L 2 U 12/01

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 4 U 241/98
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 12/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 08.12.2000 wird zurückgewiesen. II. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge. III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob es sich bei den Lendenwirbelsäulenbeschwerden des Klägers um eine Berufskrankheit (BK) handelt.

Der am ... geborene Kläger absolvierte von 1954 bis 1957 eine Lehre zum Kraftfahrzeugschlosser und war danach bis 1964 als in diesem Beruf tätig. Im Jahr 1964 begann er als Berufskraftfahrer im Schwer- und Möbeltransport, später im Güterverkehr, zu arbeiten. Er übte diese Tätigkeit bis zum 30.06.1993 aus. Vom 01.08.1995 bis zum 31.08.1995 arbeitete er nochmals in einer Spedition.

Am 06.05.1968 traten nach Angaben des Klägers erstmals Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS) durch schweres Heben ohne Hilfsmittel auf. Ab ca. 1980 litt er immer wieder unter Beschwerden im LWS-Bereich, die bis Ende 1980 immer heftiger wurden. Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule (HWS) traten ab 1988 auf.

Aus einer Bescheinigung der AOK Sachsen, bei der der Kläger seit 1991 Mitglied war, vom 30.04.1997 geht hervor, dass der Kläger vom 07.11.1991 bis 31.12.1991 wegen "Lumbago" und vom 01.03.1993 bis 08.04.1993 und vom 21.06.1993 bis 30.11.1993 an einem Zervikobrachial-Syndrom erkrankt war. Eine weitere Zeit der Arbeitsunfähigkeit - wegen eines Lumbalsyndromes und eines Cervicalsyndromes ist für die Zeit vom 17.01.1996 bis 21.02.1996 dokumentiert. Ferner war der Kläger vom 10.04.1996 bis 30.04.1996 wegen Osteochondrose arbeitsunfähig erkrankt und vom 10.06.1996 bis 24.06.1996 wegen HWS-Syndrom und Lumboischialgie.

Am 25.02.1997 beantragte er bei der Beklagten die Anerkennung seiner LWS- und HWS-Beschwerden als Berufskrankheit und die Zahlung einer Verletztenrente.

Die Beklagte ermittelte daraufhin sowohl in medizinischer als auch in arbeitstechnischer Hinsicht. Sie zog u.a. Unterlagen der Landesversicherungsanstalt Sachsen (LVA) nach einer vom 12.08.1993 bis 09.09.1993 durchgeführte Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation bei. Im Entlassungsbericht nach dieser Maßnahme wird aufgeführt, dass die Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule im Vordergrund stünden. Im Bereich der Lendenwirbelsäule seien der Kläger Beschwerden vorhanden. Der beratende Arzt der Beklagten, dem alle von der Beklagten beigezogenen Unterlagen vorgelegt waren, führte in einer Stellungnahme vom 29.06.1997 aus, dass das Vorliegen einer BK nach den Nummern 2108 bis 2110 nicht wahrscheinlich sei. Die vorliegenden Röntgenaufnahmen der HWS, der Brustwirbelsäule (BWS) und der LWS zeigten in allen Abschnitten deutliche bis erhebliche degenerative Veränderungen bei anlagebedingter Fehlhaltung. Hierbei handele es sich im eine linkskonvexe Drehausbiegung der LWS mit Gegenschwingung im Bereich der BWS, in deren Folge erhebliche Gefügestörungen, reaktive Abstützvorgänge an den Wirbelkanten und multiple Verschmälerungen von Zwischenwirbelräumen aufgetreten seien. Eine berufsbedingte Verursachung im Sinne einer BK-Nr. 2108 oder 2110 sei nicht erkennbar. Bezüglich der HWS sei nicht erkennbar, dass der Kläger Tätigkeiten im Sinne der BK-Nr. 2109 mit ausreichender Regelmäßigkeit ausgeübt habe.

Nach Einholung einer gewerbeärztlichen Stellungnahme lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 08.10.1997 die Gewährung von Entschädigungsleistungen ab, weil eine Berufskrankheit nach Nrn. 2108 bis 2110 der Anlage zur BKV nicht vorliege. Ein berufskrankheitenspezifisches Schadensbild habe nicht nachgewiesen werden können. Der gegen den Bescheid eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 15.07.1998 zurückgewiesen. Hiergegen hat der Kläger am 04.08.1998 Klage vor dem Sozialgericht Chemnitz (SG) erhoben.

