S 1 U 272/02

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 1 U 272/02
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 15 U 170/04
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger Anspruch auf die Gewährung von Verletztenrente sowie auf die Gewährung einer stationären Rehabilitationsmaßnahme hat.

Der am 00.00.1945 geborene Kläger erlitt am 29.01.1998 einen Arbeitsunfall, als er mit seinem Fahrzeug infolge Eisglätte verunglückte.

Der Durchgangsarzt Dr. I diagnostizierte anschließend eine Stirnprellung rechts, eine HWS-Distorsion, eine Prellung des linken Schultergürtels, eine Prellung und tiefe Schürfwunde des linken Ellenbogens sowie eine Prellung und Schürfwunde der linken Hand.

Bei einer Nachuntersuchung am 04.02.1998 klagte der Kläger über Kopfschmerzen sowie über Ohrgeräusche.

Die Beklagte veranlasste anschließend Begutachtungen des Klägers durch den Neurologen Prof. Dr. U sowie den HNO-Arzt Prof. Dr. N sowie durch den Unfallchirurgen Dr. I. Prof. Dr. N kam in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, die Ohrgeräusche und die psycho-vegetativen Beschwerden seien als Unfallfolge anzusehen, da sie in direktem zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall stünden. Die MdE sei mit 20 v.H. zu bewerten. Die Innenohrschwerhörigkeit beidseits sei keine Unfallfolge. Prof. Dr. U schloss sich im Wesentlichen der Einschätzung von Prof. Dr. N an. Dr. I bewertete die unfallbedingte Gesamt-MdE mit 20 v.H., da eine Überschneidung zwischen den neurologischen und HNO-ärztlichen Beschwerden vorliege.

Die Beklagte ließ dieses Gutachten durch ihren beratenden Arzt, den Neurologen und Psychiater Dr. G, auswerten. Dieser vertrat die Auffassung, wenn der Tinnitus unfallabhängig sei und die psycho-vegetativen Beschwerden zumindest teilweise Folge dieses Tinnitus seien, sei eine Gesamt-MdE von 20 v.H. gerechtfertigt. Hinsichtlich der Frage, ob der Tinnitus Unfallfolge sei, sollte die Beklagte hier noch ein Gutachten von einem traumatologisch erfahrenen HNO-Gutachter einholen.

Die Beklagte holte anschließend ein Gutachten nach Lage der Akten von dem HNO-Arzt Dr. P ein. Dieser vertrat die Auffassung, ein kausaler Zusammenhang zwischen der Nackenmuskelzerrung bzw. einer allenfalls feststellbaren HWS-Distorsion I. Grades und dem festgestellten Tinnitus könne mit großer Wahrscheinlichkeit verneint werden.

Unter Zugrundelegung dieses Gutachtens lehnte die Beklagte die Gewährung von Verletztenrente mit Bescheid vom 30.11.2001 ab.

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein, woraufhin die Beklagte eine weitere hals-nasen-ohrenfachärztliche Stellungnahme von Prof. Dr. S einholte. Dieser schloss sich im Wesentlichen der Auffassung von Dr. P an und vertrat die Auffassung, ein adäquates Trauma für die geklagten Beschwerden habe hier nicht vorgelegen.

Im Juli 2002 beantragte der Kläger darüber hinaus ein stationäres Heilverfahren. Zur Begründung legte er eine Bescheinigung des Chirurgen Dr. G2 vor, der die Auffassung vertrat, nach der bereits durchgeführten stationären Heilmaßnahme in der C2-Klinik, N2, habe sich der Zustand des Klägers zunächst gebessert. Mittlerweile hätten sich die Beschwerden wieder erheblich verschlimmert, verbunden mit einer reaktiven Depression. Es sei daher ein erneutes stationäres Heilverfahren in der C2-Klinik dringend erforderlich.

Mit Bescheid vom 26.07.2002 lehnte die Beklagte die Gewährung einer stationären Reha-Maßnahme mit der Begründung ab, die Beschwerden des Klägers seien keine Unfallfolge.

Der Kläger legte auch gegen diesen Bescheid Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheiden vom 28.10.2002 (Rentengewährung) bzw. vom 25.11.2002 (Gewährung eines stationären Heilverfahrens) wurden die Widersprüche als unbegründet zurückgewiesen.

Der Kläger hat am 05.11.2002 bzw. am 06.12.2002 Klagen gegen beide Widerspruchsbescheide erhoben.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 30.11.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.10.2002 zu verurteilen, ihm Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren, sowie die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26.07.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.11.2002 zu verurteilen, ihm eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klagen abzuweisen.

