L 7 P 31/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
7
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 14 P 29/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 P 31/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
x
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 2. April 2004 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Bewilligung von Leistungen nach Pflegestufe II ab 05.07.2001 streitig.

Bei dem 1984 geborenen Kläger liegt das Morbus-Down-Syndrom vor. Nachdem die Beklagte zunächst eine Leistungsgewährung aus der Pflegeversicherung abgelehnt hatte, schlossen die Beteiligten im Rahmen des Klageverfahrens S 2 P 92/98 am 30.07.1999 einen Vergleich dahingehend, dass die Beklagte ab 01.08.1998 Leistungen nach Pflegestufe I bewilligt.

Am 05.07.2001 wurden Leistungen nach Pflegestufe II beantragt und ein Pflegetagebuch vorgelegt.

Der Kläger wurde am 07.09.2001 durch eine Pflegefachkraft des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen in Bayern (MDK) aufgesucht. In dem Gutachten vom 13.09.2001 wurde ein Grundpflegebedarf von 94 und in der hauswirtschaftlichen Versorgung von 60 Minuten angegeben. Mit Bescheid vom 18.09.2001 lehnte die Beklagte die Bewilligung höherer Leistungen ab.

Mit dem Widerspruch wurde vorgebracht, die erforderliche Beaufsichtigung beim Essen sei nicht berücksichtigt worden; der Kläger leide schon jetzt an Adipositas und erhöhten Harnsäurewerten und würde ohne Aufsicht sehr viel mehr und vor allem ungesunde Lebensmittel essen.

Den Widerspruch wies die Beklagte nach Einholung einer Stellungnahme nach Aktenlage durch die Dipl.-Medizinerin M. mit Widerspruchsbescheid vom 06.03.2002 als unbegründet zurück.

Hiergegen ist für den Kläger zum Sozialgericht Regensburg (SG) Klage erhoben und ein für das Vormundschaftsgericht des Amtsgerichts Amberg erstelltes Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr.K. vorgelegt worden. Zur Begründung der Klage ist ausgeführt worden, bei fünf Mahlzeiten sei ein pflegerischer Einsatz von jeweils 20 Minuten erforderlich.

Das SG hat Befundberichte des Hautarztes Prof.Dr.G. und des Allgemeinarztes Dr.R. eingeholt. Auf Anregung des zum Sachverständigen bestellten Arztes für öffentliches Gesundheitswesen Dr.E. hat es eine weitere Stellungnahme des Prof.Dr.G. vom 29.01.2003 und eine Stellungnahme der St.-M.-Werke e.V. G. vom 31.01.2003 eingeholt. In dem nach Untersuchung des Klägers am 03.03.2003 erstellten Gutachten hat Dr.E. einen Grundpflegebedarf von 76 Minuten täglich und in der hauswirtschaftlichen Versorgung von 60 Minuten für erforderlich gehalten.

Auf Antrag des Klägers ist der Facharzt für Allgemeinmedizin und Verkehrsmedizinische Begutachtung Dr.R. mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt worden. Dieser hat in dem Gutachten vom 23.01.2004 ausgeführt, bei den Untersuchungen in seiner Praxis am 29.12.2003 seien die Mutter des Klägers und die Pflegefachkraft C. S. anwesend gewesen. In der Grundpflege betrage der Bedarf 174 Minuten täglich und in der hauswirtschaftlichen Versorgung 14 Minuten.

In ihrer Stellungnahme vom 16.02.2004 hat die Beklagte gerügt, dass anzunehmen sei, dass die Nahrungsaufnahme des Klägers im Beisein der Mutter, während diese auch selbst esse, stattfinde. In einer vom SG angeforderten ergänzenden Stellungnahme vom 23.03.2004 hat Dr.R. ausgeführt, er könne als Arzt lediglich die Behinderungen und die Pflegebedürftigkeit bei den Behinderungen feststellen. Die seinem Gutachten beigefügte handschriftliche Aufstellung der Pflegeverrichtungen und ihrer Dauer seien nach eingehender Diskussion zwischen ihm, der Mutter des Klägers und Frau S. erstellt worden. Zur näheren Erläuterung der Pflegezeiten bitte er, eine Auskunft von Frau S. einzuholen.