Das SG hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes in medizinischer Hinsicht u.a. einen Befundbericht der den Kläger seit April 1997 behandelnden Fachärztin für Orthopädie P1 ... vom 16.02.1999 beigezogen. Diese hat ausgeführt, dass die röntgenologisch sichtbaren Abnutzungserscheinungen an der BWS geringfügigen Ausmaßes seien. Die Abnutzungserscheinungen an der HWS seien fast ebenso ausgeprägt wie an der LWS. Aus einem lumbalen Bandscheiben-CT (LWK 4 bis S 1) vom 06.10.1997 geht hervor, dass der Kläger zu diesem Zeitpunkt unter einer zirkulären Bandscheibenprotrusion mit Einengung beider Zwischenwirbellöcher bei LWK 4/5 litt. Bei LWK 5/S 1 lagen schwere degenerative knöcherne Wirbelkörperveränderungen vor, die das linke Zwischenwirbelloch praktisch völlig verschlossen hatten. Weiterhin wurde in dieser Höhe eine schwere Osteochondrose gefunden.

Die Beklagte hat hierzu ein fachärztlich-orthopädisches Gutachen nach Aktenlage vom 29.09.1999, erstellt von dem Facharzt für Orthopädie P2 ..., vorgelegt, in dem der Gutachter ein wiederkehrendes zervikales und lumbales Reizsyndrom bei Torsionsskoliose und groben degenerativen Veränderungen diagnostizierte. Die medizinischen Voraussetzungen für eine BK Nr. 2109 seien eindeutig nicht gegeben. Von degenerativen Veränderungen seien im Bereich der HWS nur die Segmente C 5/6 und C 6/7 befallen, also jene Segmente, an den sich auch bei der Gesamtbevölkerung mit großer Häufigkeit degenerative Veränderungen fänden. Im Bereich der LWS liege zweifellos eine bandscheibenbedingte Erkrankung vor. Betroffen seien die Bandscheiben unterhalb LWK 2, die Segmente L 4/5 und L 5/S 1 seien besonders betroffen. Hierbei handele sich um jene beiden Bewegungssegmente der LWS, in denen sich auch bei der Gesamtbevölkerung mit großer Häufung und oft frühzeitig degenerativer Veränderungen fänden. Es liege ein Zustand vor, der angesichts des Lebensalters des Klägers erwartet werden könne, ohne dass es dafür von außen kommender Einflüsse, seien sie nun beruflicher oder privater Natur bedurft habe. Soweit auch die Segmente L 2/3 und L 3/4 betroffenen seien, könne dies auf die hochgradige Torsionsskoliose der Lendenwirbelsäule zurückgeführt werden. Zudem sei der Befund verdächtig auf einen abgelaufenen Morbus Scheuermann.

Ferner hat das SG die Erstellung einer Expositionsanalyse veranlasst. Im Schreiben vom 17.04.2000 hat der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten (TAD) ausgeführt, dass die ar- beitstechnischen Voraussetzungen für eine BK Nr. 2108 und 2109 hinsichtlich der vom Kläger von 1964 bis 1993 ausübten Tätigkeit nicht vorgelegen hätten. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen zur Annahme einer gefährdenden Belastung im Sinne der BK-Nr. 2110 seien als gegeben anzunehmen.

Ferner hat das SG bei Prof. Dr. D ... ein Gutachten in Auftrag gegeben. Dieser hat im Gutachen vom 28.08.2000 folgende Diagnosen gestellt:

1. lumbales vertebragenes lokales Schmerzsyndrom bei linkskonvexer Lumbalskoliose und polysegmentaler Osteochondrose und Spondylosis deformans,

2. lokales vertebragenes zervikales Schmerzsyndrom bei polysegmentalen degerativen Veränderungen der gesamten unteren HWS,

3. rechts-links-konvexe Thorakolumbalskoliose mit Drehgleiten L 3/4

4. leichte Koxarthrose beiderseits.

