L 14 RJ 32/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 2 RJ 258/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 14 RJ 32/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 13. November 2003 und der Bescheid der Beklagten vom 31. Juli 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. April 2002 dahingehend abgeändert, dass dem Kläger befristete Renten wegen Erwerbsunfähigkeit vom 21. Juni 2001 bis 31. Mai 2004 und 1. Juni 2004 bis 31. Mai 2006 zu zahlen sind. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen und die Klage gegen die genannten Bescheide abgewiesen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig zwischen den Beteiligten ist ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, zu deren Zahlung das Sozialgericht Augsburg die Beklagte verurteilt hat.

Der 1964 geborene Kläger, ein italienischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Deutschland, ist am 08.09.1980 in das Erwerbsleben, und zwar in der BRD, eingetreten. Eine Ausbildung zum Maler (1980/81) hat er abgebrochen. In der Folgezeit übte er - unterbrochen durch Zeiten der Arbeitslosigkeit - mehrere Hilfstätigkeiten aus, unter anderem als Kunststoffverarbeiter, Bauarbeiter und zuletzt als Glasbearbeiter.

Bereits im Alter von 14 Jahren erlitt er eine Netzhautablösung am rechten Auge mit einer starken Sehminderung, wobei sich der Visus in den folgenden Jahren auf 0,08 reduzierte. Während seiner beruflichen Tätigkeit in der Farbglashütte GmbH Friedrich trat im Jahre 1995 ein plötzlicher Sehverlust am linken Auge wegen inoperabler Netzhautablösung ein, so dass eine hochgradige Sehbehinderung beidseits bestand (Visus links 0, nur Licht wahrnehmbar. Visus rechts 1/10). Laut Gutachten des Dr.L. (MDK Bayern) vom 20.06.1995 konnte der Kläger mit dem rechten Auge nur Überschriften der Zeitung, nicht jedoch das Kleingedruckte lesen, und es bestanden eine Retinopathie (Netzhauterkrankung) mit tiefer Plombenimpression und ein Katarakt (Linsentrübung, oft "grauer Star" genannt) mit Netzhautablösung; die Einleitung berufsfördernder Maßnahmen sowie die Suche eines behindertengerechten Arbeitsplatzes über das Arbeitsamt wurden empfohlen. Bei Arbeitsunfähigkeit seit 23.01.1995 bezog der Kläger ab 06.03.1995 Krankengeld und ab 02.07.1996 Arbeitslosengeld.

Ein Antrag des Klägers vom 12.07.1995 auf medizinische Leistungen zur Rehabilitation wurde mit Bescheid der Beklagten vom 31.08.1995 abgelehnt, weil es für das vorliegende Leiden keinerlei Möglichkeiten einer medizinischen Reha-Leistung gebe. Nach Ansicht des Ärztlichen Dienstes sollten berufliche Rehamaßnahmen eingeleitet werden. Deshalb würden die Antragsunterlagen an die zuständige Fachabteilung des Hauses abgegeben.

Nach Einholung einer Arbeitgeberauskunft nahm der Prüfarzt der Beklagten am 23.11.1995 dahingehend Stellung, dass der Kläger als Glasarbeiter unter vollschichtig einsetzbar sei, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt jedoch leichte und mittelschwere Arbeiten in geschlossenen Räumen, ohne besonderen Zeitdruck (z.B. Akkord, Fließband), ohne inhalative Reizstoffe/Staub und ohne besondere Anforderungen an das Sehvermögen vollschichtig verrichten könne; zu vermeiden seien Tätigkeiten mit Absturzgefahr, an ungeschützt laufenden Maschinen und mit erhöhter Eigen- und Fremdgefährdung. Berufsfördernde Leistungen seien erforderlich und voraussichtlich erfolgreich.

Mit Schreiben vom 29.11.1995 sandte die Beklagte dem Arbeitsamt K. Unterlagen hinsichtlich berufsfördernder Maßnahmen zurück mit der Bemerkung, dass sie für die berufliche Rehabilitation nicht zuständig sei. Auf Anfrage des Klägers bei der Beklagten vom 15.02.1996 erfolgte erneut am 26.02.1996 eine "Abgabe".

Im Jahre 1997 traten beim Kläger plötzlich starke Augenschmerzen links wegen Augendruckerhöhung auf und fand im Zentralklinikum Augsburg die Operation eines Glaukoms (sogenannter grüner Star) statt.

Vom 16.09.1998 bis 21.03.2000 absolvierte er auf Kosten des Arbeitsamtes K. eine blindentechnische Grundausbildung und nahm vom 22.03.2000 bis 20.03.2001 an einer weiteren beruflichen Maßnahme (Telekommunikationsoperateur/Telefonist) teil, die er mit der Prüfung im Ausbildungsberuf "Sehbehinderter Telefonist" am 20.03.2001 erfolgreich abschloss. Während der beruflichen Rehabilitation und noch bis zum 20.06.2001 bezog er Übergangsgeld bzw. Anschlussübergangsgeld.

Den am 07.06.1999 gestellten Rentenantrag des Klägers wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. Berufsunfähigkeit stellte die Beklagte nach einer Stellungnahme ihres Ärztlichen Dienstes vom 07.07. 1999 (leichte Arbeiten in einer Werkstatt für Behinderte vollschichtig und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter halbschichtig) zunächst wegen der beruflichen Rehabilitationsmaßnahmen zurück und lehnte ihn dann mit streitgegenständlichem Bescheid vom 31.07.2001 ab. Nur für die Zeit vom 07.06.1999 (Rentenantrag) bis zum 21.03.2001 (Abschluss der Rehabilitationsmaßnahme) liege Erwerbsunfähigkeit vor, und für diesen Zeitraum sei eine Rente nicht zu leisten. Anschließend bestehe Erwerbsfähigkeit. Zugrunde lag unter anderem eine neue Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes, dass der Kläger in dem erlernten Beruf eines Telefonisten vollschichtig tätig sein könne. Vorgelegen hat damals bereits die Auskunft des Arbeitsamts K. vom 21.06.2001, dass die Aussicht einer Vermittlung in eine Tätigkeit als Telefonist für den Kläger nach dortiger Einschätzung eher gering sei. In der Vergangenheit seien nur äußerst selten entsprechende Stellenangebote gemeldet worden. Aufgrund der Schwerbehinderteneigenschaft (Bescheid des AVF Augsburg vom 01.10.1999 mit einem GdB von 100 sowie den Merkzeichen B, G, H und RF) und den damit verbundenen gesundheitlichen Einschränkungen sei eine Vermittlung in Arbeit äußerst erschwert.