Mit Urteil vom 02.04.2004 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Kammer folge im Ergebnis dem Gutachten des Sachverständigen Dr.E. , der übereinstimmend mit den zwei MDK-Gutachten einen Gesamtpflegebedarf festgestellt habe, der der Pflegestufe I entspreche. Das Gutachten des Dr.R. könne die Kammer nicht überzeugen. Dieses genüge schon nicht den formellen Anforderungen des Beschlusses vom 07.10.2003, in dem ausdrücklich festgestellt worden sei, dass der Gutachter das Pflegegutachten allein zu erstellen habe; er könne sich einer Hilfsperson bedienen, der Sachverständige sei aber darüber hinausgegangen, weil der Pflegebedarf völlig alleine von der Pflegefachkraft S. festgestellt worden sei; dies räume der Sachverständige sogar ein, wenn er dem Gericht empfehle, nähere Erläuterungen bei Frau S. einzuholen. Dr.E. habe bei der Körperpflege großzügig eine Ganzkörperwäsche von 15 Minuten sowie Hilfe beim Baden/Duschen von 20 Minuten zugestanden. Die in dem Gutachten des Dr.R. angeführten 68 Minuten seien zu hoch gegriffen. Das mundgerechte Herrichten des Essen habe Dr.E. mit 5 Minuten ausreichend bedacht. Hierbei habe der Gutachter auch berücksichtigt, dass der Kläger für die Nahrungsaufnahme etwas mehr Zeit brauche als andere Pflegebedürftige, denn der Pflegekorridor in den Richtlinien sehe für diese Verrichtung nur 2 bis 3 Minuten vor. Demgegenüber können die in dem Gutachten des Dr.R. angegebenen 76 Minuten das Gericht nicht überzeugen. Ein ständiges Beaufsichtigen bei der Nahrungsaufnahme könne nicht dergestalt verwertet werden, dass über den Pflegekorridor für Nahrungaufnahme von 15 bis 20 Minuten in den Richtlinien dermaßen stark hinausgegangen werde. Das Gericht könne sich des Eindrucks nicht verschließen, dass in den Block Ernährung hauswirtschaftliche Tätigkeiten miteingeflossen bzw. Tätigkeiten beim gemeinsamen Essen mit dem Kläger zu Pflegezeiten hochstilisiert worden seien. Dr.E. habe für den Bereich Mobilität korrekt 14 Minuten angesetzt. Die von Dr.R. angenommenen zusätzlichen 10 Minuten können nicht überzeugen, da beim Kläger letztlich nur die Feinmotorik fehle.

Mit der gegen dieses Urteil eingelegten Berufung wird vorgebracht, Frau S. habe die entsprechenden Angaben lediglich schriftlich fixiert, worauf der Sachverständige Bezug genommen habe. Zu Recht seien 86 Minuten für die Körperpflege angesetzt worden, da der Kläger an einer Hautkrankheit leide und diese es erforderlich mache, ihn zweimal täglich mit einer Salbe einzureiben bzw. öfters zu waschen. Bezüglich der Nahrungsaufnahme sei eine ständige Beaufsichtigung notwendig. Nach der Rechtsprechung des BSG sei auch die reine Beaufsichtigung einer Verrichtung zeitlich voll zu berücksichtigen, wenn die Pflegeperson zeitlich und örtlich durch diese Verrichtung vollständig gebunden sei. Beim Kläger sei nicht nur eine Ergebniskontrolle, sondern eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erforderlich. Ohne ständige Aufforderung und Ermahnung würde er krankheitsbedingt zu Fehlhandlungen neigen und das für ihn notwendige und erforderliche Essen verweigern und unterlassen. Selbst wenn die Mutter ihrerseits an der Mahlzeit teilnehmen würde, wäre dies als Teil der aktivierenden, auf Nachahmung beruhenden Pflege zu werten und wäre selbst dann für die rechtliche Berücksichtigung als Pflegezeit unschädlich, wenn dieses Moment der aktivierenden Pflege nicht hinzutrete. Beim Kläger bestehe tatsächlich ein Grundpflegebedarf von mindestens 154 Minuten täglich.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 02.04.2004 und den Bescheid der Beklagten vom 18.09.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.03.2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 05.07.2001 Leistungen nach der Pflege II zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 02.04.2004 zurückzuweisen.

Das Gutachten des Dr.R. sei für die Entscheidungsfindung nicht geeignet, wie bereits mit Schriftsatz vom 16.02.2004 ausgeführt worden sei.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Verwaltungsunterlagen der Beklagten und der Verfahrensakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), ein Ausschließungsgrund (§ 144 Abs.1 SGG) liegt nicht vor.

In der Sache erweist sich das Rechtsmittel als unbegründet.

Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen, da der Kläger keinen Anspruch auf Leistungen nach Stufe II hat.

Der Anspruch auf Leistungen nach Pflegestufe II setzt gemäß § 15 Abs.3 Nr.2 SGB XI voraus, dass der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere, nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, mindestens drei Stunden beträgt, wobei auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen müssen. Insbesondere letzteres ist im vorliegenden Fall nicht gegeben, da die Hilfe bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der Körperpflege, der Ernährung und Mobilität im Sinne des § 14 Abs.4 SGB XI weniger als zwei Stunden täglich umfasst.