Beim Kläger liege eine bandscheibenbedingte Erkrankung sowohl der LWS als auch der HWS vor. Ferner bestehe eine rechts-links-konvexe Thorakolumbalskoliose mit lumbaler Primärschwingung. Darüber hinaus fänden sich Verschleißprozesse mit besonderer Betroffenheit der HWS, aber auch der LWS, etwas geringer graduell, aber ebenfalls mit polysegmentaler Ausbreitung auch an der BWS. Der röntgenpathologische Befund sei absolut nicht belastungskonform mit dem Berufsleben. Es handele sich vielmehr um das typische Verteilungsmuster eines endogenen Degenerationsbefundes mit Zeichen der Spondylosis hyperostotica. Damit liege eine BK Nr. 2110 nicht vor.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG am 08.12.2000 hat der Kläger noch die Anerkennung und Entschädigung seiner Lendenwirbelsäulenbeschwerden als Berufskrankheit im Sinne einer BK Nr. 2110 beantragt. Das SG hat der Klage mit Urteil vom gleichen Tage stattgegeben und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass nicht nur die arbeitstechnischen, sonderen auch die medizinischen Voraussetzungen einer BK Nr. 2110 vorlägen. Insoweit seien von oben nach unten abnehmende Schäden der LWS typisch. Die von Prof. Dr. D ... röntgenologisch diagnostizierte erhebliche links-konvexe Skoliose mit Drehgleiten bei L 3/4 könne die degenerativen Veränderungen an den Segmenten L 1 bis L 4 begründen, nicht jedoch die erheblichen degenerativen Veränderungen an den Segmenten L 4/5 und L 5/S 1. Entgegen der Ansicht von Dr. P2 ... fänden sich keine altertypischen Veränderungen, sondern eine erhebliche Bandscheibenschädigung, die nicht allein mit einer schicksalshaften Veränderung zu begründen sei. Insgesamt sei zumindest von einer wesentlichen Mitursächlichkeit der beruflichen Einwirkungen auszugehen, zumal das im hauptsächlichen betroffenen Lendenwirbelsäulenabschnitt festzustellende Schadensbild nach Art und Lokalisation im Sinne einer BK Nr. 2110 belastungskonform sei.

Gegen das ihr am 19.01.2001 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 02.02.2001 Berufung eingelegt und zur Begründung insbesondere darauf hingewiesen, dass medizinische Aussagen, welche die Auffassung des Sozialgerichtes stützen könnten, nicht vorlägen und dass auch keine besondere medizinische Sachkenntnis des SG erkennbar sei, auf welche dieses sich in seiner Entscheidung berufen könne. Hinsichtlich der arbeitstechnischen Voraussetzungen werde davon ausgegangen, dass diese erfüllt seien.

Das Berufungsgericht hat ein weiteres orthopädisches Gutachten in Auftrag gegeben. Dr. F ..., Chefarzt der Orthopädie, Medianklinik B ...L ... hat im Gutachten vom 18.12.2002 ein lokales Lumbalsyndrom bei polysegmentaler Osteochondrose und Spondylosis deformens diagnostiziert. Es bestehe zweifelsfrei eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule. Der Bandscheibenschaden sei durch bildgebende Befunde objektiviert und durch klinische Relevanz gesichert. Es bestehe ein chronisch rezidivierendes Beschwerdebild mit Funktionseinschränkungen. Um hinsichtlich des Zusammenhanges zwischen Exposition und Erkrankung die Zuverlässigkeit der gutachterlichen Aussage zu erhöhen, sei die Individualbetrachtung anhand einer Reihe von Beurteilungskriterien erfolgt, nämlich:

1. Zeitpunkt der Erstmanifestation der Erkrankung sowie deren Verlaufsbeurteilung 2. Ausmaß der bildtechnischen Degeneration 3. Lokalisation der Degenerationen an verschiedenen Wirbelsäu lenabschnitten 4. Konkurrierende Ursachen an der Wirbelsäule 5. Sonstige konkurrierende Ursachen 6. Konkurrierende Tätigkeiten.