Gegen den Bescheid vom 31.07.2001 erhob der Kläger Widerspruch, weil er zu 100 % schwerbehindert sei und an ständigen Augenentzündungen, ständigem Kopfschmerz und an Magenbeschwerden leide. Die Widerspruchsstelle der Beklagte holte einen Befundbericht des Augenarztes Dr.R. vom 16.11.2001 ein, der auf eine Amaurose des linken Auges (Visusminderung auf 0, nur Wahrnehmung von Licht) und eine hochgradige Sehminderung rechts (Visusminderung auf 0,1) sowie chronisch-rezidivierende Schmerzzustände links infolge Glaukoms hinwies. Nach Beiziehung der Reha-Akten des Arbeitsamts K. ließ die Widerspruchsstelle das augenärztliche Gutachten der Dr.S. vom 21.02.2002 erstellen, die zu dem Ergebnis kam, der Kläger könne nach seiner beruflichen Ausbildung vollschichtig an einem Blindenarbeitsplatz als Telefonist arbeiten; Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts hingegen könne er nicht mehr verrichten.

Aufgrund dessen wurde der Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 02.04.2002 zurückgewiesen.

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Augsburg zog dieses einen Krankheitslistenauszug der AOK K. vom 18.10.2002 bei; hieraus ergaben sich Behandlungen wegen Gastritis, wegen Cephalgie (nur einmal vom 16. bis 19.02. 1999), wegen Bronchitis und wiederholt wegen Glaukoms bzw. Affektionen des Auges. Als behandelnde Ärzte hatte der Kläger neben dem Augenarzt Dr.R. allein den Allgemein-Mediziner Dr.R. angegeben, der in seinem Befundbericht vom Oktober 2002 bei den vom Kläger angegebenen Magenbeschwerden und Husten eine Gastritis und eine Raucher-Bronchitis diagnostizierte. Im Befundbericht des Dr.R. vom 24.10.2002 wiederholte dieser seine früheren Angaben.

Auf Anfrage des Gerichts teilte der Kläger mit, dass er zum Umschulungsort in Würzburg teilweise mit einem von der Ehefrau gesteuerten Pkw gelangt sei, teilweise auch per Eisenbahn, wobei dann die Ehefrau als Begleitperson mitgefahren sei oder ein Anschluss an eine Gruppe bestanden hätte. Ganz allein auf sich gestellt hätte er die Fahrt nicht bewältigen können. In den letzten zwei Jahren habe er sich ungefähr bei dreißig Stellen beworben, wobei er aber durchwegs Absagen erhalten habe. Zum Nachweis legte er die Schreiben der Stadt K. , des Klinikums G. und der Bezirksfinanzdirektion A. vor. Auch das Arbeitsamt habe ihm bislang trotz eines Integrationshelfers keine behindertengerechte Tätigkeit anbieten können.

In der berufskundlichen Stellungnahme vom 19.09.2003 führte das Landesarbeitsamt Bayern aus, eine Erwerbstätigkeit von Blinden finde lediglich in einem schmalen Segment der Arbeitswelt statt. Ein großer Teil der erwerbstätigen Blinden sei nur in drei Berufsgruppen beschäftigt (Telefonist, Stenotypist/Bürohilfskräfte, Medizinischer Bademeister/Masseur). Die Verengung der Erwerbstätigkeit auf ein schmales Marktsegment berge auf mittlere Frist ein besonderes Beschäftigungsrisiko. Es bestünden Hinweise darauf, dass der organisatiorisch-technische Wandel im Bereich von Unternehmen, die Blinde beschäftigten, Beschäftigungsmöglichkeiten für solche Arbeitnehmer zukünftig reduzieren werde. Es läge nicht hinreichend genügend Material vor bzw. die gängigen Statistiken seien nicht zu tief gegliedert, dass hinsichtlich des Stellenmarkts speziell für Blinde Auskunft gegeben werden könne. Aufgrund des vorhandenen Zahlenmaterials könne mitgeteilt werden, dass von den im August 2003 bei den Bayerischen Arbeitsämtern gemeldeten 107 offenen Stellen für Telefonisten 85 Stellen auch für Schwerbehinderte angeboten worden seien. Von den bundesweit gemeldeten 1054 offenen Stellen hätten 860 auch Schwerbehinderten zur Vermittlung zur Verfügung gestanden.

Nur für zwei Schwerbehinderte seien im August 2003 zwei Vermittlungsaufträge für die zu besetzende Stelle eines Telefonisten erteilt worden. Im Bundesgebiet seien es 40 Stellenangebote gewesen, bei der die Arbeitgeber die Besetzung mit ausschließlich einem Schwerbehinderten wünschten.

Arbeitsplätze für Sehbehinderte und Blinde müssten bei Einstellungsbereitschaft des Arbeitgebers erst behindertengerecht ausgestattet werden. Eine blinden-/sehbehindertenspezifische Ausstattung eines Telefonistenarbeitsplatzes sei nicht betriebsüblich. Nach § 33 Abs.8 Nr.5 SGB IX würden Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben wie z.B. kostentechnische Arbeitshilfen, die wegen Art oder Schwere der Behinderung zur Berufsausübung erforderlich seien, erbracht.

Die Beklagte sah es mit dieser Stellungnahme als nachgewiesen an, dass im Gebiet der Bundesrepublik ein offener Arbeitsmarkt vorliege. Die Vermittlung einer offenen Stelle liege ausschließlich und allein im Verantwortungsbereich der Bundesanstalt für Arbeit. Im Falle der Bereitschaft eines Arbeitgebers zur Einstellung eines Schwerbehinderten auf einer bei ihm offenen Stelle sei es dann Sache des zuständigen Leistungsträgers, diese Arbeitsstelle entsprechend der spezifischen Behinderung des einzustellenden Schwerbehinderten mit den entsprechenden technischen Arbeitshilfen auszustatten. Bei dieser Sachlage sei ein Rentenanspruch des Klägers ausgeschlossen.

