L 17 B 258/04 U PKH

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 2 U 423/00
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 17 B 258/04 U PKH
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Entscheidet ein Sozialgericht über einen Antrag auf Prozesskostenhilfe (PKH) zusammen mit der Klage, beruht die Ablehnung der Gewährung von PKH auf einer Verletzung des Verfassungsgrundsatzes des rechtlichen Gehörs.
2. Ein solches Vorgehen widerspricht zugleich einer am Rechtsstaatsprinzip orientierten "fairen Verfahrensführung".
3. Eine verzögerliche Bearbeitung des PKH-Gesuchs durch das Gericht darf sich nicht nachteilig auf die Bewilligung der PKH auswirken.
4. Erziehungsgeld zählt nicht als Einkommen der Klägerin bei der Prüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse (ebenso OLG Nürnberg FamRZ 2002, 104).
I. Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 16.12.2003 insoweit aufgehoben, als es den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt hat.
II. Der Klägerin wird für das sozialgerichtliche Verfahren antragsgemäß ab 11.07.2001 Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt V. M. beigeordnet.

Gründe:

I.

Die Klägerin begehrt mit ihrer Beschwerde die Aufhebung der Ablehnung der Prozesskostenhilfe (PKH) mit Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 16.12.2003 und die Beiordnung des Rechtsanwaltes V. M ...

Die Beklagte lehnte nach Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens des Dr.F. vom 07.12.1999/21.01.2000 und eines fachchirurgischen Gutachtens des Dr.B. vom 07.04.2000 mit Bescheid vom 16.05.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16.11.2000 die Anerkennung und Entschädigung einer Halswirbelsäulen-Erkrankung als Arbeitsunfall ab. Im zwischenzeitlich rechtskräftig abgeschlossenen Hauptsacheverfahren S 2 U 423/00 vor dem Sozialgericht Nürnberg (SG) hat die Klägerin die Anerkennung und Entschädigung einer Schädigung der Halswirbelsäule auf Grund eines Wegeunfalles vom 12.07.1999 begehrt. Mit Schriftsatz vom 11.07.2001 hat sie die Gewährung von PKH unter Beifügung des Erklärungsformulars über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse beantragt. Am 17.10.2001, 04.02.2002, 11.03.2002, 23.05.2002 und 27.03.2003 hat die Klägerin die Gewährung der PKH beim SG moniert. Ein Hinweis des SG, weshalb es über den Antrag nicht entschieden hat, ist an die Klägerin nicht ergangen. Das SG hat mit Beweisanordnung vom 25.09.2001 ein Sachverständigengutachten des Prof. Dr.L. vom 25.02.2002/16.06.2002/17.03.2003 eingeholt. Dieser hat das vorübergehend eingetretene Beschwerdebild an der Halswirbelsäule auf das Ereignis vom 12.07.1999 zurückgeführt. Der beratende Arzt der Beklagten, Prof. Dr.H. , hat dem Gutachten des Prof. Dr.L. widersprochen. Prof. Dr.L. hat an seiner Beurteilung festgehalten. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 16.12.2003 abgewiesen und ist im Wesentlichen den Bescheiden der Beklagten gefolgt. Die Bewilligung von PKH hat es im Urteilstenor unter III. abgelehnt. In den Entscheidungsgründen hat es hierzu sinngemäß ausgeführt, dass es dem Gutachten des Prof. Dr.L. nicht habe folgen können. Bei richtiger Einschätzung wäre der Antrag auf PKH auch im Zeitpunkt seiner Antragstellung abzuweisen gewesen. Das Gericht hätte auch bereits dem Gutachten des Dr.B. folgen können, so dass die Klage von Anfang an keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Das Gesetz kenne auch keinen Zeitpunkt für den Erlass des PKH-Beschlusses.

