L 3 RA 42/03

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 10 RA 548/00
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 3 RA 42/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 20. August 2003 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Nachforderung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen im Hinblick auf tatsächlich nicht ausgezahlte Sonderzuwendungen an geringfügig Beschäftigte im Geltungsbereich eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages im Hamburger Einzelhandel streitig.

Die Klägerin betreibt als Franchisenehmerin eine selbständige Filiale der B. B. m. A. AG in Hamburg. Auf Grund einer im Februar des Jahres 2000 nach § 28 p Abs. 1 Sozialgesetzbuch Viertes Buch IV – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung – (SGB IV) für den Zeitraum vom 1. Dezember 1995 bis zum 31. Dezember 1999 durchgeführten Betriebsprüfung forderte die Beklagte nach entsprechender Anhörung der Klägerin für insgesamt 22 Beschäftigte mit Bescheid vom 13. Juni 2000 Gesamtsozialversicherungsbeiträge für 1996 und 1997 in Höhe von insgesamt 49.008,56 DM nach. Die Beklagte vertrat die Auffassung, dass diese von der Klägerin als geringfügig beschäftigt geführten Arbeitnehmerinnen wegen eines tariflichen Anspruches auf Urlaubsgeld und Sonderzuwendung der Sozialversicherungspflicht unterlägen. Der individuelle Lohnanspruch übersteige bei Hinzurechnung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld jeweils die Geringfügigkeitsgrenze. Dabei komme es nicht darauf an, ob den Arbeitnehmerinnen das Entgelt jeweils zugeflossen sei. Bei Einmalzahlungen sei die Rechtmäßigkeit der Beitragsforderung davon abhängig, ob der weitere Geldbetrag schon während der Zeit, für welche die Beiträge verlangt werden, geschuldet worden sei. Diese Sichtweise stehe in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, wie sie in der Entscheidung vom 30.08.1994 – 12 RK 59/92 – zum Ausdruck komme.

Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und führte zur Begründung aus, es seien zwar die Angaben der Beklagten zu den beschäftigten Mitarbeiterinnen zutreffend. Zutreffend sei auch, dass die entsprechenden Tarifverträge allgemeinverbindlich seien und dass hiernach Urlaubs- und Weihnachtsgeld zu zahlen sei. Jedoch sei im Manteltarifvertrag zur Geltendmachung der Ansprüche eine Ausschlussfrist enthalten. Unzutreffend werde in dem Bescheid auch davon ausgegangen, dass auf Grund Zurechnung des an die Mitarbeiterinnen zu zahlenden Urlaubs- sowie Weihnachtsgeldes die Geringfügigkeitsgrenze überschritten werde. Die insoweit herangezogene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sei rechtlich nicht haltbar. Im vorliegenden Falle sei nämlich von den Beschäftigten beabsichtigt gewesen, die Ansprüche auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld nicht geltend zu machen, um nicht in ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis gedrängt zu werden. Dies sei über mehrere aufeinander folgende Zahlungszeiträume hinweg stetig geschehen, so dass nicht habe davon ausgegangen werden können, dass Zahlungen mit hinreichender Sicherheit regelmäßig zu erwarten waren. Es verbiete sich deshalb eine Verteilung der Sonderzahlungen auf die übrigen Beitragsmonate mit der Konsequenz des Überschreitens der Geringfügigkeitsgrenzen.

Die Klägerin hat, nachdem ihr Widerspruch durch Bescheid vom 10. Oktober 2000 zurückgewiesen worden war, ihr Anfechtungsbegehren unter Wiederholung und Vertiefung ihres bisherigen Vorbringens weiterverfolgt.