Der Kläger hingegen vertrat die Ansicht, von einer erfolgreichen Ausbildung oder Umschulung im Sinne des Gesetzes sei wohl erst dann auszugehen, wenn ein entsprechender Arbeitsplatz vermittelt werden könne. Die nach der Stellungnahme des Landesarbeitsamts Bayern noch 85 offenen Stellen für Telefonisten als auch für Schwerbehinderte gäben zur Verwunderung Anlass, könnten aber jedenfalls offensichtlich nicht auf den Wohnort des Klägers und den näheren Umkreis bezogen werden, der im Rahmen der Zumutbarkeitskriterien der Arbeitslosenverwaltung für den Kläger noch erreichbar sei. Zudem sei der Kläger verheiratet und müsse auch auf die Belange der Ehefrau Rücksicht nehmen. Darüber hinaus werde bezweifelt, ob von einem Blinden ohne weiteres ein Umzug verlangt werden könne. Am langjährigen Wohnort könne sich ein Blinder zurechtfinden, an einem neuen Wohnort könnten hier aber größte Schwierigkeiten auftreten.

Das Sozialgericht hob mit Urteil vom 13.11.2003 den Bescheid vom 31.07.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.04.2002 auf und verurteilte die Beklagte, dem Kläger bei einem Versicherungsfall im Mai 1999 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Hierbei ging es davon aus, dass die Blindheit des Klägers eine schwere spezifische Leistungsbehinderung darstelle, die die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit erforderlich mache. Die Beklagte habe den Kläger auf die Tätigkeit eines sehbehinderten Telefonisten verwiesen. Eine solche Tätigkeit sei dem Kläger aufgrund der durch das Arbeitsamt finanzierten und erfolgreich durchgeführten Umschulungsmaßnahme sowohl objektiv als auch subjektiv zumutbar. Erforderlich sei aber darüber hinaus, dass das Vorhandensein für eine Tätigkeit als sehbehinderter Telefonist auf dem Arbeitsmarkt positiv festgestellt werde, d.h. die auf dem Arbeitsmarkt vorhandenen Erwerbsmöglichkeiten, an denen die Erwerbsfähigkeit zu messen sei, müssten konkret nachgewiesen werden. Die objektive Feststellungslast treffe die Beklagte, die sich auf das Vorhandensein einer zumutbaren Verweisungstätigkeit berufe. Die Zahl der vorhandenen Stellen für sehbehinderte Telefonisten sei trotz der eingeholten Stellungnahme des Landesarbeitsamts Bayern nicht aufklärbar, denn die Statistiken der Bundesanstalt für Arbeit differenzierten nicht nach Telefonistenstellen für Sehbehinderte und nicht Sehbehinderte. Dass ein Großteil der Stellen auch für schwerbehinderte Personen angeboten werde, reiche nicht aus, denn der Kreis der Schwerbehinderten sei nicht deckungsgleich mit dem Kreis der Blinden.

Trotz der vollschichtigen Einsatzfähigkeit des Klägers sei der Arbeitsmarkt gleichwohl für ihn ausnahmsweise als verschlossen anzusehen, denn er könne zwar eine Tätigkeit als sehbehinderter Telefonist in Vollzeit ausüben, aber nicht unter betriebsüblichen Bedingungen. Zur Ausübung der Telefonistentätigkeit benötige der Kläger eine blindenspezifische Ausstattung der Telefonanlage am jeweiligen Arbeitsplatz, und eine solche Arbeitsplatzausstattung sei nicht betriebsüblich. Damit liege ein von der Rechtsprechung entwickelter sogenannter Seltenheitsfall vor (BSG SozR 2200 § 1246 RVO Nr.137). Dem Kläger stehe daher nicht nur eine Rente wegen Berufsunfähigkeit, sondern eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bei einem angenommenen Versicherungsfall im Mai 1999 dem Grunde nach zu.

Es bestehe lediglich ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit, weil der Anspruch von der jeweiligen Arbeitsmarktlage abhängig sei. Demnach beginne die Rente grundsätzlich am 01.12.1999, weil die Blindheit des Klägers laut Befundbericht des Dr.R. vom 24.10.2002 seit Mai 1999 anzunehmen sei, wobei jedoch der Rentenanspruch bis zur Höhe des gezahlten Übergangsgeldes als erfüllt gelte.

Mit dem Rechtsmittel der Berufung bringt die Beklagte vor, das Sozialgericht habe übersehen, dass der Kläger nicht den Beruf "Telefonist", sondern den Beruf "sehbehinderter Telefonist" erlernt habe. Nur aufgrund des völlig verkehrten Ansatzpunktes des Sozialgerichts sei es erklärbar, das die Kammer die für den Arbeitsplatz eines sehbehinderten Telefonisten selbstverständliche behindertengerechte Zusatzausstattung als betriebsunüblich angesehen und deshalb zu Gunsten des Klägers einen sogenannten Seltenheitsfall im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts angenommen habe. Aufgrund des einmal eingeschlagenen Irrwegs habe das Sozialgericht die einzige und theoretische Möglichkeit der Begründung eines Rentenanspruchs des Klägers übersehen und ungeprüft gelassen: Lediglich in dem Fall, dass es für den Ausbildungsberuf "sehbehinderter Telefonist" keine Arbeitsplätze im Bundesgebiet gebe, der Kläger mithin also für einen gar nicht mehr existenten Beruf ausgebildet werde, ließe sich ein Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung begründen. Diese theoretische Möglichkeit dürfte indessen aus Sicht der Beklagten wohl auszuschließen sein. Zur Sicherheit werde angeregt, bei des Bundesagentur für Arbeit eine Auskunft über die derzeit im Bundesgebiet von sehbehinderten Telefonisten besetzten Arbeitsplätze einzuholen.

Der Senat hat die Versichertenakte der Beklagten beigezogen, weiterhin Zahlenmaterial über die Beschäftigung Blinder, die der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. im Internet veröffentlicht hatte. Nach diesen Unterlagen sind ca. 28 % der Blinden im erwerbsfähigen Alter auch erwerbstätig, also bundesweit etwa 10.000 Personen. 29,8 % hiervon sind im Bereich "Telefonisten und sonstige Berufe in der Telekommunikation" tätig, so dass also ca. 2.980 blindengerecht eingerichtete Arbeitsplätze im Bereich der BRD bestehen müssen. Nach den vom Berufsförderungswerk Düren im Internet veröffentlichten Zahlen und einer dann eingeholten Auskunft vom 12.02.2004 würden dort als Telefonisten ausgebildete Blinde vorwiegend in den Öffentlichen Dienst vermittelt und fänden die meisten Rehabilitanden bereits innerhalb eines Jahres einen Arbeitsplatz (Erfolgsquote des "internen Vermittlungsdienstes" von ca. 80 Prozent). Zur Einrichtung eines blindengerechten Arbeitsplatzes sei eine spezielle Anlage, die meistens von Siemens gebaut werde (und auf der der Kläger auch eingeschult wurde), notwendig. Das Gerät koste ca. 20.000,- DM.

