S 11 AL 81/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 11 AL 81/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beklagte hat die Kosten des Klägers zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die Kosten einer in der Hauptsache erledigten Untätigkeitsklage.

Die Beklagte hob mit Bescheid vom 21.05.2004 die Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) an den Kläger (-00.00.0000) für die Zeit vom 27.02. bis 30.04.2004 auf und forderte einen Betrag 629,12 Euro von ihm zurück. Zur Begründung führte sie aus, der Kläger habe seit dem 27.02.2004 nur noch Anspruch auf Arbeitslosenhilfe (Alhi). Der Kläger legte hiergegen am 22.06.2004 Widerspruch ein mit der Begründung, er sei bereits seit längerer Zeit arbeitsunfähig; im Übrigen habe er das erhaltene Geld vollständig verbraucht. Nachdem die Beklagte mit Schreiben vom 10.08.2004 erneut darauf hingewiesen hatte, es gehe allein um die Differenz zwischen Alg und Alhi, erhob der Kläger mit Schreiben vom 08.09.2004 die "Einrede der Entreicherung" und führte aus, ihn treffe keinerlei Verschulden an der Überzahlung.

Am 00.00.0000 hat der Kläger Untätigkeitsklage erhoben. Mit Bescheid vom 03.11.2004 hat die Beklagte dem Widerspruch voll abgeholfen. Die Beteiligten haben daraufhin die Untätigkeitsklage übereinstimmend für erledigt erklärt.

Der Kläger verlangt Kostenerstattung mit der Begründung, der angefochtene Bescheid sei rechtswidrig gewesen und sein Widerspruch nicht binnen der gesetzlich vorgesehenen Frist beschieden worden.

Der Kläger beantragt,

der Beklagten die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen.

Die Beklagte beantragt,

den Kostenantrag zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, die ursprüngliche Widerspruchsbegründung sei völlig unzureichend gewesen und erst der weitere Schriftverkehr mit dem Klägerbevollmächtigten habe zur Abhilfe geführt. Im Übrigen sei ihre derzeitige besondere Arbeitsbelastung gerichtsbekannt.

II.

Gemäß § 193 Abs. 1 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheidet das Gericht auf Antrag und nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes über die Kostenerstattung, wenn sich das Verfahren anders als durch Urteil erledigt hat. Bei Erledigung einer Untätigkeitsklage im Sinne von § 88 SGG fallen die Kosten in der Regel der beklagten Seite zur Last, wenn der Kläger nach den ihm bekannten Umständen mit einer Bescheidung vor Klageerhebung rechnen durfte (Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl., § 193, Rn. 13c). Die beklagte Seite hat hingegen keine Kosten zu erstatten, wenn sie einen zureichenden Grund für die Untätigkeit hatte und diesen Grund dem Kläger mitgeteilt hat oder er ihm bekannt war.

Die am 00.00.0000 erhobene Untätigkeitsklage war zulässig, da der Kläger am 22.05.2004 Widerspruch erhoben hat und die in § 88 Abs. 2 SGG normierte Frist von 3 Monaten zur Bearbeitung eines Widerspruchs abgelaufen war.

Die Klage war auch begründet, denn der Kläger konnte mit einer Bescheiderteilung vor Klageerhebung rechnen. Da der angefochtene Bescheid allein aus rechtlichen Gründen aufzuheben war, schließen Mängel der Widerspruchsbegründung den Kostenerstattungsanspruch nicht aus.

Die Behörde ist im Widerspruchsverfahren vom Amts wegen dazu verpflichtet, den angefochtenen Bescheid unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten rechtlicher und tatsächlicher Art zu überprüfen (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., § 85, Rn. 4a). Eine Abhängigkeit des Überprüfungsumfangs oder des Verfahrensgegenstandes von detaillierten Rügen sieht das SGG gerade nicht vor. Zwar bedeutet dies nicht, dass die Behörde (insbesondere bei pauschaler oder völlig unterbliebener Widerspruchsbegründung) den Bescheid auf alle nur irgend denkbaren rechtlichen Fehler detailliert zu prüfen hat. Sie muss aber sämtliche einzelnen Tatbestandselemente, auf denen der Bescheid basiert, einer Prüfung unterziehen, wobei sie - mangels entgegenstehendem Vortrag in der Widerspruchsbegründung - vom Sachverhalt nach Aktenlage ausgehen kann. Für die Überprüfung eines Aufhebungsbescheides bedeutet dies jedenfalls, dass alle positiven und negativen Tatbestandsmerkmale der einschlägigen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage einzeln durchgegangen und zumindest nach Aktenlage geprüft werden müssen.

Einen zureichenden Grund für die Überschreitung der Frist aus § 88 SGG stellt diese rechtliche Prüfung nur dann dar, wenn sie die Behörde wiederum zu tatsächlichen Ermittlungen veranlasst, die nicht in der gesetzlichen Frist durchgeführt werden können. Die Behörde kann sich angesichts § 88 SGG jedoch nicht darauf berufen, der Widerspruchsführer habe sie nicht oder nur verspätet auf einen rechtlichen Fehler aufmerksam gemacht, den sie von Amts wegen zu prüfen hat. Bei einer unklaren oder unzutreffenden Widerspruchsbegründung (wie hier der Berufung auf den zivilrechtlichen Entreicherungseinwand) darf sie zwar vom Sachverhalt nach Aktenlage ausgehen, unterliegt aber in rechtlicher Hinsicht von Amts wegen einer umfassenden Prüfungspflicht.

Die Beklagte hat dem Widerspruch - wie das Gericht einem internen Aktenvermerk vom 13.10.2004 entnimmt - deswegen abgeholfen, weil der Kläger keine Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit der teilweise aufgehobenen Alg-Bewilligung hatte. Somit lag eine (Regel-) Voraussetzung für die Aufhebung der Bewilligung nicht vor, § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X), und die Alg-Bewilligung hätte nur unter völlig atypischen Umständen aufgehoben werden dürfen (zum genauen Regelungsgehalt von § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X siehe Waschull, in: LPK-SGB X, § 45, Rn. 26). Hierbei handelte es sich jedoch um einen Gesichtspunkt, den die Beklagte auch ohne eine entsprechende "Rüge" des Klägers berücksichtigen konnte und musste. Dass die Widerspruchsbegründung hierauf höchstens am Rande Bezug genommen hat, ist unschädlich, denn es bedurfte keiner weiteren tatsächlichen Ermittlungen.

Auch die von der Beklagten angeführte Arbeitsüberlastung ist kein zureichender Grund im Sinne von § 88 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 SGG. Während andauernde Arbeitsüberlastung nach ganz h.M. als zureichender Grund ausscheidet (vgl. nur LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.09.2003 - L 11 KR 2720/03 AK-B; Meyer-Ladewig, a.a.O., § 88, Rn. 7b), wird eine vorübergehende besondere Arbeitsüberlastung aufgrund einer Gesetzesänderung bisweilen als solcher anerkannt (vgl. zur Parallelvorschrift in § 75 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl., 2000, § 75, Rn. 13). Das Gericht verkennt nicht, dass die Beklagte derzeit durch die Umsetzung insbesondere des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ("Hartz IV") in überdurchschnittlich hohem Maße in Anspruch genommen wird. Umstellungen infolge von Rechtsänderungen gehören jedoch seit langer Zeit zu den in ihrem Zuständigkeitsbereich üblichen Belastungen und rechtfertigen es nicht, das Kostenrisiko der Untätigkeitsklage auf den Betroffenen zu verlagern (LSG Niedersachsen, Beschluss vom 05.08.1998 - L 3 B 96/98 KG).
Rechtskraft
Aus
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