L 1 KR 46/03

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 23 KR 871/02
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 KR 46/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 14. April 2003 wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Kostenübernahme für eine Somatropin-Therapie bei idiopathischem (ohne erkennbare Ursache entstandenem) Kleinwuchs ab dem 14. Juli 2004.

Bei der am XX.XXXXXXXXX 1995 geborenen Klägerin, Kind einer 1,67 Meter großen Mutter und eines 1,69 Meter großen Vaters, wurden bei Untersuchungen in der Sprechstunde für Wachstums- und Hormonstörungen im A. Kinderkrankenhaus (AKKH) am 3. März und 1. Dezember 1999, 24. August 2000 sowie 21. März und 14. November 2001 Körpergrößen von 82,9 cm, 87,5 cm, 91,9 cm, 94,8 cm und 97 cm gemessen (Berichte Dr. A. vom 3. 3. und 17. 12. 1999, 25. 8. 2000, 21. 3. und 14. 11. 2001 sowie des AKKH vom 23. 8. 1999).

Am 6. Dezember 2001 (Schreiben Dr. A. vom 30. November 2001) beantragte die bei der Beklagten versicherte Klägerin wegen ihres idiopathischen Kleinwuchses die Kostenübernahme für eine probatorische Therapie im Rahmen eines individuellen Heilversuchs mit einem pharmakologisch dosierten Wachstumshormon (Somatropin). Der von der Beklagten eingeschaltete Kinderarzt Dr. V. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung führte unter dem 19. Dezember 2001 aus, dass das Somatropin enthaltende Medikament für die vorgesehene Behandlung nicht zugelassen sei. Eine Kostenübernahme komme lediglich im Rahmen einer Studie, nicht aber zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung in Frage. Gegebenenfalls sei bei der Klägerin eine psychotherapeutische Behandlung angezeigt.

Mit Bescheid vom 24. Januar 2002 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme ab. Bei der Klägerin sei ein Wachstumshormonmangel oder eine andere Krankheit, für die das Hormonpräparat zugelassen sei, nicht nachgewiesen. Mangelndes Wachstum könne durchaus psychische Ursachen haben. Diese seien hier nicht unwahrscheinlich, weil Dr. A. körperliche Ursachen ausschließe.

Im anschließenden Vorverfahren wandte die Klägerin (Schreiben Dr. A. vom 21. 2. 2002) ein, der Begriff "idiopathisch" besage weder dass ihr Kleinwuchs keine körperliche Ursache habe noch impliziere er, dass dieser psychisch verursacht sei. Vielmehr müsse bei einem idiopathischen Kleinwuchs von körperlichen - nur noch nicht benennbaren - Ursachen ausgegangen werden. Ein "psychosozialer" Kleinwuchs liege bei ihr nicht vor. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück. Ein Ausnahmefall, der eine Anwendung des Wachstumshormonpräparats außerhalb seines Anwendungsgebiets zulasse, sei nicht gegeben (Widerspruchsbescheid vom 6. Mai 2002).

Hiergegen richtet sich die am 3. Juni 2002 erhobene Klage, mit der die Klägerin vorgebracht hat, dass sie an einer ihre Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung leide und eine andere Therapie nicht verfügbar sei.

Nachdem das Sozialgericht von dem Kinder- und Jugendarzt Dr. N. das Attest vom 25. Juli 2002 erhalten und die Beteiligten angehört hatte, hat es die Klage durch Gerichtsbescheid vom 14. April 2003 abgewiesen. Ob der gegenwärtige körperliche Entwicklungszustand der Klägerin überhaupt eine behandlungsbedürftige Krankheit darstelle, selbst wenn sie für ihr Alter unterdurchschnittlich groß sei und zurzeit auch unterdurchschnittlich schnell wachse, sei fraglich. Jedenfalls seien die Medikamente, welche den Wirkstoff Somatropin enthielten (u. a. Genotropin, Humatrope, Norditropin, Saizen, Zomacton, vgl. Rote Liste 2002 Nr. 50016 bis 50019), also ein gentechnisches Hypophysen- und Hypothalamushormon, für die Behandlung des idiopathischen Kleinwuchses nicht zugelassen. Bei der Klägerin liege weder eine mangelnde Ausschüttung/Sekretion des (endogenen) Wachstumshormons Somatropin noch ein Ullrich-Turner-Syndrom (durch Chromosomenanalyse bestätigte Gonadendysgenesie) oder eine chronische Niereninsuffizienz vor. Die Voraussetzungen für einen "off-label-use" des Hormonpräparats seien iSd Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19. März 2002 (B 1 KR 37/00, BSGE 89, 184 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8) nicht gegeben.