Auf Anfrage des Senats zu dem veröffentlichen Zahlenmaterial antwortete der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. mit Schreiben vom 12.05.2004, dass die statistischen Zahlen auf Angaben verschiedener Bundesländer und Landesteile aus dem Frühjahr 1996 sowie auf einer Infas-Studie von 1995 über die berufliche Situation Blinder und Sehbehinderter in Nordrhein-Westfalen basierten. Das Zahlenmaterial sei also schon relativ alt. Durch das Statistische Bundesamt würden spezielle Zahlen zur Blindheit und der Berufstätigkeit von blinden Menschen leider nicht erfasst. Der Verein habe sich vor kurzem um die neuesten vorhandenen Statistiken zur Zahl der Blinden bemüht. Danach seien rund 34.800 Personen im erwerbsfähigen Alter und hiervon ein knappes Drittel erwerbstätig, also rund 11.600 Personen. Die Zahl der Telefonisten und sonstigen Berufe in der Telekommunikation habe nach den Schätzungen des Vereins gegenüber den Zahlen von 1996 noch zugenommen, so dass heute rund 33,4 % der erwerbstätigen Blinden in diesem Bereich an blindengerechten Arbeitsplätzen arbeiteten, also rund 3.874 Personen. Die genannten Zahlen beruhten zum großen Teil auf Schätzungen und Hochrechnungen, die absolut genommen sicherlich nicht stimmten, in der Tendenz aber die Wirklichkeit abbildeten.

Auf Befragen in der mündlichen Verhandlung erklärt der Kläger, den in den Akten genannten Integrationshelfer habe er nur bis zum Jahre 2002 gehabt. Dieser sei insgesamt nur einmal bei ihm erschienen und habe ihm bei Bewerbungsschreiben geholfen. Sonstige Hilfestellungen wie z.B. das Helfen beim Zurücklegen von Wegen sei nicht erfolgt. Für den Fall, dass ein konkreter Arbeitsplatz vermittelt werde, habe er keine Zusicherung seitens der Beklagten oder anderer Behörden erhalten, dass ihm geeignete Hilfe für die Zurücklegung des Weges zwischen Wohnung und Arbeitsstätte gewährt werde. Er denke da an einen mobilen Dienst oder eine Begleitperson für ca. zwei Monate, bis ihm der Weg vertraut sei und er ihn selbst zurücklegen könne.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts vom 13.11.2003 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 13.07.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.04.2002 abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise eine Berentung auf Zeit auszusprechen.

Dem Senat lagen zur Entscheidung die Streitakten beider Rechtszüge vor. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird hierauf und auf die zu Beweiszwecken beigezogene Versichertenakte der Beklagten (vier Teilbände) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig (§§ 143 ff., 151 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), in der Hauptsache aber weitgehend unbegründet.

Dem Kläger steht Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu, aber nicht als unbefristete Rente, sondern in der Form zweier befristeten Renten, wobei ein anderer als der vom Sozialgericht angenommener Leistungsfall zugrunde zu legen war. Auszugehen war hierbei vom Urteilsspruch (Tenor) des Sozialgerichts, laut dem die Beklagte ohne zeitliche Einschränkung zur Gewährung einer Rente "bei einem Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit ab Mai 1999" verurteilt worden ist. Der "Vorbehalt" im Tenor, Verurteilung zu Rentenleistungen entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen, ist zu vage. In den Entscheidungsgründen wurde die Floskel dahingehend erklärt, dass es sich um eine befristete Rente, beginnend grundsätzlich ab 01.12.1999, handele, wobei der ab 01.12.1999 bestehende Rentenanspruch bis zur Höhe des gezahlten Übergangsgeldes als erfüllt gelte, damit nach dem Tatbestand des Urteils wohl erst ab 21.03.2001, weil das dem Kläger nach Abschluss der Maßnahme bewilligte Anschluss-Übergangsgeld nicht erwähnt worden ist. Insoweit geht es aber nicht nur um selbstverständliche, zwangläufig aus dem Gesetz folgende Modalitäten am Rande (eine unbefristete Rente beginnt entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen mit dem Monatsersten nach Eintritt des Leistungsfalls), sondern um eine wesentliche inhaltliche Einschränkung des Urteilstenors. Eine solche Berichtigung des Tenors in den Urteilsgründen ist unzulässig und unbeachtlich.

Nachdem der Kläger selbst keine Berufung oder Anschlussberufung eingelegt hatte, musste der Senat von der erstinstanzlichen Verurteilung zu unbefristeten Rentenleistungen (frühestens) ab 01.06.1999 ausgehen, wobei sich in diesem Zeitraum ein Zahlungsanspruch erst ab 21.06.2001 ergab. Mit Beginn einer nach anfänglicher Planung erfolgsversprechenden Rehabilitationsmaßnahme besteht "während dieser Leistungen neben dem Bezug von Übergangsgeld", damit bis zum 20.03.2001, kein Rentenanspruch (§ 116 Abs.1 Satz 2 SGB VI a.F.); dies gilt auch, wenn Übergangsgeld, Verletztengeld oder Versorgungskrankengeld für einen sonstigen Zeitraum zu zahlen ist (§ 116 Abs.1 Satz 3 SGB VI a.F.). Aus der Aufzählung mehrerer Leistungen seitens verschiedener Leistungsträger in § 116 Abs.1 Satz 3 SGB VI a.F. entnimmt der Senat, dass die angeordnete Rechtsfolge auch für die Zeit des vom Arbeitsamt K. bewilligten Anschlussübergangsgeldes (21.03. bis 20.06.2001) gilt. Damit konnte unbeschadet des Zeitpunkts des Leistungsfalls der Erwerbsunfähigkeit, laut Sozialgericht im Mai 1999, laut Bescheid der Beklagten der 07.06.1999, nach Ansicht des Senats der 23.01.1995, zu Rentenleistungen erst ab 21.06.2001 verurteilt werden, wobei sich nach Ablauf einer auf drei Jahre befristeten Rente während des Rechtsstreits eine weitere befristete Rente anschließen musste (§ 102 Abs.1, Abs.2 Satz 1 bis Satz 3 SGB VI).

