage hinsichtlich des behandelnden Arztes liegende – von psychischen Auffälligkeiten begleitet gewesen sei.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt. Sie sei erwerbsunfähig. Das zeige sich bereits an der Zuerkennung der Pflegestufe I durch die Pflegeversicherung und der Beantragung der Pflegestufe II. Auch sei der im Verwaltungsverfahren tätig gewesene Psychiater von einem aufgehobenen Leistungsvermögen ausgegangen. Die vom Internisten Dr. J. geschilderten Beobachtungen nach seiner Untersuchung seien zu bezweifeln. Er habe gar nicht sehen können, ob ihre Unterhaltung mit ihren Verwandten zwanglos gewesen sei. Außerdem widerspreche es dem Krankheitsbild eines Autisten nicht, dass er sich unterhalten könne. Aus dem Umstand, dass eine andere Person mit dem gleichen Familiennamen wie sie die Beklagte hinsichtlich ihrer Erkrankung getäuscht habe, dürfe nicht auf ein betrügerisches Verhalten im hier streitigen Fall geschlossen werden. Sie habe sich nicht zu einem Nervenarzt in Behandlung begeben, der ihr Tipps gegeben habe, wie man eine autistische Erkrankung vortäusche. Den Angaben des behandelnden Neurologen/Psychiaters Dr. P. müsse mehr Bedeutung zugestanden werden. Zur Unterstützung ihres Vortrages hat die Klägerin die Stellungnahme Dr. P.s vom 6. September 2004 vorgelegt.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 5. November 2003 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 6. November 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 8. März 2001 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Mai 2000 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, die erstinstanzliche Entscheidung sei zutreffend. Es müsse davon ausgegangen werden, dass das Verhalten der Klägerin willensgesteuert sei. Anders ließen sich der unauffällige Umgang mit ihren Verwandten, wie ihn Dr. J. beobachtet habe, sowie die Behandlungen beim Zahnarzt und beim Gynäkologen – mit Ausnahme der letzten Behandlung – nicht erklären. Im Zeitpunkt der Bescheiderteilung sei bei einer Vielzahl von Versicherten aufgefallen, dass diese in Begutachtungssituationen ein Verhalten vergleichbar mit dem der Klägerin zeigten, welches medizinisch nicht zugeordnet werden könne. Im Rahmen der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen sei in einigen Fällen auch der Bezug von Pflegegeldern bekannt geworden.

Wegen des Sachverhalts im Einzelnen wird auf den Inhalt der Prozessakte, der Krankenakte des Allgemeinen Krankenhauses O., der Akte des Versorgungsamtes nach dem Schwerbehindertengesetz sowie der Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen. Sie sind Gegenstand der Beratung und Entscheidung des Senats gewesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht kann gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Berufung durch Beschluss zurückweisen, da es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher gehört worden.

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin (vgl. §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz) ist nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung der begehrten Rente, weil keine Erwerbsunfähigkeit oder Erwerbsminderung vorliegt.

Der Senat geht davon aus, dass ein Anspruch auf eine Rente wegen Berufsunfähigkeit nicht geltend gemacht wird, nachdem in der mündlichen Verhandlung des Sozialgerichts das Begehren als auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gerichtet protokolliert worden ist. Aber selbst wenn hilfsweise weiter eine Rente wegen Berufsunfähigkeit angestrebt werden sollte, könnte die Berufung keinen Erfolg haben, weil die Klägerin als Reinigungskraft zuletzt ungelernte Tätigkeiten verrichtet hat und deswegen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar wäre, der ihr – wie im Folgenden ausgeführt wird – offen steht.

Auf den Rechtsstreit sind die Vorschriften des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) anzuwenden (§ 300 Abs. 1 SGB VI).

Gemäß § 44 Abs. 2 SGB VI in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, wenn sie u.a. erwerbsunfähig sind. Erwerbsunfähig sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das monatlich 630 Deutsche Mark übersteigt (§ 44 Abs. 2 Satz 1 SGB VI). Erwerbsunfähig ist nicht, wer eine Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 44 Abs. 2 Satz 2 SGB VI).

Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Sozialgericht die auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gerichtete Klage abgewiesen. Die Klägerin ist nicht erwerbsunfähig, weil keine Leistungseinschränkungen mit der erforderlichen, an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgestellt werden können, die ein vollschichtiges Leistungsvermögen für zumindest leichte Arbeiten mit qualitativen Einschränkungen ausschließen.