Der Kläger habe seit ca. 1985 LWS-Beschwerden wechselnder Intensität, somit seit einem Zeitpunkt, zu dem er bereits ca. 20 Jahre wirbelsäulenexponiert tätig gewesen sei. Das Krankheitsbild habe sich ab ca. 1985 zunehmend entwickelt und sei ab etwa Anfang 1990 nahezu dauernd ausgeprägt gewesen bis zur Beendigung der schädigenden Tätigkeit im Dezember 1993. Es bestehe eine zeitliche Korrelation zwischen Erkrankungsbeginn und Erkrankungsverlauf und beruflicher Überlastung. Art und Ausmaß der LWS-Degeneration seien als belastungskonform anzusehen. Am thorakolumbalen Übergang und an allen Lendenwirbelkörpersegmenten fänden sich bildtechnisch (Röntgenbild, CT) ausgeprägte Veränderungen, die das alterdurchschnittlich zu erwartende Ausmaß überschritten. Bei Einwirkungen im Sinne der BK-Nr. 2110 handele es sich um Ganzkörperschwingungen mit niedrigen Frequenzen, die zu Resonanzschwingungen des Rumpfes und der Wirbelsäule führten, wobei bei Nichtvorhandensein schwingungsdämmender Sitze vor allem die Wirbelkörper TH 12, L 2 und L 4 unter frequenzabhängiger Schwingungserregung stünden. Insofern fänden sich nicht nur Verschleißzeichen der Bandscheiben in den beiden unteren Segmenten L 4/5 und L 5/S 1, den physiologisch am stärksten belasteten Segmente, sondern in allen LWS-Segmenten. Bei einem Vergleich des exponierten und nicht exponierten Wirbesäulenabschnittes zeigten sich zwar auch osteochondrotische und spondylotische Umbauten an der Brustwirbelsäule, die nach porximal abnehmen, diese seien aber nicht so stark ausgeprägt wie im thorako-lumbalen Übergang und an der gesamten LWS. Auch an der unteren HWS fänden sich Verschleißzeichen stärkeren Ausmaßes. Es sei aber eindeutig eine Akzentuierung der Umformungen im LWS-Abschnitt auszumachen. Als mögliche konkurrierende Ursache müsse eine wahrscheinlich anlagebedingte Fehlhaltung der Wirbelsäule (Skoliose I. Grades) genannt werden. Es handele sich um eine leichte Skoliose mit einem Krümmungswinkel der Seitabweichung zwischen 5 und 20°. Bis etwa 20° sei die Wirbelsäule noch in einer statisch kompensierten Einstellung. Klinisch sei die Skoliose nie auffällig gewesen und sei auch bei Einstellungs- und Gesundheitsuntersuchungen nie erwähnt worden. Der zunehmende Verschleißprozess mit segmentalem Drehgleiten L 3/4 habe zu einer gewissen Progredienz der lumbalen Krümmung geführt, während die leichte BWS-Verkrümmung bis heute auch klinisch weitestgehend ohne Bedeutung geblieben sei.

Unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles spreche wesentlich mehr für einen Zusammenhang zwischen schädigender beruflicher Tätigkeit und der bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS als dagegen. Es sei nicht zu begründen, dass der Kläger auch ohne die berufliche Tätigkeit an den vorliegenden bandscheibenbedingten LSW-Beschwerden erkrankt sei wäre und die Erkrankung zu etwa demselben Zeitpunkt in etwa derselben Intensität ohne die berufliche Tätigkeit aufgetreten wäre. Die anlagebedingte Erkrankung (Skoliose I. Grades) habe im Vergleich zur beruflichen Tätigkeit eine untergeordnete Bedeutung. Den Feststellungen von Prof. Dr. D ..., dass die röntgen-pathologischen Befunde absolut nicht belastungskonform mit dem Berufsleben seien und er sich vielmehr über das typische Verteilungsmusters eines endogenen Degenerationsbefundes mit Zeichen der Sponylosis hyperostotica handele, könne er sich nicht anschließen. Bei dieser Erkrankung handele es sich um fließende Verknöcherungen längs der Wirbelkörpervorderflächen. Bei diesem generalisierten Leiden fänden sich diese Veränderungen am Achsen- und Anhangsskelett. Die Bandscheibenräume seien bei diesem Krankheitsbild gut erhalten. Beim Kläger lägen aber andersartige Veränderungen vor. Auch die Tatsache, dass sich an BWS und HWS degenerative Veränderungen von ähnlichem Ausmaß fänden wie an der Lendenwirbelsäule, könne nicht grundsätzlich und jedenfalls nicht im vorliegenden Fall als Auschlusskriterium für die Anerkennung des Ursachenzusammenhanges dienen. Im Vergleich zur BWS und HWS sei die LWS stärker von degenerativen Veränderungen betroffen. Es könne nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden, dass beim Kläger eine anlagebedingte HWS-Erkrankung unabhängig von einer beruflich bedingten LWS-Erkrankung bestehe. Radiologische Veränderungen der BWS und HWS seien nicht generelles Ausschlusskriterium für die berufliche Verursachung einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule. Unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalles spreche die langsame, sich über Jahre hinwegstreckende Verschlechterung der Beschwerden bei zunächst fortbestehender Exposition, das Schadensbild der Lendenwirbelsäule sowie der gesamten Wirbelsäule mit der überdurchschnittlichen LWS-Belastung über 20 Jahre, wesentlich mehr dafür als dagegen, dass die schädigende berufliche Einwirkung wesentliche Mitursache für die Entstehung der bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule sei. Die Tätigkeit, die zu der Erkrankung geführt habe, hätte aus arbeitsmediznischen Gründen nicht mehr ausgeführt werden können. Insofern liege auch das Tatbestandsmerkmal des Zwanges zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten vor. Als Zeitpunkt der Erstmanifestation der Berufskrankheit sei das Jahr 1985 anzusehen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 08.12.2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Seiner Ansicht nach liegen die Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch vor.