Im Einzelnen ergibt sich Folgendes: Zwischen den Beteiligten besteht keine Meinungsverschiedenheit, dass zwischen dem 07.06. 1999 und dem 20.03.2001 Erwerbsunfähigkeit des Klägers vorlag. Der Senat ist derselben Ansicht, weil der Kläger wegen Krankheit oder/und Behinderung - nicht nur vorübergehend - außerstande war, einer Erwerbstätigkeit irgendwelcher Art nachzugehen (§ 44 Abs.2 SGB VI a.F.). Entgegen der Ansicht der Beklagten bestand jedoch auch vor und nach dem genannten Zeitraum Erwerbsunfähigkeit. Warum die Beklagte den Leistungsfall auf den 07.06.1999 (Rentenantrag) festgelegt hat, ist nicht nachvollziehbar. Der Schwerbehindertenbescheid vom 10.10.1999 oder ein Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderung kann nicht maßgebend gewesen sein, denn regelmäßig wird vom Amt für Versorgung und Familie der Grad der Behinderung nicht rückwirkend für mehrere Jahre festgestellt. Dr.S. hat sich in ihrem Gutachten zum Zeitpunkt des Eintritts rentenrelevanter Einschränkungen nicht geäußert. Allein aufgrund der Tatsache, dass das Arbeitsamt K. vom 16.09.1998 bis 21.03.2000 eine blindentechnische Grundausbildung durchgeführt hatte, war eine erst am 07.06.1999 eingetretene Erwerbsunfähigkeit unwahrscheinlich.

Dies ist auch der Auffassung des Sozialgerichts von einem im Mai 1999 eingetretenen Leistungsfall entgegenzuhalten. Das Sozialgericht hatte sich hierbei auf den von ihm eingeholten Befundbericht des Augenarztes Dr.R. vom 24.10.2002 gestützt, der bei den Befunden (Visus = Sehschärfe links: Lichtschein. Visus rechts 0,1, Gläser besser nicht. Gesichtsfeldeinschränkung) konstatiert, aus augenärztlicher Sicht sei Blindheit im Sinne des Gesetzes anzunehmen, und die Blindheit bestehe seit Mai 1999. Dies kann jedoch schon deshalb nicht zutreffen, weil Dr.R. in seinem für die Beklagte erstellten Bericht vom 28.04.1999 als Befunde der letzten Untersuchung am 29.01.1999 festgestellt hatte: Visus rechts 0,08, Gläser bessern nicht. Visus links: Handbewegungen. Verdichtungen der Linse hinten mehr als vorne rechts, Traktionsfalten der Netzhaut, ausgedehnte Narbenfelder (Anmerkung: Ursache für Gesichtsfeldeinschränkung).

Tatsächlich lässt sich schon eine hochgradige Sehbehinderung für die Zeit ab Arbeitsunfähigkeit (23.01.1995) feststellen. Bereits damals waren mit dem linken Auge im Wesentlichen nur Hell/Dunkel unterscheidbar bzw. Handbewegungen wahrnehmbar. Hinsichtlich des von einer frischen Netzhautablösung betroffenen rechten Auges ergaben sich zunächst folgende Hinweise für eine massive Beeinträchtigung: Laut Arbeitgeber war die Tätigkeit des Klägers (Abschlagen von Glaszapfen, Prüfen auf Qualität, Einlegen in ein Kühlbad) nicht mehr möglich. Hierbei handelte es sich keineswegs um Arbeiten, die Feinmotorik, beidäugiges Sehen und punktgenaue Präzision erforderten. Der Arbeitgeber hatte in einer zweiten Auskunft vom 16.11.1995 bei Fragen zu den Anforderungen des Arbeitsplatzes des Klägers ein "angestrengtes Sehen (Feinarbeit)" verneint. Gleichwohl war der Kläger auch für die bisher geleisteten Arbeiten nicht mehr in der Lage. Laut Gutachten des MDK Bayerns vom 20.06.1995 konnte er mit dem rechten Auge nichts mehr außer Überschriften in Zeitungen lesen und war eine berufsfördernde Maßnahme (behindertengerechter Arbeitsplatz) angezeigt.

Es muss damals zusätzlich eine Gesichtsfeldeinschränkung bestanden haben, worauf der Kläger im Gutachten der Dr.S. hingewiesen hatte ("häufiges Anstoßen des Kopfes" durch das fehlende Gesichtsfeld im Jahre 1995). Im MDK- Gutachten wurde unter den Diagnosen unter anderem eine "tiefe Plombenimpression" im rechten Auge angeführt, und im Gutachten der Dr.S. eine wesentliche Gesichtsfeldeinschränkung beschrieben, wobei sich als Ursache u.a. der Befund am rechten Auge "in der Peripherie von 9 bis 3.oo Uhr über 12.oo Uhr Wall einer Plombe" ergab. Im Übrigen findet sich in den Akten noch der Hinweis auf eine Sehleistung von 10 % am rechten Auge im Jahre 1995.

Unter Auswertung aller Umstände ist bereits ab dem Jahre 1995 eine hochgradige Blindheit festzustellen. Was der Prüfarzt der Beklagten mit der Beurteilung des Leistungsvermögens des Klägers am 29.11.1995 mit "Fähigkeit zu vollschichtigen Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ohne besondere Anforderungen an das Sehvermögen" (und mit weiteren qualitativen Einschränkungen) gemeint haben könnte, ist letztlich nicht nachvollziehbar, im Übrigen auch unwesentlich. Dass eine hinreichende Zahl von Arbeitsplätzen, die bei dem Restsehvermögen des Klägers noch in Frage käme, wenn auch noch die Anforderungen "ohne inhalative Reizstoffe/Staub, ohne Gefährdung und ohne besonderen Zeitdruck (Akkord, Fließband)" berücksichtigt werden, ist nicht feststellbar. Auch Sortieren, Montieren und Verpacken setzen generell eine bessere Sehfähigkeit voraus, und seltene Arbeitsplätze für Tätigkeiten, die ungelernter Art sind oder eine An- lern -bzw. Einarbeitungszeit von höchstens drei Monaten voraussetzen, können über die Arbeitsverwaltung, die nur über Zahlen für Arbeitsplätze für Schwerbehinderte, aber nicht differenziert nach Sehbehinderten und Nicht-Sehbehinderten, verfügt, nicht ermittelt werden.