Sie ist bei ihrer Auffassung geblieben, die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen entsprächen der Sach- und Rechtslage und seien nicht zu beanstanden.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Einholung von Gutachten von dem HNO-Arzt Dr. C, dem Neurologen und Psychiater Dr. Dr. X, dem Orthopäden Dr. P2 sowie dem Neurologen und Psychiatern Dr. L. Auf Inhalt und Ergebnis der am 08.04.2003, 20.06.2003, 01.07.2003 bzw. am 28.01.2004 erstatteten Gutachten wird verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der den Kläger betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Dieser war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässigen Klagen sind nicht begründet.

Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide vom 30.11.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.10.2002 sowie vom 26.07.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.11.2002 nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), denn diese Bescheide sind nicht rechtswidrig.

Die Beklagte hat die Gewährung von Verletztenrente für die Folgen des am 29.01.1998 erlittenen Arbeitsunfalles zu Recht abgelehnt.

Nach § 56 Abs. 1 Satz 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch -SGB VII- haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Nur unter den Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 Satz 2, 3 SGB VII, d.h. bei Vorliegen eines so genannten Stütztatbestandes, der hier nicht gegeben ist, genügt eine MdE von 10.v.H.

Diese einen Rentenanspruch auslösenden Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Dies steht nach dem Gesamtergebnis der im Verwaltungs- und im Klageverfahren durchgeführten Ermittlungen zur Überzeugung der Kammer fest. Die Kammer gründet ihres Überzeugung im Wesentlichen auf die Gutachten des HNO- Arztes Dr. C, des Orthopäden Dr. P2 sowie des Neurologen und Psychiaters Dr. L. Danach liegen bei dem Kläger weder auf orthopädisch/ unfallchirurgischem Fachgebiet, noch auf HNO-ärztlichem Fachgebiet noch auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet Gesundheitsstörungen vor, die mit Wahrscheinlichkeit durch den Unfall vom 29.01.1998 hervorgerufen oder verschlimmert worden sind. Soweit der neurologisch-psychiatrische Sachverständige Dr. Dr. X in seinem Gutachten die Auffassung vertreten hat, bei dem Kläger liege eine posttraumatische Belastungsstörung vor, die für die ersten drei Jahre nach dem Unfall mit einer MdE von 30 v.H. zu bewerten sei, vermochte ihm die Kammer nicht zu folgen. Bei dem Unfallereignis hat zwar eine außergewöhnliche Bedrohung vorgelegen, die grundsätzlich in der Lage ist, eine posttraumatische Belastungsstörung hervorzurufen, dennoch kommt eine Anerkennung als Unfallfolge nicht in Betracht. Der Kläger hat weder bei der ersten neurologischen Untersuchung am 06.02.1998, also eine Woche nach dem Unfall, noch bei der zweiten neurologischen Vorstellung etwa sieben Monate später, nämlich am 21.08.1998, über die typischen Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung geklagt. Weder wurde über ein so genanntes Vermeidungsverhalten berichtet (der Kläger ist seiner Arbeit weiter nachgegangen und hat auch weiter Auto gefahren) noch wurden so genannte Nachhallerinnerungen oder Flashbacks berichtet. Somit fehlen schon zwei wesentliche Voraussetzungen für die Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung sieben Monate nach dem Unfallereignis. Auch bei der Begutachtung am 17.03.2000 durch den Neurologen und Psychiater Prof. Dr. U wurden im Rahmen der Anamneseerhebung keine so genannten Flashbacks, keine Nachhallerinnerungen und kein Vermeidungsverhalten geschildert. Zusammengefasst wurden somit keine Symptome berichtet, die verdächtig wären für eine posttraumatische Belastungsstörung. Allein aufgrund dieser Aktenlage kann man nach Auffassung von Dr. L die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung schon fast ausschließen. Der Kläger hat zwar nunmehr sechs Jahre nach dem Unfallereignis angegeben, die erste Zeit nachts schweißgebadet aufgewacht zu sein. Dies könnte zwar den Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung lenken, auf Nachfrage hat der Kläger aber so genannte Flashbackerinnerungen in solchen Situationen verneint. Bei den angegebenen Angstattacken fehlt somit die thematische Verknüpfung mit dem Unfallereignis. Dies ist aber eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die angegebenen nächtlichen Angstattacken einem etwaigen posttraumatischen Belastungssyndrom zugeordnet werden können. Außerdem ist der Kläger in der Lage, dezidiert in allen Einzelheiten ohne emotionale Beteiligung von dem Unfallereignis zu berichten. Jemand mit einer protrahierten, persistierenden posttraumatischen Belastungsstörung wäre hierzu nicht in der Lage. Zusammenfassend findet sich in den Akten also eine erdrückende Anzahl von Hinweisen, die ganz eindeutig gegen das Bestehen einer unfallbedingten posttraumatischen Belastungsstörung spricht. Ein weiterer wesentlicher Punkt gegen die Annahme einer entschädigungspflichtigen posttraumatischen Belastungsstörung stellte der Umstand dar, dass innerhalb einer adäquaten Frist nach dem Trauma, also wenige Wochen bis einige Monate, keinerlei entsprechende Therapie in Anspruch genommen wurde. In dem EU-Rentenverfahren hat der Sachverständige Dr. Y am 24.04.2003 ebenfalls keine posttraumatische Belastungsstörung festgestellt, sondern eine chronifizierte Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion und Ängstlichkeit bei zwanghafter Persönlichkeitsstruktur. Ein Zusammenhang zwischen dieser Diagnose und dem erlittenen Unfall ist jedoch nicht zu erkennen. Ursächlich für die Anpassungsstörung sind bei dem Kläger eindeutig eine reduzierte psycho-physische Belastbarkeit aufgrund der äußerst schwierigen Arbeitsbedingungen bei seiner letzten Tätigkeit mit sehr unregelmäßiger Wechselschicht einschließlich Nachtschicht, der Notwendigkeit, schwere körperliche Arbeit zu verrichten, dies in Verbindung mit den zweifelsohne auch durch die Wechselschicht hervorgerufenen Schlafstörungen und dem unfallunabhängigen Tinnitus. Prädisponierend dürfte hier seine zwanghafte Primärpersönlichkeit gewirkt haben, wobei die reduzierte psychophysische Belastbarkeit aufgrund der organischen Erkrankungen als erhebliche narzisstische Kränkung, was unbewusst ist, erlebt wurde. Desgleichen wurde die Mitteilung des Arbeitgebers, dass man für ihn keinen leidensgerechten Arbeitsplatz hätte, als erhebliche Kränkung erlebt, depressiv verarbeitet mit der Abwehrformation der Verschiebung und Projektion mit einer "Schuldzuweisung" an den Unfallversicherungsträger übertragen.

