L 19 RJ 277/03

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 RJ 1113/01
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 RJ 277/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 25.03.2003 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Die 1952 geborene Klägerin hat den Beruf einer Friseurin erlernt und immer in diesem Berufsbereich gearbeitet bis Dezember 1998. Daran anschließend war die Klägerin arbeitsunfähig und arbeitslos.

Am 21.08.2000 beantragte sie die Gewährung von Rente wegen Berufs (BU)- bzw. Erwerbsunfähigkeit (EU). Die Beklagte ließ sie untersuchen durch den Internisten Dr.B. , der im Wesentlichen ein Bluthochdruckleiden sowie Asthma bronchiale und allergische Rhinopathie feststellte. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 19.01.2001 ab, da weder BU noch EU vorliege. Die Klägerin könne zwar ihren erlernten Beruf als Friseuse nicht mehr ausüben, sei aber auf die Tätigkeiten einer Lagerverwalterin in einem Drogeriemarkt sowie auf die einer Rezeptionistin und Empfangsdame zumutbar zu verweisen. Die Klägerin legte dagegen am 05.02.3001 Widerspruch ein. Bei ihr wurde im März 2001 ein Darmkarzinom festgestellt (stationäre Aufnahme in der chirurg. Klinik der Universität E. am 06.04.2001). Die Beklagte bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 24.07.2001 Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit vom 01.11.2001 bis 31.10.2002, ausgehend von einem Leistungsfall 06.04.2001. Die Klägerin vertrat die Auffassung, dass die Voraussetzungen für eine Rentengewährung bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung vorgelegen hätten, im Wesentlichen wegen des schweren Asthmas und der Allergien. Die Beklagte wies den Widerspruch im Übrigen mit Bescheid vom 12.11.2001 zurück, da ein früherer Leistungsfall der BU/EU nicht festgestellt werden könne.

Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin am 10.12.2001 Klage beim Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben und verlangt, auf den Antrag vom 21.08.2000 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren. Das SG hat Befundberichte der Internisten Dr.H. , Dr.Z. und Dr.E. sowie des Allgemeinarztes Dr.S. zum Verfahren beigenommen und den Internisten und Arbeitsmediziner Dr.S. zum ärztlichen Sachverständigen bestellt. Dieser hat das Gutachten vom 30.10.2002 nach ambulanter Untersuchung der Klägerin erstattet und folgende Diagnosen genannt: Leichtgradiges Asthma bronchiale, Rhinitis vasomotorica, Bluthochdruck, vegetative Dystonie, Zustand nach Rektumresektion mit Blinddarmentfernung (in 4/01) wegen eines Rektumkarzinoms. Der Sachverständige sah bei der Klägerin bis März 2001 noch ein vollschichtiges Leistungsvermögen gegeben, während für die Zeit ab April 2001 bis Oktober 2002 lediglich ein solches von unter drei Stunden täglich bestanden habe. Ab November 2002 sei wieder mit einem Leistungsvermögen von drei bis unter sechs Stunden zu rechnen und ab Juli 2003 mit einem weiteren Anstieg der Leistungsfähigkeit. Die Feststellungen bezogen sich auf Arbeiten ohne Einwirkung von atemwegsreizenden Arbeitsstoffen; die Klägerin könne nicht mehr als Friseurin tätig sein, Umstellungsfähigkeit für andere Tätigkeiten bestehe jedoch. Die Beklagte erteilte den Bescheid vom 26.11.2002 und bewilligte die Rente wegen voller Erwerbsminderung weiter bis 31.10.2004. Mit Urteil vom 25.03.2003 hat das SG die Beklagte - antragsgemäß - verurteilt, der Klägerin ab 01.08.2000 Rente wegen BU auf Dauer nach den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und der Beklagten zwei Drittel der außergerichtlichen Kosten der Klägerin auferlegt. Die Klägerin könne seit 07.12.1998 (Beginn der Arbeitsunfähigkeit) ihren Beruf nicht mehr ausüben. Sie sei als Facharbeiterin zu beurteilen und könne schon aus gesundheitlichen Gründen nicht verwiesen werden auf Tätigkeiten einer Rezeptionistin oder Empfangsdame in einem Friseursalon. Sie sei weiterhin nicht verweisbar auf Tätigkeiten einer Telefonistin, Registratorin, Mitarbeiterin in einer Poststelle. Das SG bezog sich auf Stellungnahmen des Landesarbeitsamtes Bayern und ein Urteil des BayLSG vom 31.07.2002 (Az: L 19 RJ 146/01).

Gegen dieses Urteil richtet sich die am 20.05.2003 beim Bayer. Landessozialgericht eingegangene Berufung der Beklagten. Diese macht geltend, die Klägerin habe zumindest als Telefonistin, z.B. im öffentlichen Dienst, arbeiten können (Hinweis auf Urteil des Hessischen LSG). Die Beklagte hat einen Vergleich angeboten und anerkannt, dass neben dem ab 06.04.2001 eingetretenen Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung auf Zeit auch der der teilweisen Erwerbsminderung bei BU auf Dauer eingetreten sei. Die Beklagte erklärte sich bereit, ab dem 01.05.2001 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei BU auf unbestimmte Dauer zu gewähren. Die Klägerin hat dieses Angebot nicht angenommen. Sie vertritt weiterhin die Auffassung, dass bei ihr BU seit Antragstellung vorliege (wie vom SG entschieden). Die Klägerin hat weitere Berichte der Neurol. Klinik der Universität E. vom 20.11.2002, der Orthop. Klinik dieser Universität vom 21.05.2003 und des Zentrums für Schmerztherapie dieser Universität vom 17.07.2003 vorgelegt; in letzterem Bericht wird die Klägerin als derzeit nicht trainierbar bezeichnet.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 25.03.2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Dem Senat haben die Verwaltungsakte der Beklagten und die Prozessakte des SG Nürnberg vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 SGG) und auch im Übrigen zulässig.