Gegen den ihr am 16. April 2003 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 7. Mai 2003 Berufung eingelegt, mit der sie das an ihren Prozessbevollmächtigten gerichtete Schreiben der Firma L. vom 9. Juli 2004 und amerikanische Literatur bzw. Literaturangaben zur Hormonbehandlung des idiopathischen Kleinwuchses von Kindern und Heranwachsenden vorlegt. Zur Begründung des Rechtsmittels führt sie aus: Ihr Kleinwuchs stelle sehr wohl eine gesundheitliche Beeinträchtigung schwerwiegenden Ausmaßes dar (Hinweis auf die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, Nr. 26.18, S. 138). Eine andere Therapie als mit Somatropin sei bei ihr weder möglich noch zumutbar. Das verwendete Präparat Humatrope habe bereits einen Behandlungserfolg gebracht. Innerhalb von 15 Monaten sei ein Wachstum von 13 Zentimetern erreicht worden (Körpergröße: 1,17 m). Im Übrigen sei das Medikament in den USA für die Behandlung ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung zugelassen. Die Finanzierung der Therapie, die in unveränderter Dosis erfolge, sei durch die Herstellerfirma L. bis Dezember 2004 gewährleistet (Arztbrief Dr. A. vom 4. 12. 2003). Dr. A. verschreibe das Mittel auf Privatrezept, und sie hole es kostenfrei bei einer Apotheke ab.

Die Klägerin beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 14. April 2003 und den Bescheid der Beklagten vom 24. Januar 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Mai 2002 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten der Somatropin-Therapie für die Zukunft zu übernehmen, hilfsweise Dr. A. zur Kausalität zwischen Somatropin-Therapie und Wachstum zu vernehmen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Das Berufungsgericht hat von Dr. A. den Befundbericht vom 25. Juni 2004 eingeholt, auf dessen Inhalt verwiesen wird.

Wegen des weiteren Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf den Inhalt der Prozessakten, der Gerichtsakten S 23 KR 1182/03 ER und der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist statthaft, form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz ( SGG )).

Das Rechtsmittel ist aus den Gründen der sozialgerichtlichen Entscheidung, auf die Bezug genommen wird (§ 153 Abs. 2 SGG), aber unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 24. Januar 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Mai 2002 ist rechtmäßig.

Streitgegenstand ist, nachdem die Klägerin Kostenfreistellung für die Vergangenheit nicht mehr begehrt, nur noch, ob die Beklagte die Somatropin-Therapie als Sachleistung der gesetzlichen Krankenversicherung für die Zukunft übernehmen muss. Dazu ist sie nicht verpflichtet.

Die Behandlung des idiopathischen Kleinwuchses mit dem für dieses Anwendungsgebiet nicht zugelassenen, den Wirkstoff Somatropin enthaltenden Hormonpräparat Humatrope ist keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Der in § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und § 31 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) normierte Anspruch des Versicherten auf Bereitstellung der für die Krankenbehandlung benötigten Arzneimittel unterliegt den Einschränkungen aus § 2 Abs. 1 Satz 3 und § 12 Abs. 1 SGB V. Er besteht nur für solche Pharmakotherapien, die sich bei dem vorhandenen Krankheitsbild als zweckmäßig und wirtschaftlich erwiesen haben und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht (Bundessozialgericht (BSG) 19.3.2002 – B 1 KR 37/00 R, BSGE 89, 184 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 m.w.N.). Grundsätzlich kann ein Arzneimittel auch dann, wenn es – wie hier - zum Verkehr zugelassen ist, nicht zu Lasten der Krankenversicherung in einem Anwendungsgebiet verordnet werden, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt. Das gilt auch für das hier streitige Hormonpräparat. Denn sein Anwendungsgebiet ist die Behandlung eines Defizits der Sekretion des endogenen Wachstumshormons Somatropin, einer chronischen Niereninsuffizienz und des so genannten Ullrich-Turner-Syndroms. Diese Krankheiten liegen bei der Klägerin nicht vor.

Das Sozialgericht hat zutreffend die Voraussetzungen eines so genannten Off-Label-Use als Ausnahme von vorstehend aufgeführtem Grundsatz verneint. Der Senat lässt dahingestellt, ob und wann ein (idiopathischer) Kleinwuchs, der nach dem Schwerbehindertenrecht bei Körpergrößen unterhalb von 140 cm nach Abschluss des Wachstums als Behinderung anerkannt ist, eine Krankheit iSd § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V darstellt. Von einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung kann, zumal der Wachstumsprozess bei der Klägerin, die sich noch im vorpubertären Alter befindet, nicht abgeschlossen ist, jedenfalls nicht ausgegangen werden. Allein das steht dem geltend gemachten Anspruch bereits entgegen.

