L 10 B 18/04 SB ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
10
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 6 SB 308/04 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 10 B 18/04 SB ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 20. September 2004 wird zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Die 1971 geborene Beschwerdeführerin begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX).

Mit Bescheid vom 08.07.2004 stellte der Beschwerdegegner bei der Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 40 fest. Dieser Entscheidung lagen zuvor eingeholte Befund- bzw. Behandlungsberichte sowie eine versorgungsärztliche Stellungnahme zugrunde, in der die Gesundheitsstörungen der Klägerin erfasst sind mit:

1. Seelische Störungen, Migräne (GdB 30)
2. Sehminderung (GdB 10)
3. Funktionseinschränkungen großer und kleiner Gelenke bei Kollagenose, Pericardbeteiligung (GdB 20)
4. Hirndurchblutungsstörungen (GdB 10).

Gegen diese Entscheidung erhob die Beschwerdeführerin Widerspruch. Vor Entscheidung des Beschwerdegegners über den Widerspruch hat sie am 09.08.2004 beim Sozialgericht (SG) Detmold Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, gerichtet auf Feststellung eines GdB von 50, beantragt.

Das SG hat den Antrag mit Beschluss vom 20.09.2004 abgelehnt, da weder Anordnungsgrund noch -anspuch glaubhaft gemacht seien. Zwar sei im Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin im Vergleich zu dem letzten bindenden Bescheid vom 02.12.2003, mit dem der GdB mit 30 festgestellt worden war, eine wesentliche Änderung eingetreten, weil die Beschwerdeführerin zwischenzeitlich einen Schlaganfall erlitten habe und sich zudem die seelischen Störungen verschlimmert hätten. Aus dem Entlassungsbericht des Klinikums I vom 17.03.2004 ergebe sich aber, dass sich die Anfangssymptomatik nach Schlaganfall vollständig zurückgebildet habe. Ansonsten könne aus den vorgelegten medizinischen Unterlagen nicht entnommen werden, dass für die seelischen Störungen ein höherer GdB als 30 (statt zuvor 20) in Ansatz zu bringen sei. Insgesamt sei deshalb auch kein höherer GdB als 40 gerechtfertigt.

Gegen diese am 24.09.2004 zugestellte Entscheidung richtet sich die Beschwerde der Beschwerdeführerin vom 06.10.2004.

Sie trägt vor, insbesondere aus den vorgelegten Bescheinigungen des Diplom-Psychologen H und des Dr. T ergebe sich ohne weiteres ärztliches Untersuchungsverfahren, dass ihren seelischen Störungen eine weitaus größere Bedeutung zugemessen werden müsse. Im Übrigen sei die Wechselwirkung mit den anderen Gesundheitsstörungen zu berücksichtigen. Es liege auch ein Anordnungsgrund vor. Sie habe in der Zwischenzeit ihren Arbeitsplatz verloren und sei arbeitslos. Ihr ehemaliger Arbeitgeber sei bei zeitnaher Entscheidung über den GdB aber bereit, sie wieder einzustellen.

Die Beschwerdeführerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 20. September 2004 abzuändern und den Beschwerdegegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, bei ihr einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.

Der Beschwerdegegner beantragt schriftsätzlich,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er trägt vor, dass nach zwischenzeitlich erfolgter versorgungsärztlicher Stellungnahme sogar nur ein GdB von 30 angemessen sei.

II.

Die gegen die Entscheidung des SG eingelegte Beschwerde der Klägerin ist nicht begründet.