Die Beteiligten haben sich mit Schreiben vom 30.01.2003 und 10.02.2003 mit einer Entscheidung durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten aus beiden Rechtszügen und die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin entscheiden, da das hierfür gemäß § 155 Abs. 4, 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erforderliche Einverständnis vorliegt.

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat zu Recht entschieden, dass es sich bei den Lendenwirbelsäulenbeschwerden des Klägers um eine Berufskrankheit nach der Nr. 2110 der Anlage zur Berufskrankeitenverordnung (BKV) handelt.

Auf das Verfahren ist das Recht der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzuwenden, da der Versicherungsfall nur nach dem 31.12.1991 und vor dem 01.01.1997 eingetreten sein kann. Die Vorschriften der RVO, insbesondere die Vorschriften über Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§§ 547 ff. RVO) wurden durch das Renten-Überleitungsgesetz vom 25.07.1991 (Bundesgesetzblatt I, S. 1606) im sog. Beitrittsgebiet mit Wirkung vom 01.01.1992 in Kraft gesetzt und waren anzuwenden bis zum Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 01.01.1997.

§ 547 RVO bestimmt, dass der Träger der Unfallversicherung nach Eintritt des Arbeitsunfalles nach Maßgabe der folgenden Vorschriften Leistungen, insbesondere Verletztenrente gewährt. Als Arbeitsunfall gilt gemäß § 551 Abs. 1 Satz 1 RVO auch eine Berufskrankheit. Berufskrankheiten sind die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer in den §§ 539, 540 und 543 - 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet (§ 551 Abs. 1 Satz 2 RVO). Eine solche Bezeichnung nimmt die Berufskrankheitenverordnung (BKV) mit den so genannten Listenkrankheiten vor.

Eingetreten ist der Versicherungsfall Berufskrankheit zu dem Zeitpunkt, zu dem sich die Gefährdungen realisiert haben, vor denen die gesetzliche Unfallversicherung Schutz gewähren soll, damit zu dem Zeitpunkt des Eintritts jedes Gesundheitsschadens, der die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale einer Berufskrankheit erfüllt (Mehrtens/Perlebach, Die Berufskrankheitenverordnung/BKV, Kommentar, Stand: März 2002, E § 9 SGB VII Randnr. 42 S. 97 ff. m. w. N.). Diese sind gegeben, wenn die schädigende Einwirkung einen regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand verursacht hat, der die Krankheitsmerkmale eines Berufskrankheitentatbestandes erfüllt und wenn gegebenenfalls erforderliche besondere Merkmale, insbesondere die Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten, vorliegen (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Handkommentar, Stand: August 2002, § 9 SGB VII Rdnr. 7).