Nach dem Eindruck, den der Senat in der mündlichen Verhandlung von der Klägerin gewonnen hat, vermag er nicht festzustellen, dass sie durch ihre Körpergröße in ihrer Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigt ist. Aber selbst wenn man diese Voraussetzungen als gegeben ansähe und zugleich unterstellte, dass eine andere Therapie nicht verfügbar ist, weil - sofern nicht lediglich mit dem Kleinwuchs etwa verbundene psychische Störungen psychotherapeutisch behandelt werden sollen - im Hinblick auf die reine Förderung des Wachstums andere Arzneimittel nicht ersichtlich sind, hätte die Berufung keinen Erfolg. Denn dem Sozialgericht ist darin zu folgen, dass aufgrund der Datenlage zurzeit nicht die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) zu erzielen ist.

Damit letzteres angenommen werden kann, müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und auf Grund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (BSG 19. 3.2002 - B 1 KR 37/00, a. a. O.). Es ist nicht ersichtlich, dass eine Erweiterung der Zulassung des hier begehrten Arzneimittels auf die Behandlung eines idiopathischen Kleinwuchses beantragt ist. Das behauptet auch die Herstellerfirma nicht. Die vom BSG für einen off-label-use außerhalb des Zulassungsverfahrens geforderten Voraussetzungen sind ebenfalls nicht gegeben. Es liegen zwar – vom Sozialgericht im Verfahren S 23 KR 1182/02 ER ermittelte und im angefochtenen Gerichtsbescheid erwähnte - Arbeiten vor, die zum einen die experimentelle Somatropin-Therapie bei idiopathischem Kleinwuchs empfehlen, zum anderen insoweit zu größter Zurückhaltung raten oder sich bei idiopathischem Kleinwuchs von Kindern gegen diese Therapie aussprechen. Noch im Schreiben der Firma L. vom 9. Juli 2004 wird der kanadische Pädiater Prof. H. G. von der M. University in M. zitiert, der nicht davon ausgeht, "dass gesunde Kleinwüchsige unterm Strich von der Therapie profitieren werden". Ist nach Lage der Dinge bereits sehr zweifelhaft, dass die vorliegenden Arbeiten veröffentlichte Erkenntnisse darstellen, die über Qualität und Wirksamkeit von Humatrope in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen enthalten, so kann jedenfalls von einem Konsens in den einschlägigen Fachkreisen über einen voraussichtlichen Nutzen des Arzneimittels gegenwärtig keinesfalls gesprochen werden.

Soweit Dr. A. in seinem Befundbericht vom 25. Juni 2004 ausführt, dass die Wachstumsrate der Klägerin weiterhin überdurchschnittlich sei, sich ihr Aufholwachstum, wenn auch langsamer als zuvor, wie allgemein unter der Wachstumshormontherapie zu erwarten, fortgesetzt habe und die nunmehrige Abweichung der Körpergröße von der Norm (nur noch -3,1 Standard-Deviation) betrage, was zeige, dass das Wachstumshormon bei der Klägerin - bei der unerwünschte Wirkungen nicht aufgetreten seien und die das Präparat nach wie vor gut vertrage – wirksam sei, ergibt sich daraus keine andere Beurteilung. Abgesehen davon, dass nur schwer zu beweisen sein dürfte, dass im Falle der Klägerin das eingetretene Wachstum nur auf Grund der erfolgten Hormontherapie erfolgt ist – insoweit wäre von Interesse, wie ihr Wachstum in einer Therapiepause verläuft - , ist das Anschlagen der Therapie im Einzelfall auch nicht entscheidungserheblich. Denn es kommt auf den Konsens über den allgemeinen voraussichtlichen Nutzen in den einschlägigen Fachkreisen an. Dieser ist nicht gegeben.

Der Senat sieht keine Veranlassung, Dr. A. zur Kausalität zwischen der Somatropin-Therapie und dem Wachstum zu hören. Zwar mag es nach Verabreichung von Somatropin-Präparaten, wie einigen der vom Sozialgericht recherchierten Fachbeiträge zu entnehmen ist, bei einer Reihe idiopathisch-kleinwüchsiger Kinder zu einem Wachstum mit Körpergrößen gekommen sein, die deutlich über der für sie berechneten Wachstumsprognose liegen. Auch mag eine Wirksamkeit bei der Klägerin gegeben sein. Dies genügt aber nicht, um den Anforderungen an einen Off-Label-Use iSd Rechtsprechung des BSG zu entsprechen. Für Therapieversuche und Arzneimittelexperimente hat die gesetzliche Krankenversicherung nicht aufzukommen.

Nach alledem hat die Berufung keinen Erfolg und ist zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision gem. § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen hierfür fehlen.
Rechtskraft
Aus
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