Gegen die Ablehnung der PKH hat die Klägerin Beschwerde eingelegt und beantragt, ihr für die erste Instanz rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung PKH zu gewähren und Rechtsanwalt V. M. beizuordnen. Sie machte geltend, dass der Antrag auf PKH dann entscheidungsreif sei, wenn sämtliche Unterlagen durch den Antragsteller vorlägen. Dies sei am 11.07.2001 der Fall gewesen. Der Entscheidung sei der Kenntnisstand zur Zeit der Entscheidungsreife zugrundezulegen. Im Zeitpunkt der verzögerlichen Entscheidung bereits eingeholte Gutachten seien bei der Beurteilung der hinreichenden Erfolgsaussicht des Prozesses nicht zu berücksichtigen.

Die Beklagte hat beantragt, die Beschwerde der Klägerin zurückzuweisen.

Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

II.

Die Beschwerde der Klägerin ist gem. § 172 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Entscheidet das SG über ein PKH-Gesuch inkorrekt im Urteil anstatt durch Beschluss, ist die Beschwerde das zulässige Rechtsmittel. Die Rechtskraft eines abschlägigen Urteils steht einer sachlichen PKH-Beschwerdeentscheidung ausnahmsweise nicht entgegen, wenn das SG über den rechtzeitig und vollständig gestellten PKH-Antrag so spät entschieden hat, dass eine Beschwerdeentscheidung vor Abschluss der Instanz nicht mehr ergehen konnte (LSG für das Land Niedersachsen, Breithaupt 1995, 735). Das SG hat über die Frage der Gewährung von PKH nicht durch Beschluss, sondern durch Urteil entschieden. Danach wäre die Beschwerde unstatthaft. Im Prozessrecht ist jedoch allgemein anerkannt, dass die inkorrekte Form einer Entscheidung nicht zum Ausschluss eines sonst zulässigen Rechtsmittels führen darf (Grundsatz der Meistbegünstigung, BSG SozR 3-1720 § 17 a Nr 1 mwN). Die Beschwerde ist auch im Übrigen form- und fristgerecht eingelegt (§ 173 SGG).

Die Beschwerde ist begründet. Nach § 73 a Abs 1 SGG iVm § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder in Raten aufbringen kann (= persönliche Voraussetzungen) auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (= sachliche Voraussetzung). Ist eine Vertretung durch Anwälte - wie hier - nicht vorgeschrieben, wird der Partei auf ihren Antrag nach § 121 Abs 2 ZPO ein zur Vertretung bereiter Rechtsanwalt ihrer Wahl beigeordnet, wenn u.a. die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint.

Diese Voraussetzungen zur Gewährung von PKH waren hier erfüllt. Die Entscheidung des SG ist in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft.

Die Ablehnung der Gewährung von PKH beruht auf einer Verletzung des Verfassungsgrundsatzes des rechtlichen Gehörs. Das SG hat diesen Grundsatz dadurch verletzt, dass es über den Antrag auf PKH zusammen mit der Klage entschieden hat. Es stellt einen von Amts wegen zu beachtenden Mangel im Verfahren dar, wenn ein Gericht einem Rechtsuchenden die Möglichkeit abschneidet, seine Entscheidung, wie es vom Gesetzgeber vorgesehen ist, durch das Rechtsmittelgericht überprüfen zu lassen, bevor über die Sache, für deren Durchführung die Entscheidung begehrt worden ist, entschieden ist (ebenso LSG Hamburg, Urteil vom 05.01.1983 in "Die Sozialversicherung" August 1983, S 216). Sinn und Zweck des PKH-Verfahrens sind nur dann erfüllt, wenn über dieses vorrangig rechtzeitig vor dem Verfahren in der Hauptsache entschieden wird. Nur so ist gewährleistet, dass es dem Rechtsuchenden noch möglich ist, das Verfahren durch weiteren Sachvortrag zu seinen Gunsten vorzubereiten (aaO und BayLSG Urteile vom 17.10.2001 Az: L 18 U 121/01 Juris Nr: BYRE030213172 und vom 25.06.2004 Az: L 18 V 8/04 Juris Nr: BYRE040953377).