Die weitere Beurteilung des Prüfarztes der Beklagten vom 07.07.1999, der Kläger könne leichte Arbeiten in einer Werkstätte für Behinderte vollschichtig und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter halbschichtig verrichten, erscheint dem Senat realitätsbezogen; diese Beurteilung hätte bei Kenntnis aller Umstände, die damals nicht vorhanden waren, nur nicht auf die Zeit ab Rentenantrag vom 07.06.1999, sondern auf die Zeit ab Arbeitsunfähigkeit mit dem 23.01.1995 bezogen werden müssen. Der Kläger zählte bereits damals nicht zu den "Sehbehinderten", sondern zu den "hochgradig Sehbehinderten". Hierzu führen Schönberger/Mehrtens/Valentin in "Arbeitsunfall und Berufskrankheit", 5. Auflage, unter 6.6 (Auge - berufliche Rehabilitation) aus, dass zu den "Sehbehinderten" Personen zählen, die auf keinem Auge eine Sehleistung von mehr als 0,3 aufweisen. Diese könnten noch in einer Anzahl von Berufen (keine "Verkehrsberufe", keine Präzisions-, Akkord- und Fließbandarbeiten) beschäftigt sein. Eine Tätigkeit in einem handwerklichen Beruf sei nur im oberen Bereich der geschilderten Visusminderung, also im besseren Bereich, möglich; darüber sei nach individuellen Fähigkeiten und den Besonderheiten am Arbeitsplatz zu entscheiden. Der Arbeitsplatz bedürfe zur Erleichterung der Orientierung und aus Gründen der Arbeitssicherheit in der Regel einer besonderen Gestaltung. Nicht selten seien spezielle optische Sehhilfen, z.B. Fernsehlesegerät, erforderlich.

Bei einer "hochgradigen Sehbehinderung" (im allgemeinen Sehschärfe auf dem besseren Auge von nicht mehr als 1/20 oder beim Vorliegen von hinsichtlich des Schweregrads gleichzuachtenden anderen Störungen der Sehfunktion) müsse eine Umschulung mit blindentechnischen Hilfsmitteln erfolgen.

Dies ist beim Kläger bei einem Visus von links 0 und rechts 1/10 mit zusätzlicher Blendgefahr und zusätzlicher Einschränkung des Gesichtsfelds - nach Empfehlung des Medizinischen Dienstes der Krankenkasse und des Amtsärztlichen Dienstes des Arbeitsamts K. - auch erfolgt.

Vorliegend war in Bezug auf die streitige Rente weniger der Zeitpunkt des Leistungsfalls von Bedeutung, sondern dass der Kläger auch nach Abschluss der blindentechnischen Grundausbildung und der beruflichen Schulung mit dem 20.03.2001 noch nicht erwerbsfähig war. Er war nach dem Inhalt des Gutachtens der Dr.S. ab März 2001 in der Lage, den Beruf eines Telefonisten auszuüben. Der Senat schloss sich dieser Beurteilung an, weil die vom Kläger vorgetragenen weiteren Beschwerden wie Schmerzen des rechten Auges infolge Glaukoms und Kopfschmerzen einer Behandlung zugänglich sind und seine sämtlichen Gesundheitsstörungen laut Krankheitslistenauszug der AOK K. vom 18.10.2002 in den vorausgehenden letzten Jahren nur sehr kurze Zeiten der Arbeitsunfähigkeit verursacht haben.

Zumutbar ist stets die Ausübung einer Tätigkeit, für die der Versicherte durch Leistungen zur beruflichen Rehabilitation mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden ist (§ 43 Abs.2 Satz 3 SGB VI a.F.). Dies gilt jedoch nur unter zwei Vorbehalten, die beide den offenen bzw. verschlossenen Arbeitsmarkt betreffen. Zum einen muss, wenn der Versicherte keinen geeigneten Arbeitsplatz inne hat oder wenigstens konkret angeboten bekommen hat, eine hinreichende Zahl an offenen oder besetzten Arbeitsstellen auf dem Arbeitsmarkt vorhanden sein. Diese Voraussetzung ist erfüllt. Die Arbeitsverwaltung konnte hierzu, wie das Sozialgericht richtig erkannt hatte, nicht hinreichend Auskunft über die Zahl der offenen und besetzten Arbeitsplätze geben, weil sie die Zahl der besetzten Stellen nicht benennen konnte, sondern nur die Stellenangebote für Schwerbehinderte, und hier wiederum ohne Differenzierung nach Seh- und Nichtsehbehinderten. Im Übrigen waren die Aussagen des Arbeitsamts ohnehin mit Vorsicht zu behandeln, weil - wie sich im Rechtsstreit herausgestellt hat - die Mehrzahl der Arbeitsplätze für Telefonisten und Telekommunikationsoperatoren aus dem Bereich des Öffentlichen Dienstes stammt und daher in der Regel nicht über das Arbeitsamt angeboten wird. Das vom bundesweit vertretenen Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. veröffentlichte Zahlenmaterial und die schriftliche Auskunft über die Existenz von fast 3000 eingerichteten, offenen oder besetzten Stellen für blinde Telefonisten erschien dem Senat schlüssig. Das Zahlenmaterial ist breit und im Hinblick auf Leistungsempfänger, Altersstruktur, Verteilung nach Geschlechtern, beruflicher Situation, Verteilung nach elf Berufsgruppen für Blinde usw. aufgeschlüsselt und wurde unter amtlicher Mithilfe erstellt; mögen für die Jahre danach präzise Zahlen nicht genannt werden können, so hat der Blinden- und Sehbehindertenverband an Hand neuester Zahlen und im Übrigen aufgrund von Erkundigungen und Schätzungen die Zahl der blindengerechten Arbeitsplätze mit 3.874 angegeben. Mag diese Zahl nicht "absolut gesehen" zutreffen, so wurde dem Senat jedenfalls die Überzeugung vermittelt, dass sich der Arbeitsmarkt nach Erstellung der Infas-Studie (ehemals 2.980 Arbeitsplätze) nicht verengt hat. Bereits bei ca. 3.000 (offenen oder besetzten) Arbeitsplätzen kann nicht von einem verschlossenen Arbeitsmarkt gesprochen werden; das Bundessozialgericht hat dies einmal bei rund 200 Arbeitsplätzen im Gebiet der gesamten Bundesrepublik Deutschland und einmal bei mehr als 300 Arbeitsplätzen verneint (BSG vom 14.05.1996 - 4 RA 60/94 in BSGE 78, 207 = SozR 3-2600 § 43 Nr.13), ebenso bei 350 Arbeitsplätzen (BSG vom 18.07.1996 - 4 RA 71/94 und BSG vom 14.05.1996 - 4 RA 60/94 in SozR 3-2600 § 43 Nr.13). Der Kläger ist auf diese Stellen im gesamten Bereich der Bundesrepublik (im Prinzip) verweisbar, weil er vollschichtig erwerbstätig sein kann (Großer Senat des BSG vom 11.12.1969 - GS 4/69 und GS 2/68 - in BSGE 30, 167 und 30, 192. Großer Senat vom 10.12.1976 - GS 2/75, 3/75 und 3/76 in SozR 2200 § 1246 Nr.13).