Das Merkmal des Unterlassens aller gefährdenden Tätigkeiten setzt in der Regel voraus, dass die Tätigkeit, die zu der Erkrankung geführt hat, aus arbeitsmedizinischen Gründen nicht mehr ausgeübt werden soll und dass der Versicherte die schädigende Tätigkeit und solche Tätigkeiten, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich sein können, tatsächlich objektiv aufgegeben hat, wobei es auf das Motiv des Versicherten nicht ankommt. Zu berücksichtigen ist des Weiteren, dass das Merkmal der Aufgabe der belastenden Tätigkeit erst dann erfüllt ist, wenn alle belastenden Tätigkeiten in vollem Umfange aufgegeben worden sind (Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 22.08.2000, B 2 U 34/99 R). Das Merkmal der Aufgabe der beruflichen Beschäftigung hat nämlich den Zweck, ein Verbleiben des Versicherten auf dem ihn gefährdenden Arbeitsplatz zu verhindern und dadurch eine Verschlimmerung der Krankheit mit der Folge eine einer erhöhten Entschädigungsleistung zu verhüten. Um diesem Präventionszweck zu genügen, muss jede mögliche Gefährdung vermieden werden. Da der Kläger erst zum 31.08.1995 die schädigende Tätigkeit in vollem Umfang aufgegeben hat - es kann davon ausgegangen werden, dass die im August 1995 ausgeübte berufliche Tätigkeit in einer Spedition zumindest in einem geringeren Umfange wirbelsäulenbelastend war - , kann der Versicherungsfall nur zu diesem Zeitpunkt eingetreten sein.

Der Kläger leidet an einer BK Nr. 2110 der Anlage zur BKV, somit an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen (BK Nr. 2110), die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen hat, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich war oder sein kann.

Er war langjährig (fast dreißig Jahre) vorwiegend vertikalen Einwirkungen von Ganzkörperschwingungen im Sitzen im Sinne der BK Nr. 2110 ausgesetzt.

Eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS lag ab ca. 1985 vor. Auch das weitere Tatbestandsmerkmal des so genannten Unterlassungszwanges ist erfüllt, da der Kläger gehalten war, die schädigende Tätigkeit aufzugeben und dies auch tatsächlich getan hat.

Die berufliche Tätigkeit hat die bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS rechtlich wesentlich verursacht.

Hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhanges zwischen der beruflichen Tätigkeit des Klägers und seinen Wirbelsäulenbeschwerden ist keine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit erforderlich; bloße Wahrscheinlichkeit ist ausreichend. Das bedeutet, dass beim vernünftigen Abwägen aller Umstände die auf die berufliche Verursachung deutenden Faktoren so stark überwiegen, dass darauf die Entscheidung gestützt werden kann (z.B. BSG SozR 2200 § 548 Nr. 38). Eine Möglichkeit verdichtet sich dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlich wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden. Die für den Kausalzusammenhang sprechenden Umstände müssen die gegenteiligen dabei deutlich überwiegen (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Handkommentar, Stand: August 2002, § 8 Rd-Nr. 10.1 mit weiteren Nachweisen).

Sofern ein Kausalzusammenhang unter Anwendung dieser Grundsätze zu bejahen ist, ist weiter zu beachten, dass eine Berufskrankheit nur dann infolge einer versicherten Tätigkeit eingetreten und als Berufskrankheit anzuerkennen und zu entschädigen sein kann, wenn die beruflichen Belastungen in rechtlich wesentlicher Weise bei der Krankheitsentstehung mitgewirkt haben. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS regelmäßig nicht monokausal erklärbar sind, weil nicht nur berufliche Belastungen auf die LWS einwirken, sondern immer auch eine Disposition (Vulnerabilität) eine Rolle spielen kann. Denn wenn schon unter "normalen" Belastungen des täglichen Lebens bandscheibenbedingte Erkrankungen auftreten, ist immer damit zu rechnen, dass auch Versicherte, die langjährig den in BK Nrn. 2108/2110 genannten Belastungen ausgesetzt sind, zu jenem Personenkreis gehören, dessen Bandscheibengewebe allgemein weniger widerstandsfähig ist. Bei solch kausaler Konkurrenz ist unter Abwägung des Wertes der einzelnen Bedingungen festzustellen, ob das versicherte Risiko (mit Wahrscheinlichkeit) rechtlich wesentlich zum Erfolg beigetragen hat. Dabei schließt die Mitwirkung (einer oder mehrerer) rechtlich wesentlicher Ursachen aus dem unversicherten Bereich den Versicherungsschutz nicht aus. Das ist nur dann der Fall, wenn solche Umstände rechtlich allein wesentlich sind. Sie müssen die versicherten Umstände überragen oder - anders ausgedrückt - in den Hintergrund drängen. Rechtlich wesentlich sind die beruflichen Ursachen mithin nicht nur dann, wenn sie im Vergleich zu den übrigen Bedingungen gleichwertig oder annähernd gleichwertig sind, sondern bereits auch dann, wenn sie zwar nicht gleichwertig, aber auch nicht völlig zu vernachlässigen sind. Dabei muss die jeweilige Beziehung zum Erfolg nicht sicher feststehen, sondern nur wahrscheinlich sein. Diese Grundsätze sind auch auf die Kausalitätsbetrachtung von berufsbedingten Bandscheibenerkrankungen der LWS und deren weiteren Folgen anzuwenden (so schon LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 26.9.1995 - L 15 U 89/95 - Breith 1996, 918, 920 f. m.w.N.; nachfolgend der die Nichtzulassungsbeschwerde des Unfallversicherungsträgers verwerfende Beschluss des BSG vom 31.5.1996 - 2 BU 237/95 - SozR 3-5680 Art. 2 Nr. 1)

