S 8 RJ 170/04

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 8 RJ 170/04
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein Schüler, der einen staatlich zugelassenen Fernunterrichtslehrgang zur Erlangung des Abiturs absolviert und dafür mindestens 20 Stunden wöchentliche Arbeitszeit aufwendet, hat Anspruch auf Waisenrente über das 18. Lebensjahr hinaus.
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2004 verpflichtet, dem Kläger Waisenrente ab dem 2003 nach den gesetzlichen Vorschriften zu gewähren. II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger sich in Schulausbildung befindet und damit einen Anspruch auf Waisenrente über das 18. Lebensjahr hinaus hat.

Der am 1981 geborene Kläger ist Vollwaise. Er absolviert seit dem 2003 den Lehrgang Abitur am Institut für Lernsysteme GmbH (ils). Dieser Lehrgang ist als Fernunterricht ausgestaltet und von der Staatlichen Zentralstelle für Fernunterricht zugelassen. Die Regelstudiendauer beträgt 36 Monate. Nach Ablauf dieser Zeit können die Korrekturleistungen der ils weitere 18 Monate in Anspruch genommen werden. Die tatsächliche Dauer der Ausbildung liegt damit allein im Verantwortungsbereich des Schülers. Wenn ein Schüler den Lehrgang in der Regel-studienzeit absolviert und damit einen Vollzeitunterricht durchführt, benötigt er eine wöchent-liche Arbeitszeit von mindestens 20 bis 25 Stunden. Der Kläger hält die Regelstudienzeit bis-lang ein. Er kann einen regelmäßigen Nachweis, dass er den Lehrgang im Vollzeitunterricht absolviert und die Regelstudiendauer einhält, von der Fernschuleinrichtung erbringen. Der Kläger folgt im Rahmen des Unterrichts einem Studienplan, aus dem sich die Reihenfolge der zu bearbeitenden Studienhefte und der dazugehörigen Hausaufgaben ergibt.

Am 2003 (Eingang bei der Beklagten) beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung einer Vollwaisenrente. Den Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 2003 ab. Die Teil-nahme am Fernunterricht sei nicht mit einem Schulbesuch gleichzustellen.

Den hiergegen vom Kläger am 2003 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Wider-spruchsbescheid vom 2004 zurück. Ein Fernunterrichtslehrgang zur Vorbereitung auf das Abi-tur sei nur dann einer Schulausbildung gleichzusetzen, wenn und soweit die generelle Gewähr für eine der herkömmlichen Schulausbildung vergleichbare Stetigkeit und Regelmäßigkeit der Ausbildung gegeben und ihre Dauer nicht allein der Verantwortung des Schülers überlassen ist. Da die Dauer des vom Kläger absolvierten Lehrgangs allein im Verantwortungsbereich des Schülers liegt, sei der Fernunterricht nicht mit einer herkömmlichen Schulausbildung zu vergleichen. Daran ändere auch der Nachweis einer überwiegenden Inanspruchnahme von Zeit und Arbeitskraft durch die Ausbildung von mehr als 20 Stunden wöchentlich (Vollzeit) nichts. Die Beklagte verwies in diesem Zusammenhang auf das Urteil des Bundessozialge-richts (BSG) vom 25. November 1976, Az. 11 RA 146/75.

Hiergegen hat der Kläger am 2004 (Eingang bei Gericht) Klage erhoben. Zur Begründung führt er im wesentlichen aus, dass die Bedingungen "Regelmäßigkeit" und "Kontrolle des Leistungsstandes" erfüllt seien, da er dies mit regelmäßigen Vollzeitbescheinigungen der ils, Halbjahreszeugnissen und Zwischenprüfungen nachweisen kann.

Einen konkreten Antrag hat der Kläger nicht gestellt.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Zur Begründung führt sie aus, dass bei der Beurteilung einer Ausbildungsform nur objektive Gesichtspunkte zu beachten seien. Werde eine schulische Ausbildung verneint, weil deren Dauer in der alleinigen Verantwortung der Schüler liegt, sei es irrelevant, wenn ein Schüler aus subjektiven Gründen die Regeldauer einhält. Dass diese Aussagen der BSG-Rechtsprechung noch immer von Bedeutung seien, zeige das Urteil des Bayerischen Landes-sozialgerichts vom 17. August 2000, Az. L 20 RJ 448/98.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der gerichtlichen Verfahrensakte mit den Schriftsätzen nebst Anlagen sowie den Inhalt der vom Gericht beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben, § 124 Abs. 2 SGG.