Das SG hat mit zutreffender Begründung einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Absatzes 1 nicht vorliegt, auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind hiernach auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Durch das am 02.01.2002 in Kraft getretene 6. SGG-ÄndG (BGBl. I S. 2144 ff.) ist der einstweilige Rechtsschutz im SGG in Anlehnung an §§ 80 ff Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) geregelt worden. Dies rechtfertigt es, die zu §§ 80, 80a, 123 VwGO entwickelten Grundsätze auf das sozialgerichtliche Verfahren zu übertragen (Senatsbeschlüsse vom 18.09.2002 - L 10 B 9/02 KA ER -, vom 23.08.2002 - L 10 B 12/02 KA ER - und vom 16.04.2003 - L 10 B 21/02 KA ER -). Danach ist zwischen Sicherungs- (§ 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG) und Regelungsanordnung (§ 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG) zu unterscheiden. Eine Sicherungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG kommt danach in Betracht, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Eine Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann ergehen, wenn eine Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Hierunter fallen die praktisch häufigen Fälle eines Verpflichtungs- oder Leistungsbegehrens, in denen es - wie vorliegend - um die vorläufige Begründung oder Erweiterung einer Rechtsposition geht (vgl. Düring in Berliner Kommentare, SGG, 1. Auflage, 2003, § 86 b Rdn. 11). In beiden Fällen entspricht es einer verfassungsrechtlich unbedenklichen verwaltungsgerichtlichen Praxis, die Gewährleistung vorläufigen Rechtsschutzes davon abhängig zu machen, dass der Antragsteller einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft macht (BVerfGE 79, 69, 74). Droht danach dem Antragsteller bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten, die durch eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, so ist - erforderlichenfalls unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Anspruchs - einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (BVerfGE 93, 1 ff). Andererseits müssen die Gerichte unter Umständen wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit Rechtsfragen nicht vertiefend behandeln und ihre Entscheidung maßgeblich auf der Grundlage einer Interessenabwägung treffen können (BVerfG NJW 1997, 479, 480; NVwZ RR 2001, 694 bis 695).

In Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich, dass das SG den Erlass der begehrten einstweiligen Regelung zu Recht abgelehnt hat.

Zumindest ein Anordnungsanspruch (2) ist nicht glaubhaft gemacht; die Zweifel, die hinsichtlich des Anordnungsgrundes (1.) bestehen, können damit letztlich dahin stehen.

Zu 1.

Eine Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 setzt voraus, dass eine vorläufige Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum einstweiligen Rechtsschutz im sozialgerichtlichen Verfahren (vgl. BVerfGE 79, 69; 46, 166) wurde ganz überwiegend gefordert, dass dem Antragsteller schwere irreparable und unzumutbare Nachteile drohen (vgl. nur LSG NRW vom 24.06.1997 - L 11 Ska 20/97 - m.w.N sowie die Nachweise bei Frehse in Schnapp/Wigge, Handbuch für das Vertragsarztrecht, 1. Auflage, 2002, § 21 Rdn. 68 ff). Soweit damit hinsichtlich des Regelungsgrundes bislang sehr hohe Anforderungen gestellt worden sind, lässt sich dies unter Geltung des 6. SGG-ÄndG nicht mehr in vollem Umfang aufrechterhalten (Frehse a.a.O. Rdn 122). Voraussetzung ist nunmehr "lediglich", dass ein wesentlicher Nachteil abgewandt werden soll. Die Formulierung in § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG entspricht im Wesentlichen § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Auch dort wird ein Regelungsgrund dann angenommen, wenn es aus besonderen Gründen unzumutbar erscheint, den Antragsteller zur Durchsetzung seines Anspruchs auf das Hauptsacheverfahren zu verweisen.

Es bestehen nicht unerhebliche Zweifel, ob diese Voraussetzungen vorliegend erfüllt sind. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, ihr ehemaliger Arbeitgeber sei bei zeitnaher Entscheidung über den GdB bereit, sie wieder einzustellen, versteht der Senat dahin, dass die Beschwerdeführerin damit eine positive Entscheidung i.S. der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft meint und dass eine bindende Zusage des Arbeitgebers vorliegt. Zweifel bestehen aber zumindest insoweit, dass eine bindende Zusage des Arbeitgebers darüber vorliegt, dass die Klägerin auch bei lediglich vorläufiger, jederzeit wieder entfallender Regelung ihres Behindertenstatus wieder eingestellt werden würde. Es widerspricht der Lebenserfahrung, dass sich ein Arbeitgeber auf derart ungesicherter Basis auf das nicht unerhebliche Risiko der Neubegründung eines Arbeitsverhältnisses einlässt. Dies gilt umso mehr, als der Arbeitgeber der Klägerin durch sein vorangegangenes Verhalten, nämlich der Kündigung des Arbeitsverhältnisses, aufgezeigt hat, dass kein Interesse an der Beibehaltung des Arbeitsverhältnisses auf ungesicherter Grundlage - nämlich schwebendes Verfahren nach dem SGB IX mit ungewissem Ergebnis - besteht.

