S 11 AL 68/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 11 AL 68/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 R 1/05
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 04.08.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2004 verurteilt, der Klägerin Arbeitslosengeld ab dem 01.08.2004 ohne Minderung wegen Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses mit der Firma S GmbH zum 31.072004 zu zahlen. Die Beklagte hat die Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen eine Minderung des an sie ausgezahlten Arbeitslosengeldes (Alg) wegen verspäteter Meldung als arbeitsuchend.

Die am 00.00.0000 geborene Klägerin arbeitet zuletzt vom 01.10.2003 bis zum 31.07.2004 als Sozialarbeiterin bei der Firma S GmbH, C als sozialpädagogische Betreuerin in I. Auf ihren Antrag vom 02.08.2004 zahlte die Beklagte ihr (nach Einholung einer Arbeitsbescheinigung) mit Bescheid vom 04.08.2004 Alg ab dem 01.08.2004, stellte jedoch zugleich eine Minderung in Höhe von 1.050,00 Euro fest, da die Klägerin sich 45 Tage zu spät arbeitsuchend gemeldet habe. Ihren am 06.08.2004 eingelegten Widerspruch begründete die Klägerin damit, sie habe dem (ihr aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit bekannten) Erfordernis einer frühzeitigen Arbeitsuchendmeldung Rechnung getragen und deswegen am 03.05.2004 an der Information der Agentur für Arbeit E vorgesprochen und mitgeteilt, dass sie ab dem 01.08.2004 eine neue Arbeit suche. Die dortige Mitarbeiterin der Beklagten (an deren Namen sich die Klägerin nicht mehr erinnert) habe ihr erklärt, sie werde die Information weitergeben. An das Datum erinnere sie sich deswegen noch genau, da dies ihr Geburtstag gewesen sei. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 19.08.2004 zurück.

Hiergegen richtet sich die am 00.00.0000 erhobene Klage.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 04.08.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2004 zu verurteilen, ihr Arbeitslosengeld ohne Minderung wegen Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses zur Firma S GmbH zum 31.07.2004 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beteiligten wiederholen und vertiefen ihr bisheriges Vorbringen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Entscheidungen der Beklagten sind rechtswidrig i. S. von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Beklagte durfte den Alg-Anspruch der Klägerin nicht wegen verspäteter Meldung mindern.

Die §§ 37 b Satz 1 und 2, 140 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) sind zu unbestimmt, um die Beklagte zur Minderung des verfassungsrechtlich garantierten Anspruchs auf Alg zu ermächtigen; andere einschlägige Ermächtigungsgrundlagen sind nicht ersichtlich.

Nach § 140 Satz 1 SGB III mindert sich der Anspruch auf Alg, wenn sich der Arbeitslose entgegen § 37 b SGB III nicht unverzüglich arbeitssuchend gemeldet hat. Nach § 37 b Satz 1 SGB III sind Personen, deren Versicherungspflichtverhältnis endet, verpflichtet, sich unverzüglich nach Kenntnis des Beendigungszeitpunkts persönlich bei der Agentur für Arbeit arbeitssuchend zu melden. Gemäß § 37 b Satz 2 SGB III hat die Meldung im Falle eines befristeten Arbeitsverhältnisses frühestens drei Monate vor dessen Beendigung zu erfolgen.

Diese Vorschriften sind keine geeignete Ermächtigungsgrundlage zur Minderung von Alg bei in Zusammenhang mit befristeten Arbeitsverhältnissen. § 37 b Satz 2 SGB III ist in Verbindung mit § 37 b Satz 1 SGB III derart unbestimmt, dass er (wiederum i.V.m. § 140 SGB III) keine taugliche Ermächtigungsgrundlage für einen Eingriff in den – grundrechtlich geschützten – Anspruch auf Alg darstellt (SG Dortmund, Urteil vom 26.07.2004 – S 33 AL 127/04). Die Vorschrift besagt mithin nicht, dass sich der Alg-Anspruch (nach Maßgabe von § 140 SGB III) mindert, wenn die genannte Frist verstrichen ist und der Versicherte sich nicht arbeitsuchend gemeldet hat. Vielmehr ist § 37 b Satz 2 SGB III bei verfassungsrechtlich gebotener geltungserhaltender Reduktion (vgl. BVerfGE 69, 1, 55 m.w.N.) dahingehend auszulegen, dass er lediglich regelt, ab wann sich ein Versicherter arbeitsuchend melden und somit die Pflicht der Beklagten zur Arbeitsvermittlung nach § 38 Abs. 4 SGB III auslösen kann.

Die §§ 140 Satz 1 i.V.m. 37 b Satz 2 SGB III ordnen eine Minderung des von der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) erfassten Anspruchs auf Alg (BVerfG, Beschluss vom 10.02.1987 – 1 Bvl 15/83; ganz h.M.) an. Sie fungieren somit als Inhalts- und Schrankenbestimmung i.S.d. § 14 Abs. 1 Satz 2 GG (aus neuerer Zeit etwa SG Aachen, Urteil vom 18.06.2004 – S 8 AL 82/04, SG Frankfurt an der Oder, Beschluss vom 01.04.2004 – S 7 AL 42/04). Aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG, ergibt sich, dass eine Ermächtigung der Verwaltung zum Eingriff in Grundrechte durch Gesetz erfolgen und insbesondere hinreichend bestimmt sein muss. Klarheit und Bestimmtheit einer Vorschrift bedeutet Erkennbarkeit des gesetzgeberisch Gewollten. Betroffene müssen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach einrichten können (BVerfGE 52, 1, 41). Das Handeln der Verwaltung muss für den Bürger voraussehbar und berechenbar sein (BVerfGE 56, 1, 12; BVerwGE 100, 230, 236; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 7. Aufl., 2004, Art. 20, Rn. 60, 61).