Das klägerische Begehren ist nach dem erkennbaren Rechtsschutzziel zunächst dahingehend auszulegen, dass beantragt wird, den Bescheid vom 2003 in der Fassung des Widerspruchsbe-scheides vom 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger Waisenrente ab dem 2003 nach den gesetzlichen Vorschriften zu gewähren.

Die so verstandene Klage ist zulässig und begründet.

Der Bescheid vom 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2004 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Der Kläger hat einen Anspruch auf Vollwaisenrente gemäß § 48 Abs. 4 Nr. 2 lit. a Sozialge-setzbuch Sechstes Buch (SGB VI). Nach dieser Vorschrift besteht ein Anspruch auf Vollwai-senrente über das 18. Lebensjahr hinaus und längstens bis zur Vollendung des 27. Lebensjah-res, wenn sich die Waise in Schulausbildung befindet.

Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Waisenrente nach Maßgabe dieser Bestimmung sind erfüllt.

Der am 1981 geborene Kläger hat das 18. Lebensjahr, aber nicht das 27. Lebensjahr vollendet. Er befindet sich in Schulausbildung. Der Fernunterrichtslehrgang, den der Kläger an der ils absolviert, stellt eine Schulausbildung im Sinne des § 48 Abs. 4 Nr. 2 lit. a SGB VI dar.

Der Begriff Schulausbildung ist gesetzlich nicht definiert und damit als unbestimmter Rechts-begriff der Auslegung fähig und bedürftig.

Das BSG hat in der von der Beklagten zitierten Entscheidung vom 25. November 1976 (Az. 11 RA 146/75) nach Auslegung anhand des allgemeinen Sprachgebrauchs sowie Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung einen Fernunterrichtslehrgang zur Vorbereitung auf das Abitur dann einer Schulausbildung gleichgeachtet, wenn und soweit die generelle Gewähr für eine der herkömmlichen Schulausbildung vergleichbare Stetigkeit und Regelmäßigkeit der Ausbildung gegeben und ihre Dauer nicht allein der Verantwortung des Schülers überlassen ist. Hierbei hat sich das Gericht maßgeblich auf den herkömmlichen Begriff der Schulausbil-dung gestützt. Diese Auslegung kann vor dem Hintergrund der Weiterentwicklung und Viel-fältigkeit moderner Schul- und Berufsausbildung nicht mehr vollumfänglich bestehen. Aus-bildungen im Wege des Fernunterrichts stellen gegenwärtig – wohl anders als vor knapp 30 Jahren, als das BSG die Einrichtung der Fernuniversität Hagen für besonders erwähnenswert hielt – keine Besonderheit mehr dar. Bereits heute bestehen im Fernschulbereich zahlreiche Ausbildungsangebote verschiedener Schulen und die Entwicklung schreitet im Hinblick auf die weitere Verbesserung der technischen Möglichkeiten (z. B. e-learning) voran.

Das BSG selbst hatte bereits in seiner über 20 Jahre zurückliegenden Entscheidung ausge-führt, dass der allgemeine Sprachgebrauch zum Begriff Schule und Schulausbildung im Wan-del begriffen ist. Bereits damals war für das Gericht nicht zu übersehen, dass Fernunterricht zunehmend in das allgemeine Bildungswesen integriert worden ist. Daher hatte der entschei-dende Senat nur mit Vorbehalten und Einschränkungen an der Rechtssprechung des BSG festgehalten.

In diesem Zusammenhang verwies das BSG zutreffend auf den Sinn und Zweck der gesetzli-chen Regelung des § 48 Abs. 4 Nr. 2 lit. a SGB VI, der auch in der gewollten Förderung einer soliden Grundausbildung zu sehen sei, und warf die Frage der Gleichbehandlung der Fern-schulausbildung mit der Ausbildung an herkömmlichen Schulen auf. Diese Erwägungen sind nach Auffassung der Kammer für die Entscheidung, wann eine Schulausbildung anzunehmen ist, maßgebend. Sinn und Zweck des § 48 Abs. 4 Nr. 2 lit. a SGB VI ist, Waisen während der schulischen und beruflichen Ausbildung finanziell abzusichern. Damit soll Waisen die Mög-lichkeit eröffnet werden, eine fundierte Ausbildung zu absolvieren, um später einen entspre-chenden Beruf ausüben und ihr Einkommen selbst erwirtschaften zu können. Da der Anspruch auf Waisenrente grundsätzlich nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres besteht, geht der Gesetzgeber jedoch davon aus, dass Kinder nach Vollendung des 18. Lebensjahres in der Re-gel berufstätig sind und sich selbst unterhalten können. Daraus folgt, dass nur dann, wenn eine über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinausgehende Ausbildung wegen der damit ver-bundenen zeitlichen Inanspruchnahme eine Erwerbstätigkeit ausschließt, der Anspruch auf Waisenrente berechtigt ist (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23. August 1989, Az. 10 RKg 8/86, das sich allerdings auf einen Kindergeldanspruch bezieht).