Desgleichen ist der bei dem Kläger bestehende Tinnitus nicht als Unfallfolge anzuerkennen. Dagegen spricht ein mit Wahrscheinlichkeit vorliegender cochleär zu lokalisierender Innenohrschaden mit beginnender Recruitment- positiver Schallempfindungshochtonschwerhörigkeit beidseits. Eine wesentliche unfallbedingte funktionelle Schädigung bzw. richtungsweisende Veränderung ist nicht nachweisbar. Es findet sich sicher keine bei wesentlicher Innenohrschädigung zu erwartende peripher-vestibuläre Beteiligung. Eine solche und letztere ist durchweg auszuschließen. Der nach Anamnese ca. zwei Tage nach dem Ereignis eingetretene isolierte Tinnitus ist mangels adäquatem Innenohrtrauma nicht wahrscheinlich und auch die berichtete Zunahme im weiteren Verlauf, insbesondere auch die zuletzt angegebene deutlich sekundäre Beidseitigkeit nach primärer Einseitigkeit widerspricht dem gleichfalls.

Die Kammer hat keine Bedenken, die Feststellungen der Sachverständigen Dr. C, Dr. P2 und Dr. L der Entscheidung zugrunde zu legen. Die Sachverständigen haben die erhobenen Befunde sehr eingehend und sorgfältig ausgewertet und widerspruchsfreie und nachvollziehbare Überlegungen zur Zusammenhangsfrage angestellt. Die Kammer hat auch keine Veranlassung gesehen, den Unfallhergang durch einen Verkehrsunfallspezialisten klären zu lassen und insoweit ein weiteres Gutachten von Amts wegen einzuholen. Insoweit ist zunächst davon auszugehen, dass Dr. L in seinem Gutachten ausdrücklich von einem adäquaten Unfallereignis für eine posttraumatische Belastungsstörung ausgegangen ist. Im Übrigen vermag auch ein derartiges Sachverständigengutachten eines Verkehrsunfallspezialisten nichts an den objektiven Unfallfolgen zu ändern, die medizinisch bei dem Kläger insbesondere im Durchgangsarztbericht festgestellt worden sind.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Gewährung einer stationären Rehabilitationsmaßnahme. Nach § 27 Abs. 1 Nr. 6 umfasst die durch die Unfallversicherungsträger zu erbringende Heilbehandlung zwar auch die Behandlung in Krankenhäusern und Rehabilitationseinrichtungen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass bei dem Kläger eine Unfallfolge zu behandeln ist. Da bei dem Kläger- wie dargelegt - weder auf neurologisch-psychiatrischem, noch auf HNO-ärztlichem noch auf orthopädisch/unfallchirurgischem Fachgebiet Unfallfolgen vorliegen, kommt die Gewährung einer stationären Reha-Maßnahme zu Lasten der Beklagten hier nicht in Betracht.

Die Klage konnte nach alledem keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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