Während des Klageverfahrens hat die Beklagte den angefochtenen Bescheid insoweit aufgehoben, als von der Klägerin Gesamtsozialversicherungsbeiträge für das Jahr 1997 gefordert wurden. Das Sozialgericht hat der Klage durch Urteil vom 20. August 2003 stattgegeben und den angefochtenen Bescheid aufgehoben, so weit dieser aufrechterhalten worden war. Zur Begründung hat es ausgeführt, das Arbeitsentgelt der Arbeitnehmerinnen der Klägerin habe im Jahre 1996 nicht regelmäßig im Monat die Geringfügigkeitsgrenze überschritten, und es hat seine diesbezügliche Überzeugung auf § 23 a Abs. 1 Satz 2 SGB IV gestützt, wonach einmalig gezahltes Arbeitsentgelt versicherungspflichtig Beschäftigter dem Entgeltzeitraum zuzuordnen sei, in dem es gezahlt werde. Es hat sich ferner auf die Neufassung des § 22 Abs. 1 SGB IV berufen, wonach Beitragsansprüche der Versicherungsträger bei einmalig gezahltem Arbeitsentgelt entstünden, sobald dieses ausgezahlt worden sei. Hierdurch habe der Gesetzgeber keine Neuregelung getroffen, sondern im Sinne des Rechtsstaatsprinzips auch eine Regelung für die Vergangenheit vorgenommen, um die ansonsten bei Teilzeitkräften bestehende Rechtsunsicherheit zu beseitigen. Es hat hiervon ausgehend unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Sozialgerichts Ulm vom 8. August 2002 – S 10 RA 1802/02 – die Auffassung vertreten, dass bei der erforderlichen vorausschauenden Betrachtung im Falle der Beschäftigten der Klägerin nicht mit hinreichender Sicherheit festgestanden habe, dass Ansprüche auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld entstehen würden. Dies folge aus der Beschäftigung von Verkaufshilfen, saisonbedingten Aushilfen und Teilzeitkräften mit weniger als 15 Stunden wöchentlich und der hierdurch gegebenen Fluktuation.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 2. September 2003 zugestellte Urteil am 16. September 2003 Berufung eingelegt und zur Begründung vorgetragen, das an die geringfügig Beschäftigten nicht gezahlte Urlaubs- und Weihnachtsgeld sei bei der Ermittlung des regelmäßigen monatlichen Arbeitsentgelts im Sinne des § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV entsprechend anteilig zu berücksichtigen, sodass Versicherungspflicht bestanden habe. Es könne namentlich die Änderung des § 22 Abs. 1 SGB IV durch Art. 2 Nr. 6 des 2. Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt zum 1. Januar 2003 keine Berücksichtigung für zurückliegende Zeiträume finden. Auf die vom Sozialgericht Hamburg herangezogene Rechtsprechung des Sozialgerichts Ulm könne die Entscheidung nicht gestützt werden. Diese führe Ausnahmefallgestaltungen an, die zwar erkennen ließen, dass Ansprüche nicht mit hundertprozentiger Sicherheit entstünden, wohl aber mit der vom Bundessozialgericht im Urteil vom 28. Februar 1984 geforderten hinreichenden Sicherheit. Ebenso wenig könne das Sozialgericht seine Rechtsauffassung zur Auslegung des Begriffs der Regelmäßigkeit im Sinne des § 8 SGB IV auf § 23 a SGB IV stützen. Eine derartige Sichtweise widerspreche dem Kontinuitätsgedanken des Versicherungsrechts.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 20. August 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 20. August 2003 zurückzuweisen.

Sie verteidigt das Urteil der ersten Instanz.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf denjenigen der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung des Senats gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 20. August 2003 ist nach §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und im Übrigen zulässig, namentlich fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden.

Die Berufung ist auch begründet. Das Sozialgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Der Beitragsbescheid der Beklagten lässt in der Gestalt, die er durch die Erklärung der Beklagten vom 20. August 2002 erhalten hat, Rechtsfehler zu Lasten der Klägerin nicht erkennen.