Eine weitere Schranke für die Verweisbarkeit des Klägers bzw. die Zumutbarkeit der Ausübung des Umschulungsberufs setzt aber die fehlende "Wegefähigkeit", die zu Unrecht oft ungenau und einschränkend als "Gehfähigkeit" bezeichnet wird. Der Kläger- selbständig Fußwege zurückzulegen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Dies ergibt sich aus seinem Vorbringen im Rechtsstreit, augenscheinlich auch aus dem Schweregrad seiner Behinderung sowie aus einer Bescheinigung des behandelnden Augenarztes. Ist der Kläger einerseits auf geeigente Arbeitsplätze im gesamten Bundesgebiet bei Unbekanntheit der Arbeitswege und der konkreten Umstände, unter denen der Weg von der Wohnung zur künftigen Arbeitsstätte und zurück zurückzulegen sein wird, verweisbar, so muss auch allgemeinhin die Fähigkeit bestehen, in unbekannter Umgebung Wege zurückzulegen (vgl. BSG, a.a.O, das insoweit pauschale Maßstäbe aufgestellt hat). Die Benutzung zumutbarer Hilfsmittel (z.B. Krückstock bzw. vorliegend Blindenstock) ist zu berücksichtigen; unter solche Hilfsmittel fallen aber nicht Hilfen Dritter, z.B. der Ehefrau aufgrund familienrechtlicher Verpflichtung oder Dritter aus Gefälligkeit oder der Einsatz eigener Geldmittel, z.B. für eine Hilfsperson oder teure Hilfsmittel wie Mobildienst oder Taxi, die nicht wie z.B. beim Gebrauch eines bereits früher angeschafften und benutzen Pkws ohnehin vorhanden sind.

Das ausreichende Vermögen, Arbeitsplätze aufzusuchen, gehört zur Erwerbsfähigkeit (BSG vom 19.11.1997 - 5 RJ 16/97 in SozR 3-2600 § 44 Nr.10; BSG vom 13.07.1988 - 5/4 a RJ 57/87 und vom 21.02.1989 - 5 RJ 61/88 in SozR 2200 § 1247 Nrn.53 und 56). So stellt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts jede gesundheitliche Beeinträchtigung, die das Zurücklegen von Fußwegen von weniger als 500 m viermal am Arbeitstag und das Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel nicht zulässt, in der Regel eine schwere Leistungsbehinderung dar, die zu Verschlossenheit des Arbeitsmarktes führt; eine Ausnahme besteht dann, wenn der Versicherte bei möglichen und zumutbaren Wegebedingungen bereits einen Arbeitsplatz inne hat oder konkret angeboten bekommen hat. Anerkannt ist auch seit mindestens zwei Jahrzehnten im Schwerbehindertenrecht und im Rentenversicherungsrecht, dass es nicht auf die Art der Gesundheitsstörung ankommt; jede Krankheit und jede körperliche, seelische oder geistige Behinderung, die die "Wegefähigkeit" beeinträchtigen kann, sei es ein Asthma, ein Herzleiden oder fehlende örtliche Orientierungsfähigkeit z.B. wegen eines psychoorganischen Syndroms, kommen in Frage.

Eine Rentengewährung kann laut Rechtsprechung des Bundessozialgerichts die fehlende "Wegefähigkeit" nur dadurch ausgeschlossen werden, dass der Versicherungsträger diesbezüglich Leistungen zur beruflichen Rehabilitation verbindlich und ohne Bedingungen anbietet, also nicht nur in Aussicht stellt. Bei Blinden kommen nicht nur eine blindentechnische Grundausbildung und eine berufliche Ausbildung/Umschulung in Frage, sondern auch eine nachgehende Berufshilfe, auf deren besondere Beachtung unter anderem Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., hinweisen. In der Wahl der Mittel sieht das Gesetz keinen Ausschluss bestimmter Hilfen zu. Vorgesehen sind ausdrücklich Leistungen zur Förderung der Arbeitsaufnahme, zur Erlangung und zur weiteren Erhaltung eines Arbeitsplatzes. Zu denken ist vorliegend an die wohl kostengünstigste Möglichkeit, für bis zu drei Monate dem Kläger eine geeignete Begleitperson zu verschaffen (oder zuzusichern), damit - innerhalb zumutbarer Zeit - das selbständige Zurücklegen unbekannter Wege von der Wohnung zur Arbeitsstätte und zurück erlernt werden kann (eine solche Zeit wäre auch, falls hierdurch wider Erwarten eine erhebliche Belastung des Klägers eintreten sollte, entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur zumutbaren Einarbeitungszeit tragbar); aber auch anderweitige Maßnahmen kommen in Betracht.