§ 37 b Satz 2 SGB III wird diesen Anforderungen schon deswegen nicht gerecht, weil die Vorschrift in Zusammenschau mit § 37 b Satz 1 SGB III, auf den sie sich unmittelbar bezieht, mehrere ungefähr gleich naheliegende und plausible Auslegungen zulässt, die jedoch im Einzelfall zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen: § 37 b Satz 1 und 2 SGB III kann zum einen so verstanden werden, dass die Meldung mit Ablauf des nächsten dienstbereiten Tages zu erfolgen hat, nachdem der Versicherte Kenntnis von der Befristung hat und es nur mehr 3 Monate bis zur Beendigung des Versicherungspflichtverhältnisses sind (Satz 1 als nähere Ausgestaltung des Tatbestandsmerkmals "frühestens" in Satz 2). Denkbar ist jedoch auch eine Auslegung, wonach die Meldung ab Kennntnis und Unterschreitung der Frist erfolgen kann, jedoch nicht unverzüglich erfolgen muss (das Tatbestandsmerkmal "frühestens" in Satz 2 verdrängt das Tatbestandsmerkmal "unverzüglich" in Satz 1). Diese Unklarheiten betreffen nicht nur den isoliert betrachteten Norminhalt von § 37 Satz 2 SGB III, sondern auch die Frage, ob neben § 37 b Satz 2 SGB III noch Raum für eine subsidiäre Anwendung von § 37 b Satz 1 SGB III ist. Welche der möglichen Auslegungen die vom Gesetzgeber gewollte ist, erschließt es sich den – regelmäßig mit juristischen Auslegungsmethoden nicht vertrauten – Betroffenen selbst bei genauer Kenntnis des Wortlauts von § 37 b SGB III nicht. Die von dieser Regelung betroffenen Versicherten haben mithin keinerlei Möglichkeit, das gesetzgeberisch Gewollte zu erkennen und ihr Verhalten an der gesetzlichen Regelung auszurichten.

Es handelt sich schließlich auch nicht um einen derjenigen Fälle, in denen ein Minus an inhaltlicher Bestimmtheit zulässig ist, da der Gesetzgeber die fragliche Materie nur durch Generalklauseln und/oder durch Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe regeln kann (zu derartigen Konstellationen Jarass, a.a.O., Rn. 61). Dies mag auf die Verwendung des Begriffs "unverzüglich" in § 37 b Satz 1 SGB III zutreffen, der Begriff "frühestens" ist jedoch kein unbestimmter Rechtsbegriff.

Der vom Gericht vorgenommenen verfassungskonformen Auslegung der §§ 140 Satz 1, 37 b Satz 1 und 2 SGB III steht im vorliegenden Fall auch die Tatsache nicht entgegen, dass die Klägerin bei der Auslegung dieser Vorschriften von einer zumindest ähnlichen Rechtsauffassung ausgegangen ist wie die Beklagte.

Wo verfassungsrechtliche Vorgaben eine bestimmte (einschränkende oder erweiterende) Auslegung gesetzlicher Bestimmungen gebieten, gilt diese Auslegung grundsätzlich in allen Anwendungsfällen der Vorschriften. Anders ist es nur, wenn die verfassungsrechtlichen Vorgaben nur bei Vorliegen bestimmter tatbestandlicher Voraussetzungen eingreifen. Dies ist etwa der Fall bei einer Minderung von Alg nach Beendigung eines unbefristeten Versicherungspflichtverhältnisses (§§ 140, 37 b Satz 1 SGB III), wo aus verfassungsrechtlichen Gründen eine Minderung dann unterbleiben muss, wenn der Betroffene seine Obliegenheit zu frühzeitiger Meldung als arbeitsuchend weder kennt noch aufgrund grober Fahrlässigkeit nicht kennt und weiterhin auch keine allgemein bekannten Verhaltenserwartungen der Versichertengemeinschaft missachtet hat (SG Aachen Urteil vom 30.07.2004, S 11 AL 4/04). Grund für die verfassungskonforme Auslegung von § 37 b Satz 1 SGB III bei der Beendigung unbefristeter Versicherungspflichtverhältnisse ist die durch Artikel 14 GG vorgegebene Prüfung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbots. Während aber gerade das Übermaßverbot regelmäßig zu einer Einzelfallabwägung zwingt, steht der (hier zu beurteilenden) Minderung von Alg nach der Beendigung befristeter Versicherungspflichtverhältnisse – wie dargelegt – das sich aus dem Rechtsstraatsprinzip ergebende Erfordernis von Klarheit und Bestimmtheit einer Vorschrift entgegen. Genügt eine Vorschrift aber bereits diesen fundamentalen rechtsstaatlichen Anforderungen nicht, so kommt es auf eine Einzelfallprüfung nicht mehr an. Die Beklagte kann der Klägerin daher nicht entgegenhalten, sie habe das gesetzgeberisch Gewollte erkannt. Die Klägerin mag lediglich die Rechtsauffassung der Beklagten teilen, dass gesetzgeberisch Gewollte ist nach Auffassung der Kammer jedoch gerade nicht zu erkennen, so dass übereinstimmende Rechtsauffassungen der Beteiligten unschädlich für die Klägerin sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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