Vorliegend ergibt sich hiernach Folgendes:

Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass die berufliche Tätigkeit die beim Kläger jetzt vorliegende Erkrankung der Lendenwirbelsäule (mit)verursacht hat. Insoweit geht das Gericht mit Dr. F ... davon aus, dass der versicherten Tätigkeit des Klägers eine solchermaßen umschriebene wesentliche Bedeutung zukommt, weil andere, berufsunabhängige Ursachenbeiträge entweder schon nicht gesichert sind oder ihnen keine überragende Bedeutung zukommt und der berufliche Verursachungsanteil auch aus sonstigen Gründen nicht mit Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann. Für einen Zusammenhang zwischen beruflicher Tätigkeit und Erkrankung spricht zunächst das bezüglich der Bandscheibendegeneration sog. belastungskonforme Schadensbild: Im unteren Teil der LWS finden sich mehrsegmental vorhandene Bandscheibenschäden mit belastungsadaptiven Veränderungen, die altersvorauseilend und, wenn auch nur geringfügig, stärker ausgeprägt als die degenerativen Veränderungen der Bandscheiben der HWS und LWS sind.

Soweit Prof. Dr. D ... vom Vorliegen eines sog. Morbus Forrestier (Spondylosis hyperostotica) ausgegangen ist, ist dies nicht überzeugend. Wie Dr. F ... nachvollziehbar dargelegt hat und dem Gericht auch aus anderen Verfahren bekannt ist (vgl. Urteil vom 18.12.2002, L 2 U 40/01), ist diese Erkrankung durch eine überschießende Verkalkung der Längsbandstrukturen gekennzeichnet, während die Zwischenwirbelräume in der Regel normal weit sind. Eine Verschmälerung von Zwischenwirbelräumen (als Ausdruck einer bandscheibenbedingten Erkrankung), wie sie beim Kläger im Bereich der LWS gegeben ist, kann nicht auf diese Erkrankung zurückgeführt werden.

Gegen eine berufliche Verursachung der bandscheibenbedingten Erkrankung spricht auch nicht ein früher Beschwerdebeginn. Zwar hat der Kläger einmal angegeben, bereits 1968 erstmals Beschwerden im LWS-Bereich verspürt zu haben. Jedoch kann aus diesem einmaligen Ereignis nicht geschlossen werden, dass bereits zu diesem Zeitpunkt eine relevante Erkrankung im LWS-Bereich vorgelegen hat. Vielmehr ist mit Dr. F ... und auch Prof. Dr. D ... davon auszugehen, dass Beschwerden in einem hinsichtlich des Vorliegens einer bandscheibenbedingten Erkrankung bedeutsamen Ausmaß erst ab ca. Mitte der 80er Jahre vorgelegen haben, somit zu einem Zeitpunkt, zu dem Kläger bereits weit über 10 Jahre gegenüber Ganzkörperschwingungen exponiert war.

Hinsichtlich der beim Kläger vorliegenden Torsionsskoliose hat auch Prof. Dr. D ... nicht die Ansicht vertreten, dass diese rechtlich allein wesentlich für die Entstehung der bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS gewesen sei. Dr. F ... hat zudem ausgeführt, dass es sich seiner Ansicht nach um eine nur leichte Torsionsskoliose handele (Krümmungswinkel zwischen 5° und 20°; vgl. auch Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Auflage 1998, S. 506). Angesichts der insoweit übereinstimmenden Ansichten der Gutachter ist jedenfalls nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davona auszugehen, dass Torsionsskoliose die rechtlich allein wesentliche Ursache für die bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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