Die Beklagte kann sich vorliegend nicht darauf berufen, dass sie unter Umständen nicht zuständiger Kostenträger sei und keine Zusicherung geben könne. Die Angelegenheit ist nicht in Bezug auf den Versicherungsträger zu beurteilen, nämlich ob diesem die Gewährung von Hilfen (bzw. eine dementsprechende Zusicherung) möglich oder nicht möglich ist und ob er ggf. eine auf der Hand liegende berufliche Hilfe bedacht oder als fernliegend außer Betracht gelassen hat. Maßgebend ist allein die Lage des Versicherten, der derzeit wegen Verschlossenheit des Arbeitsmarkts erwerbsunfähig ist, was lediglich bei Bereitstellung oder wenigstens Zusicherung geeigneter Hilfen (von irgendeiner Seite) nicht der Fall wäre.

Die Urteile des Bundessozialgerichts können insoweit nicht restriktiv dahingehend interpretiert werden, dass nur bei gesetzlicher Verpflichtung des Rentenversicherungsträgers zur Gewährung von beruflichen Maßnahmen eine Zusicherung dieses Trägers zum Ausschluss von Rentenleistungen vorliegen müsste. In der Rechtsprechung ging es zufälligerweise meistens um Kfz-Hilfe, die vom Rentenversicherungsträger selbst zu bewilligen bzw. zuzusichern war. Dies schließt es keinesfalls aus, dass die Gewährung bzw. Zusicherung geeigneter Hilfen nicht auch von anderen Leistungsträgern wie z.B. dem Arbeitsamt erfolgen könnte. Der Versicherte muss auch von solchen zumutbaren sicheren (künftigen) Hilfen Gebrauch machen, wie eben auch ein Gehbehinderter ggf. den von der Krankenkasse zur Verfügung gestellten Rollstuhl einzusetzen hat.

Die Beklagte kann, wenn sie selbst keine Leistungszuständigkeit sieht, eine solche "berufliche Nachsorge" anregen oder nicht; sie kann mit weiteren Schritten auch Erfolg haben oder nicht. Davon wird abhängen, ob der Kläger künftig erwerbsunfähig bleiben oder erwerbsfähig sein wird. Bei der vorliegenden Rentengewährung kommt es nicht darauf an, ob der Rentenversicherungsträger Pflichten verletzt hat oder Obliegenheiten nicht nachgekommen ist oder auch nur denkbare Möglichkeiten nicht wahrgenommen hat. Die Berentung stellt nicht eine Sanktion für den Versicherungsträger dar, sondern folgt allein aus der Tatsache, dass der Kläger wegen verschlossenen Arbeitsmarkts solange erwerbsunfähig ist, bis die "Wegefähigkeit" bei Erhalt von Hilfe wenigstens im Sinne der Zusicherung hergestellt worden ist.

Vorliegend ging der Senat von den Voraussetzungen einer Zeitrente aus, die wiederholt gewährt werden kann. Eine befristete Rente ist gemäß § 102 Abs.2 Satz 1 Nr.1 und Nr.2 SGB VI a.F. zu leisten, wenn entweder begründete Aussicht besteht, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit in absehbarer Zeit behoben sein kann, oder wenn der Anspruch auch von der jeweiligen Arbeitsmarktlage abhängig ist. Zumindest letzteres trifft zu. Zwar geht Niesel im Kasseler Kommentar (Rdz.10 zu § 102 SGB VI) davon aus, dass eine Dauerrente zu gewähren ist, wenn bei grundsätzlich vollschichtiger Einsatzfähigkeit der Arbeitsmarkt ausnahmweise verschlossen ist, weil kein Arbeitsplatz wegen eingeschränkter Gehfähigkeit erreicht werden kann; in diesem Fall soll die Erwerbsunfähigkeit ausschließlich auf dem Gesundheitszustand beruhen. Es ist aber zu berücksichtigen, dass durchaus die Möglichkeit besteht, dass dem Kläger örtlich begrenzt auf Wohnort und Umgebung ein Arbeitsplatz angeboten und vermittelt wird, weiterhin - in Bezug auf das gesamte Gebiet der Bundesrepublik Deutschland - noch die nötigen Hilfen für die Herstellung der Fähigkeit, Wege zu und von künftigen Arbeitsstellen zurückzulegen, bei (künftiger alsbaldiger) Innehabung oder bei konkretem Angebot eines Arbeitsplatzes gewährt werden können oder, solange der Kläger keinen Arbeitsplatz inne hat oder konkret angeboten bekommt, durch eine Zusicherung künftiger Hilfen für die Herstellung der Wegefähigkeit die Erwerbsfähigkeit hergestellt wird. Nach den Angaben des Berufsförderungswerkes Düren GmbH erscheinen die Vermittlungschancen für blinde Telefonisten durchaus günstig, und dem Kläger ist zumutbar, nicht nur von den beschränkten Arbeitsangeboten der Bundesagentur für Arbeit Gebrauch zu machen, sondern auch selbst Initiativen zu ergreifen. Ein Großteil der Arbeitsplätze für Sehbehinderte stammt aus dem Bereich des Öffentlichen Dienstes und wird nicht vom Arbeitsamt angeboten. (Nebenbei ergeht der Hinweis, dass Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., empfehlen, sich einem Blindenverein anzuschließen, weil der Betreffende auch bei fehlender Teilnahme am Vereinsleben Informationen erhalte, die anderweitig kaum zur Verfügung stünden).

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klage- und Berufungsverfahrens in voller Höhe zu tragen, auch wenn ihre Berufung zu einem kleinen Teil Erfolg hatte. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass der Kläger in erster Instanz die Gewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente allgemeinhin ohne Beschränkung auf eine unbefristete Rente beantragt hat und mit seinem Begehren weitgehend Erfolg hatte; in der zweiten Instanz wurde der wohl missglückte Urteilsspruch erster Instanz - beabsichtigt war laut der Urteilsbegründung lediglich eine befristete Rente - berichtigt und zugleich wegen Zeitablaufs den tatsächlichen Gegebenbeiten angepasst. Außerdem hat die Beklagte in zurechenbarer Weise Ursache für den Rechtsstreit dadurch gesetzt, dass sie sich im Renten- und Widerspruchsverfahren über die Erwerbsfähigkeit des Klägers und insbesondere die Verschlossenheit des Arbeitsmarkts nicht die notwendigen Gedanken gemacht und dem Kläger gegenüber dargelegt hat, vielmehr erst im Berufungsverfahren einen Teil der Problematik, zu dem sie vorweg selbst ermitteln hätte sollen, aufgriff in der Form einer Urteilsrüge, was zu ermitteln das Sozialgericht unterlassen habe.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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