Hieraus resultiert in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung, dass die jeweilige Ausbildungsform, gleich welcher Art sie ist, eine gewisse Stetigkeit und Regelmäßigkeit der Ausbildung gewährleisten muss. Es wird verlangt, dass die Ausbildung an allgemeinbildenden öffentlichen oder privaten Schulen erfolgt und der Unterricht nach staatlich genehmigten Lehrplänen erteilt wird (qualitative Voraussetzung). Der Begriff Schul- und Berufsausbildung ist insoweit einzuschränken, als die zeitliche Gesamtbelastung der Ausbildung mindestens 20 Stunden betragen muss (quantitative Voraussetzung). Die 20 Stunden-Grenze beruht auf der Überlegung, dass bei einer wöchentlichen Gesamtarbeitszeit von 40 Stunden eine den Le-bensunterhalt finanzierende Halbtagsbeschäftigung nur ausgeübt werden kann, wenn die Aus-bildung nicht mehr als 20 Arbeitsstunden pro Woche in Anspruch nimmt (BSG, Urteil vom 23. August 1989, Az. 10 RKg 8/86). Dabei ist der objektiv notwendige Arbeitsaufwand ent-scheidend (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 17. August 2000, Az. L 20 RJ 448/98; entgegen der Auffassung der Beklagten wird in dieser Entscheidung – in Überein-stimmung mit der hiesigen Auslegung – maßgeblich auf den zeitlichen Aufwand der Ausbil-dung abgestellt und nicht etwa darauf, dass die dortige Klägerin eine Fernausbildung absol-vierte, deren Dauer allein in ihrer Verantwortung stand).

Entsprechend dieser durch Auslegung gewonnenen Maßstäbe erfüllt der von dem Kläger ab-solvierte Lehrgang an der ils die Voraussetzungen einer Schulausbildung. Der Lehrgang ist von der Staatlichen Zentralstelle für Fernunterricht zugelassen. Der Kläger hat bislang unter Einhaltung der Regelstudienzeit an dem Fernunterricht teilgenommen, für den er eine wö-chentliche Arbeitszeit von mindestens 20 bis 25 Stunden benötigt.

Es ist der Beklagten zuzugeben, dass bei einer Fernschulausbildung, deren Dauer sowie Art und Weise der Ausbildung im Belieben des Teilnehmers stehen, nicht ohne weiteres von der Einhaltung der quantitativen Voraussetzung auszugehen ist. Dies rechtfertigt jedoch nicht eine Versagung des Anspruchs auf Waisenrente. Vielmehr kann – im Interesse einer verwaltungs-gerechten Lösung – die Einhaltung der Regelstudienzeit und der 20 Stunden-Grenze durch andere Maßnahmen gewährleistet werden (vgl. BSG, Urteil vom 25. November 1976, Az. 11 RA 146/75: Der Gefahr der Streckung einer Ausbildung könnte – im Interesse einer verwal-tungsgerechten Lösung – in der Weise begegnet werden, dass eine Einstellung der Leistung zu erwägen wäre, wenn der Fernschüler in den Pensenbearbeitung eine längere Zeit (ein halbes Jahr oder ein Jahr) im Rückstand ist.). Zutreffend verweist der Kläger darauf, dass eine Re-geldauer der Ausbildung mit einem nach Semestern gegliedertem Studienplan vorliegt, die eine Kontrolle des Vollzeitunterrichts ermöglicht. Die ils hat bestätigt, dass sie regelmäßig eine Vollzeitbescheinigung auszustellen vermag, wenn die Ausbildung entsprechend der Vor-gaben des Studienplans absolviert wird. Darüber hinaus kann der Kläger Halbjahreszeugnisse und Zwischenprüfungen als Nachweis der wöchentlichen Arbeitszeit vorlegen.

Nach alledem war der Klage stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.
Rechtskraft
Aus
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