Das Vorgehen des SG (Entscheidung über das Gesuch auf Gewährung von PKH nach zweieinhalb Jahren im klageabweisenden Urteil; keine Benachrichtigung der Klägerin trotz fünfmaligem Monieren der Entscheidung) widerspricht zugleich einer am Rechtsstaatprinzip orientierten Verfahrensführung und stellt auch aus diesem Grund einen wesentlichen Verfahrensmangel dar. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl BVerfGE 46, 325-337; 49, 220-243; 51, 150, 156) gehört der Anspruch auf eine "faire" Verfahrensführung zu den wesentlichen Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips, wie es in Artikel 20 Abs 3 Grundgesetz verankert ist. Das Prozessrecht der Sozialgerichtsbarkeit sieht in § 73 a SGG iVm §§ 114 ff ZPO die Möglichkeit der PKH vor, um jedem Bürger ein gewisses Maß an Chancengleichheit bei der Wahrnehmung seiner Interessen vor Gericht zu gewährleisten. Zu den Pflichten des Gerichts gehört es aber nicht nur über den Antrag auf Bewilligung von PKH (§ 117 ZPO) zu entscheiden (§ 127 ZPO), sondern auch dem Antragsteller die Beschwerde gegen eine ablehnende Entscheidung mit dem Ziel zu ermöglichen, diese durch das Berufungsgericht korrigieren zu lassen. Nur auf diese Weise kann eine durch das Beschwerdegericht erfolgte Aufhebung des Ablehnungsbeschlusses und Bewilligung von PKH ihre Wirkung im Prozess vor dem SG entfalten. Bei der vom SG praktizierten Verfahrensweise kann eine Beschwerde die ihr zugedachte Funktion, nämlich eine mögliche Korrektur der Ablehnungsentscheidung v o r der Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr erfüllen. Der Rechtsbehelf eines Beschwerdeführers würde daher ins Leere laufen. Eine solche Vorgehensweise des SG ist mit einer fairen Prozessführung nicht vereinbar (ebenso OLG des Landes Sachsen-Anhalt FamRZ 2000, 106).

Wegen dieser wesentlichen Verfahrensmängel, auf denen die Entscheidung des SG beruht, wäre das Urteil des SG - wäre es nicht rechtskräftig - aufzuheben und die Angelegenheit zur erneuten Entscheidung an das SG Nürnberg zurückzuverweisen gewesen (vgl Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 7.Aufl, § 176 RdNr 4). Die Verfahrensmängel stellen sich als Verstoß gegen das Gerichtsverfahren regelnde Vorschriften dar. Sie sind auch wesentlich, da die Entscheidung auf einer Verletzung verfassungsrechtlicher Grundsätze beruht. Es ist nicht auszuschließen, dass das SG bei ausreichender Anhörung und bei einer fairen Prozessführung anders entschieden hätte. Nachdem die Entscheidung des SG in der Hauptsache aber zwischenzeitlich rechtskräftig ist, kann der Senat nur noch rückwirkend über die Gewährung von PKH entscheiden.