Das Rechtsmittel der Beklagten erweist sich als nicht begründet. Das SG hat zutreffend entschieden, dass der Klägerin ab 01.08.2000 Rente wegen BU auf unbestimmte Zeit zusteht nach § 43 Abs 2 SGB VI in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung. Die Klägerin hat die allgemeine Wartezeit für die Rente von fünf Jahren (§ 50 Abs 1 SGB VI) und auch die erforderliche Beitragsdichte nach § 43 Abs 1 SGB VI aF erfüllt. Die Beteiligten sind sich darüber einig, dass die Klägerin seit 06.04.2001 (dem Hinzutreten der Krebserkrankung zu den übrigen Gesundheitsstörungen) zumindest auf Zeit voll erwerbsgemindert ist im Sinne des § 43 SGB VI nF. Streitbefangen ist lediglich noch, ob die Klägerin ab 07.12.1998, dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit im Beruf als Friseurin, berufsunfähig im Sinne des § 43 Abs 2 SGB VI aF war und Anspruch auf Rente wegen BU ab 01.08.2000 hatte. Seit Dezember 1998 litt die Klägerin insbesondere an einem leichtgradigen Asthma bronchiale mit Rhinitis vasomotorica, Bluthochdruck, vegetativer Dystonie. Zwischen den Beteiligten ist auch nicht streitig, dass die Klägerin ihren erlernten und ausschließlich ausgeübten Beruf als Friseurin, für den sie Berufsschutz als Facharbeiterin genießt, nicht mehr ausüben kann. Nach den auch für den Senat überzeugenden Ausführungen des ärztlichen Sachverständigen Dr.S. in seinem Gutachten vom 30.10.2002 sind der Klägerin keine Berufstätigkeiten mehr zumutbar, die eine Einwirkung von atemwegsreizenden Arbeitsstoffen beinhalten, wie z.B. in einem Friseursalon, in Lackierereien oder in anderen Tätigkeiten mit einer Exposition gegenüber den entsprechenden Schadstoffen. Bezüglich der von der Beklagten im Schriftsatz vom 17.07.2003 allein noch benannten Verweisungstätigkeit einer Telefonistin schließt sich der Senat im Wesentlichen den Gründen des angefochtenen Urteils an. Auch wenn mit dem Gutachten des Arbeitsmediziners Dr.S. davon auszugehen ist, dass die Klägerin noch die gesundheitlichen Anforderungen an diese Berufstätigkeit bis zum April 2001 erfüllt hat, war ihr eine solche Tätigkeit doch in sozialer Hinsicht nicht zumutbar. Abgesehen von der Problematik, dass die Verweisung im Fall der Klägerin rückblickend für einen abgelaufenen Zeitraum zu beurteilen ist, kommt die Tätigkeit einer Telefonistin (im öffentlichen Dienst) nur dann als zumutbare Verweisungstätigkeit in Betracht, wenn bereits der Einstieg in diesen Beruf auf der Basis eines qualifiziert angelernten Arbeiters erfolgt. Wie ein Vergleich der Vergütungsgruppen VIII bis X des Tarifvertrages der Kommunalen Arbeitgeberverbände (Anlage 1 a zu BAT - VKA -) ergibt, erfordern aber Angestelltentätigkeiten in Büro und Registratur regelmäßig eine über drei Monate hinausgehende Anlernzeit. Lediglich die in der Vergütungsgruppe IX und X beschriebenen Tätigkeiten könnte die Klägerin innerhalb einer Frist von drei Monaten erlernen. Die Tätigkeit im Telefondienst ist zwar auch nach der Rechtsprechung des BSG (z.B. Urteil vom 12.09.1991 in SozR 3-2200 § 1246 Nr 17) auch für einen Facharbeiter grundsätzlich als zumutbare Verweisungstätigkeit in Betracht zu ziehen. Das gilt aber nur, wenn der Telefonist innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten nach der Vergütungsgruppe VIII des o.g. Tarifvertrags entlohnt wird. Eingangsstufe für den Telefonisten allgemein ist aber die Vergütungsgruppe IX, deren Qualifikationsanforderungen keine tarifliche Umschreibung einer als "sonstiger Ausbildungsberuf" im Sinne des Mehrstufenschemas zu bewertenden Anlerntätigkeit enthält, so dass sie einer qualifizierten Anlerntätigkeit nicht gleich gestellt und der Klägerin als Facharbeiterin nicht zugemutet werden kann. In Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung, vgl. zuletzt Urteil des BayLSG vom 31.07.2002 (Az: L 19 RJ 146/01) stützt sich der Senat weiterhin auf die Vorgaben des BAT, der bundesweit Geltung hat. Eines Rückgriffs auf regionale Tarifverträge bedarf es nicht, insbesondere wenn es sich wie vorliegend für die Klägerin um branchenfremde Tarifverträge handelt, die zudem in Regionen gelten, die für die Klägerin nicht ohne weiteres erreichbar sind. Da somit für die Klägerin, bezogen auf den noch streitigen Zeitraum, keine medizinisch und sozial zumutbare Verweisungstätigkeit benannt werden kann, war die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 25.03.2003 zurückzuweisen.

Da die Berufung der Beklagten erfolglos blieb, hat diese der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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