Auch den Senat überzeugen die Ausführungen des im Verfahren tätig gewordenen medizinischen Sachverständigen Dr. F ... Er hat zwar dargelegt, dass ein aufgehobenes Leistungsvermögen vorläge, wenn sich die Klägerin - so wie fremdanamnestisch dargestellt - tatsächlich durchgehend verhielte. Dies sei aber nicht anzunehmen. Die Klägerin habe sich in der Untersuchungssituation jeglicher Äußerung verschlossen, jedoch Verhaltensweisen demonstriert, die einander widersprächen. So sei sie z. B. zeitweise schreckhaft und abweisend, dann aber wieder sehr zutraulich gewesen. Das gezeigte Störungsbild passe nicht zu den vermuteten Diagnosen und auch nicht zu anderen psychischen Erkrankungsbildern. Bei Konstanz des demonstrierten Verhaltens wäre an eine zahnärztliche oder gynäkologische Behandlung gar nicht zu denken gewesen. Es möge durchaus sein, dass entsprechend den Darlegungen des behandelnden Arztes Dr. P. und den Berichten über die stationäre Behandlung 1999 eine seelische Erkrankung vorliege. Die Inkonstanz der Symptome, die eingeschränkte Verwertbarkeit fremdanamnestischer bei Fehlen eigenanamnestischer Angaben führe jedoch dazu, dass Art und Ausmaß der Erkrankung nicht bestimmbar sei. Selbst eine stationäre Begutachtung könne hier keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn bringen.

Die Ausführungen des Sachverständigen sind in sich schlüssig, widerspruchsfrei und überzeugend. Der Senat sieht deswegen von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und nimmt auf die Gründe des erstinstanzlichen Urteils Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG).

Im Berufungsverfahren hat die Klägerin nichts vorgetragen, was dieses Ergebnis in Frage stellen könnte. Die Zuerkennung von Pflegebedürftigkeit im Rahmen der gesetzlichen Pflegeversicherung führt schon deswegen zu keiner anderen Beurteilung, weil diese Einschätzung nicht zutreffend sein muss. Auch kommt es nicht entscheidend darauf an, dass der im Verwaltungsverfahren tätig gewordene Psychiater W. das Leistungsvermögen für aufgehoben hielt, denn er unterstellte das von der Schwester der Klägerin geschilderte häusliche Verhalten als wahr, ohne die Erkrankung diagnostisch zuordnen oder auch nur das Ausmaß der Einschränkungen hinter dem sich ihm zeigendem Angstaffekt beurteilen zu können und ohne sein Ergebnis näher zu begründen.

Vorliegend ist nicht von Bedeutung, ob der Klägerin betrügerisches Verhalten vorzuwerfen ist, denn dem Rentenbegehren steht bereits entgegen, dass nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die rentenbegründende Einschränkung des Leistungsvermögens festgestellt werden kann und die Klägerin die Folgen dieser fehlenden Beweisbarkeit trägt.

Bei seiner gutachterlichen Einschätzung hat Dr. F. die Darlegungen des behandelnden Neurologen/Psychiaters Dr. P. mit einbezogen. Die im Berufungsverfahren vorgelegte Stellungnahme von Dr. P. führt - abgesehen davon, dass sie sich in weiten Teilen speziell mit den Ausführungen der Beklagten in der Berufungserwiderung befasst – ebenfalls nicht zu einer anderen Einschätzung. Dr. P. weist zwar zutreffend darauf hin, dass in den Jahren 1999 bis 2004 insgesamt neun Nervenärzte ein schwere seelische Erkrankung bei der Klägerin angenommen haben, muss jedoch zugestehen, dass die Diagnosen ganz unterschiedlich ausfielen. Wenn er weiter meint, die Annahme einer schweren Erkrankung durch eine Vielzahl von Ärzten müsse zur Begründung des Rentenanspruchs ausreichen, so ist ihm nicht zuzustimmen. Das Gericht muss sich (mit Hilfe von medizinischen Sachverständigen) eine eigene Überzeugung bilden, wobei Zweifel an den anspruchsbegründenden Tatsachen nach den Beweisgrundsätzen zu Lasten der Klägerin gehen. Diese Zweifel werden nicht dadurch ausgeräumt, dass Dr. P. versichert, die Klägerin nicht hinsichtlich des Vorspielens einer psychischen Erkrankung beraten zu haben, selbst vom Vorliegen der Erkrankung überzeugt ist und die Darstellung des häuslichen Verhaltens durch begleitende Verwandte für zutreffend hält.

Da eine Einschränkung des Leistungsvermögens der Klägerin in zeitlicher Hinsicht ebenfalls nicht festgestellt werden kann, besteht auch kein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung. Gemäß § 43 SGB VI in der ab 1. Januar 2001 geltenden Fassung haben Versicherte u.a. Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, wenn sie wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs (teilweise Erwerbsminderung gemäß Abs. 1) bzw. drei (volle Erwerbsminderung gemäß Abs. 2) Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (Abs. 3). Wegen des bei der Klägerin anzunehmenden vollschichtigen Leistungsvermögens steht ihr eine solche Rente nicht zu.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.

Ein Grund für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG ist nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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