Bei der gebotenen summarischen Prüfung des PKH-Antrags war der Rechtsverfolgung durch die Klägerin die hinreichende Erfolgsaussicht nicht abzusprechen. Die Anforderungen an die Erfolgsaussicht dürfen nicht überzogen werden; ein günstiges Beweisergebnis darf lediglich nicht unwahrscheinlich sein. Eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit genügt (Meyer-Ladewig aaO § 73 a RdNr 7 unter Verweisung auf BayLSG Breith 99, 807). Eine hinreichende Erfolgsaussicht ist regelmäßig erfüllt, wenn vor der Entscheidung des Rechtsstreits noch eine Beweisaufnahme durchgeführt werden muss, z.B. Einholung eines weiteren medizinischen Gutachtens von Amts wegen (aaO; Beschluss des BayLSG vom 02.07.2002 - L 18 B 281/02 U.PKH Juris Nr: BYRE030212950). Als das SG die PKH mit Urteil vom 16.12.2003 abgelehnt hat, hatte es die Beweisaufnahme bereits abgeschlossen. Zwar ist grundsätzlich bei der Prüfung der Erfolgsaussicht auf den Zeitpunkt der PKH-Entscheidung des Gerichts abzustellen. Ein früherer Zeitpunkt kommt aber dann in Betracht, wenn sich die Entscheidung des Gerichts über den Antrag auf PKH verzögert hat und damit Änderungen zum Nachteil des Beschwedeführers eingetreten sind (Meyer-Ladewig aaO RdNr 7 b). Entscheidet das Gericht nicht zum frühestmöglichen Zeitpunkt, sondern erst nach der Beweiserhebung, so ist der verspäteten Entscheidung der Erkenntnisstand zugrundezulegen, den das Gericht im Zeitpunkt der PKH-Entscheidungsreife (also vor Einholung des Sachverständigengutachtens) hatte. Die durch die Beweiserhebung nachträglich vom SG gewonnenen Erkenntnisse, auch wenn sie - wie hier - für den Beschwerdeführer negativ sind, müssen demgegenüber unberücksichtigt bleiben (Krasney/Udsching Handbuch des Sozialgerichtlichen Verfahrens, 3.Aufl, S 209; Meyer-Ladewig aaO RdNr 13 d). Andernfalls könnte das Gericht den PKH-Anspruch durch verzögerliche Behandlung zunichte machen, ohne dass der unbemittelte Beteiligte darauf Einfluss nehmen könnte. Eine verzögerliche Bearbeitung des PKH-Gesuchs durch das Gericht darf sich nicht zum Nachteil des Beteiligten auswirken (Beschluss des erkennenden Senats vom 26.08.2003 Az: L 17 B 286/02 U.PKH).

Die Klägerin hatte bereits am 11.07.2001 Antrag auf PKH gestellt und alle erforderlichen Unterlagen vorgelegt. Das Gericht hat dann mit Beweisanordnung vom 25.09.2001 Prof. Dr.L. mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Zu diesem Zeitpunkt hätte es bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang bereits über das PKH-Gesuch entscheiden können. Mit der Beweisanordnung war nämlich der Zeitpunkt der Entscheidungsreife gegeben. Auf Grund der Anordnung der Beweisaufnahme, also der Einholung eines weiteren medizinischen Gutachtens von Amts wegen, war die hinreichende Erfolgsaussicht gegeben (Meyer-Ladewig aaO, RdNr 7; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4.Aufl, S 258/8-14/21).

Die Beiordnung eines Rechtsanwalts ist auch erforderlich (§ 121 Abs 2 ZPO). Sie entspricht der Absicht des Gesetzgebers (vgl § 73 a SGG), kann also nicht unter Bezugnahme auf den in der Sozialgerichtsbarkeit geltenden Amtsermittlungsgrundsatz verneint werden. Der vorliegende Rechtsstreit ist materiell-rechtlich und prozessual nicht so einfach gelagert, dass eine anwaltliche Unterstützung entbehrlich gewesen wäre. Bei der Frage nach der Schwierigkeit einer Streitsache spielen nicht nur rechtliche, sondern auch tatsächliche Fragen (z.B. medizinischer Art) eine erhebliche Rolle (Jansen Sozialgerichtsbarkeit 5/1982 S 186). Die Sach- und Rechtslage war für die Klägerin vorliegend schwer zu übersehen. Sie bedurfte anwaltlicher Hilfe, um sachgerechte prozessuale Anträge zu stellen.

Die persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung von PKH sind gegeben; sie ergeben sich aus der Anlage, die Bestandteil dieses Beschlusses ist, dem Gegner ohne Zustimmung des Antragstellers aber nicht bekannt gegeben werden darf (§ 117 Abs 2 Satz 2 und § 127 Abs 1 Satz 3 ZPO).

Dieser Beschluss ergeht kostenfrei und ist unanfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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