Diese Zweifel können jedoch dahinstehen; denn jedenfalls steht der Klägerin kein Anordnungsanspruch zur Seite.

Zu 2. Nach derzeitiger Sach- und Rechtslage hat die Beschwerdeführerin keinen Anspruch auf Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft. Der Senat nimmt in entsprechender Anwendung des § 153 Abs. 2 SGG auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug und führt ergänzend aus:

Es besteht zurzeit kein Anhaltspunkt dafür, dass die Klägerin einen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40 hat.

Nach Aktenlage besteht bei ihr ein als "seelische Störungen" bezeichnetes Leiden. Die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)" - früher " ... nach dem Schwerbehindertengesetz" - sehen in Nummer 26.3 für derartige Gesundheitsstörungen unter der Überschrift "Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen" einen GdB-Rahmen von 0 bis 100 vor und unterscheiden zwischen leichteren psychovegetativen oder psychischen Störungen (GdB 0 -20), stärker behindernden Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen), für die ein GdB von 30 bis 40 vorgegeben wird, sowie schweren Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten (GdB 50 - 70) bzw. mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten (GdB 80 -100).

Ungeachtet des Umstandes, dass zur genauen Differenzierung zwischen den einzelnen o.a. Schweregraden einer psychischen Störung in der Regel eine fachärztliche Untersuchung erforderlich ist und diese nicht durch Befundberichte o.ä. ersetzt werden kann, belegen auch die Befund- bzw. Behandlungsberichte entgegen der Annahme der Klägerin nicht, dass ihren psychischen Störungen ein höherer GdB als 30 zuzumessen ist. Eine schwere psychische Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsstörungen, die erst einen GdB von 50 bedingen kann, ist diesen nämlich gerade nicht zu entnehmen. So führt z.B. Dr. T ein "chronisch depressives Erschöpfungssyndrom als burn-out bei chronischer familiärer und Belastungssituation und mangelnder Abgrenzungsfähigkeit" an und beschreibt damit eben keine schwere psychische Störung. Gleiches gilt hinsichtlich der Bescheinigung des Diplom-Psychologen H, der lediglich "einen reaktiven Zustand subjektiven Leidens und emotionaler Beeinträchtigung auf erlittene schwer körperliche Erkrankungen", der die soziale Funktion und Leistungen der Klägerin behindere, angibt. Auch der Umstand, dass sich die Klägerin in psychotherapeutischer Behandlung befindet, belegt lediglich, dass von einer behandlungsbedürftigen Erkrankung auszugehen ist, er gibt aber keinen Aufschluss auf den für die Bestimmung des GdB entscheidenden Schweregrad der Erkrankung.

Wesentliche Auswirkungen anderer Erkrankungen, die das Ausmaß der durch die psychische Störung hervorgerufenen Beeinträchtigung erhöhen könnten, sind nicht ersichtlich. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der von dem Beklagten im Bescheid vom 02.12.2003 angenommenen "Funktionseinschränkungen großer und kleiner Gelenke bei Kollagenose, Pericardbeteiligung". U.a. ergibt sich nämlich bereits aus dem Bericht des Prof. Dr. M, Chefarzt der Klinik für Rheumatologie des Klinikums N, vom 27.01.2004, dass die Gelenke der Klägerin frei sind und keine Bewegungseinschränkungen bestehen und dass auch "kardiologischerseits ebenfalls Normalbefunde" erhoben werden konnten.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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