Nachdem die Beteiligten übereinstimmend davon ausgehen, dass die vorliegend auf den Erhebungszeitraum anzuwendenden Tarifverträge allgemeinverbindlich sind und damit auch für nichtorganisierte Beschäftigte Geltung haben, und ferner, dass hiernach allen vorliegend in Rede stehenden Beschäftigten im Erhebungszeitraum grundsätzlich Urlaubs- und Weihnachtsgeld zustand, und nachdem schließlich Einwendungen gegen die Berechnung der Beiträge nicht erhoben wurden und auch sonst kein Anlass besteht, an der Beitragsfestsetzung zu zweifeln, geht auch der Senat hiervon aus und hat lediglich noch die Frage zu beantworten, ob die tatsächlich nicht geflossenen Einmalzahlungen dem monatlichen Entgelt rechnerisch zuzuschlagen sind, so dass die Entgelt-Geringfügigkeitsgrenze des § 8 SGB IV (in der hier anzuwendenden Fassung des Gesetzes vom 13. Juni 1994, BGBl. I, S. 1229) von regelmäßig 630 DM im Monat bzw. einem Siebtel der monatlichen Bezugsgröße mit der Folge überschritten wird, dass die Beschäftigten im Erhebungszeitraum in allen Zweigen der Sozialversicherung beitragspflichtig waren.

Diese Frage ist mit der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu bejahen. Hiernach hat die Beklagte der Beitragserhebung zu Recht nicht nur das tatsächlich erzielte ("zugeflossene"), sondern das geschuldete Arbeitsentgelt, zu dem auch die Sonderzuwendungen gehören, zugrunde gelegt und hiervon ausgehend wegen Überschreitens der Geringfügigkeitsgrenze Beitragspflicht angenommen. Die Entstehung von Beitragsansprüchen hängt nicht davon ab, dass der Arbeitgeber das Entgelt tatsächlich auszahlt. Vielmehr ist ausreichend, dass zum Fälligkeitszeitpunkt der Beiträge ein Entgeltanspruch bestand. Zwar hatte das Bundessozialgericht ursprünglich (vgl. BSG, Urteil vom 25. November 1964 – 3 RK 32/60 –) die Ansicht vertreten, es in gelte im Beitragsrecht ebenso wie im Steuerrecht das Zuflussprinzip. Es hat diese Ansicht aber bereits im Jahre 1982 (vgl. Urteil vom 26. Oktober 1982, BSGE 54, 136, 140) aufgegeben, sich vom Zuflussprinzip gelöst und seitdem (Urteile vom 26. November 1985, BSGE 59, 183, 189, vom 22. Juni 1994 – 10 RAr 3/93 – und vom 30. August 1994 – 12 RK 59/92 – sowie vom 21. Mai 1996 – 12 RK 64/94 – und vom 7. Februar 2002 – B 12 KR 13/01 R –) das Entstehungsprinzip vertreten. Der Bundesgerichtshof ist dieser Auffassung in seiner Rechtsprechung zu § 266a Strafgesetzbuch gefolgt (vgl. Urteil vom 16. Mai 2000, BGHZ 144, 311 und vom 28. Mai 2002, BGHSt 47, 318). In seinen Entscheidungen vom 14. Juli 2004 hat das Bundessozialgericht diese Auffassung im Hinblick auf Sonderzuwendungen in der Gestalt von Urlaubs- und Weihnachtsgeld (– B 12 KR 7/04 R –) sowie im Hinblick auf untertarifliche Bezahlung (– B 12 KR 1/04 R –) bestätigt und ausgeführt, es komme für den Beginn der Beschäftigung gegen Arbeitsentgelt und der Versicherungsverhältnisse nach dem Schutzzweck der Sozialversicherung nicht darauf an, ob und wann der Arbeitgeber das mit dem Arbeitnehmer vereinbarte Arbeitsentgelt tatsächlich zahlt und dieses dem Arbeitnehmer zufließt, weil es andernfalls der Arbeitgeber in der Hand habe, durch verzögerte oder verkürzte Zahlung des Arbeitsentgelts über den Versicherungsschutz des Arbeitnehmers zu verfügen. Es müsse vielmehr bei Aufnahme der Beschäftigung und auch danach zu jeder Zeit mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden können, ob ein bestimmter Arbeitnehmer in seiner Beschäftigung der Versicherungspflicht unterliegt. Diese zum Schutz der Beschäftigten erforderliche Rechtssicherheit sei nur gewährleistet, wenn bei der Frage, ob das Arbeitsentgelt die Geringfügigkeitsgrenze übersteigt, auf das tariflich zustehende Arbeitsentgelt abgestellt werde. Das Bundessozialgericht hat ferner ausgeführt, dass die Vorschrift des § 23a SGB IV keine Bestimmung zu der Frage treffe, ob für Sonderzahlungen das Entstehungs- oder das Zuflussprinzip gelte. Diese Vorschrift bestimme lediglich abstrakt, welche Zuwendungen einmalig gezahltes Arbeitsentgelt sind, grenze diese vom laufenden Arbeitsentgelt ab und ordne sie für die Beitragsbemessung bestimmten Entgeltabrechnungszeiträumen zu. Eine Regelung zur Anwendung des Entstehungs- oder aber des Zuflussprinzips sei allerdings in § 22 SGB IV enthalten. Hier sei der Gesetzgeber mittlerweile für die Beitragserhebung auf Sonderzahlungen zum Zuflussprinzip übergegangen. Aus der gesetzlichen Neuregelung folge aber gleichzeitig, dass für Einmalzahlungen bis Ende 2002 das Entstehungsprinzip gelte. Dieser Rechtsprechung folgt der erkennende Senat.

Die vorliegend in Rede stehenden Sonderzahlungen sind auch mit hinreichender Sicherheit zu erwarten (vgl. BSG, Urteil vom 28. Februar 1984 – 12 RK 21/03 –) und deshalb bei der Berechnung des regelmäßig im Monat erzielten Arbeitsentgelts auf die einzelnen Monate des Jahres 1996 zu verteilen gewesen. Entgegen der vom Sozialgericht geäußerten Auffassung gibt der Sachverhalt nichts dafür her, dass bei der erforderlichen vorausschauenden Betrachtung für die Beschäftigten der Klägerin nicht mit hinreichender Sicherheit festgestanden hat, dass Ansprüche auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld entstehen würden. Zwar enthält der zugrunde zu legende Tarifvertrag Ausschlussklauseln, Klauseln zur Fälligkeit und zu einer eventuellen Rückzahlungspflicht. Dass diese vorliegend in irgendeinem Einzelfall tatsächlich eingegriffen hätten, behauptet aber selbst die Klägerin nicht. Vielmehr sind die Beschäftigungsverhältnisse der veranlagten Mitarbeiter nach allen im Verfahren zutage getretenen Umständen auf Dauer angelegt und ungekündigt und die tariflich geschuldeten Sonderzahlungen bei einer am Jahresbeginn vorgenommenen vorausschauenden Betrachtung mit hinreichender Sicherheit zu erwarten gewesen. Schließlich kommt es entgegen der Auffassung der Klägerin für die Entstehung der Beitragspflicht auf die Geltendmachung der Ansprüche durch die Arbeitnehmer nicht an (BSG, Urteil vom 30. August 1994, a.a.O. sowie vom 14. Juli 2004 – B 12 KR 7/04 R –). Zwar kann im Einzelfall die Anwendung des Entstehungsprinzips im Falle einer einverständlich untertariflichen Bezahlung zu einer Inkongruenz zwischen Arbeitsrecht und Sozialversicherungsrecht führen. Nach der Auffassung das Bundessozialgerichts (Urteil vom 14. Juli 2004, a.a.O.) dient es jedoch der Einheit der Rechtsordnung und rechtfertigt auch im Falle fehlender Geltendmachung tarifvertraglicher Ansprüche das Festhalten am Entstehungsprinzip, wenn Versicherungsverhältnisse auf der Grundlage bestehender Tarifverträge durchgeführt werden müssen und durch eine untertarifliche Bezahlung weder der Versicherungsschutz der Arbeitnehmer beeinträchtigt werden darf, noch sich der Arbeitgeber Vorteile gegenüber tariflich zahlenden Arbeitgebern verschaffen kann. Auch dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat an.

Nach allem musste die Berufung Erfolg haben, das angegriffene Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf der Regelung des § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.

Der Senat hat die Revision gegen dieses Urteil nicht zugelassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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