Dies steht auch zur Überzeugung des Senats aufgrund des schlüssigen und überzeugenden Gutachtens des Dr.E. vom 03.03.2003 fest. Danach muss der Kläger zur morgendlichen Ganzkörperwäsche und zu deren korrekten Ausführung angehalten und angeleitet werden, wofür 15 Minuten erforderlich sind. Für das abendliche Duschen oder Baden gilt das gleiche, der von Dr.E. angesetzte Zeitwert von 20 Minuten ist ausreichend und entspricht den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigen nach dem Elften Buch des Sozialgesetzbuches vom 21.03.1997 in der Fassung vom 22.08.2001, die für eine vollständige Übernahme des Duschens 15 bis 20 und für die vollständige Übernahme des Badens 20 bis 25 Minuten vorsehen. Da beim Kläger eine solche vollständige Übernahme nicht erforderlich ist, sind die angesetzten 20 Minuten ausreichend, zumal Prof.Dr.G. in seiner Stellungnahme vom 29.01.2003 nur zwei- bis dreimal die Woche ein Bad für erforderlich gehalten hat. Ein höherer Zeitwert ist nicht begründbar. Die von Prof.Dr.G. angeführte Salbentherapie, die ein- bis zweimal am Tag erfolgen solle, ist der Behandlungspflege zuzuordnen und stellt keine Verrichtung im Sinne des § 14 Abs.4 Nr.1 SGB XI dar. Aus der Stellungnahme des Prof.Dr.G. vom 29.01.2003 ergibt sich, dass diese Salbentherapie nicht mit der Verrichtung Baden untrennbar in Zusammenhang steht, da sie unabhängig vom Baden ein- bis zweimal täglich vorgenommen werden soll.

Im Übrigen hat Dr.E. zutreffend für die Aufforderung und Überwachung des Waschens der Hände bzw. des Mundes im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme usw. 10 Minuten täglich, für die Aufforderung und Überwachung der Zahnpflege 3, für das Kämmen 1 und für das Rasieren 3 Minuten, für die Körperpflege insgesamt 52 Minuten für erforderlich gehalten. Die Hilfe bei der Blasen- und Darmentleerung erfordert 5 Minuten. Notwendig ist insoweit die Anleitung und Beaufsichtigung zur Nachreinigung; die etwa ein- bis zweimal pro Woche vorkommende Inkontinenz erfordert das Wechseln der Unterwäsche und einen höheren Hilfeaufwand beim An- und Auskleiden. Insoweit beträgt der gesamte Aufwand 12 Minuten; dem Kläger muss die der Jahreszeit und der Witterung entsprechende Kleidung hergerichtet, das korrekte Ankleiden muss überwacht werden; wegen der feinmotorischen Defizite müssen das Auf- und Zuknöpfen sowie das Binden von Schnürsenkeln übernommen werden. Zusammen mit dem zweimal pro Woche erforderlichen zusätzlichen Unterwäschewechsel ergeben sich 12 Minuten, für die Aufforderung zum Aufstehen und Zubettgehen sind zusätzliche zwei Minuten erforderlich.

Da der Kläger dazu neigt, zu viel zu essen und sich einseitig zu ernähren, muss ihm das Essen mengen- und qualitätsmäßig vorgegeben werden. Insoweit handelt es sich aber nicht um eine Verrichtung der Grundpflege, vielmehr ist dies der hauswirtschaftlichen Versorgung zuzurechnen. Hilfe bei der Nahrungsaufnahme ist nur das Zerkleinern fester Nahrungsbestandteile; die Nahrungsaufnahme selbst erfolgt durch den Kläger selbständig. Dies ergibt sich insbesondere auch aus der Auskunft des St.-M.-Werk e.V. G. , wonach der Kläger in der Berufsschule das von der Mutter mundgerecht zubereitete Pausenbrot selbständig einnimmt, ebenso das in einer leicht zu öffnenden Flasche mitgegebene Getränk. Die von Dr.E. für die mundgerechte Zubereitung der Nahrung angesetzten 5 Minuten sind ausreichend. Ein darüber hinausgehender Aufwand des Klägers, der sich aus der Neigung ergibt, zu viel zu essen und sich einseitig zu ernähren, ist jedenfalls nicht in dem Umfange begründbar, dass ein Grundpflegebedarf von 120 Minuten erreicht würde. Da Dr.E. einen Grundpflegebedarf von 76 Minuten für erforderlich gehalten hat, müssten diesen zusätzlichen Verrichtungen wenigstens 44 Minuten täglich umfassen. Ein solcher Pflegebedarf ist nicht nachvollziehbar.

Bereits in der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 30.07.1999 in dem Verfahren S 2 P 92/98 hat die Mutter laut Protokoll angegeben, dass der Kläger ohne Überwachung unmäßig essen würde. Dieser Umstand war zusammen mit den übrigen pflegerischen Hilfen Grundlage für die Anerkennung der Pflegestufe I. Dass demgegenüber nunmehr ein höherer Pflegebedarf erforderlich geworden wäre, der das Ausmaß der Pflegestufe II erreicht, ist nicht nachgewiesen. Einer ständigen Aufforderung zur Nahrungsaufnahme bedarf der Kläger offensichtlich nicht, da er keine Abwehrhaltung gegenüber der Nahrungsaufnahme zeigt. Dies ergibt sich auch aus der Auskunft des St.-M.-Werk e.V. Es ist nicht begründbar, dass demgegenüber im häuslichen Bereich in zusätzlicher Pflegebedarf anfallen würde. Der Kläger nimmt das angemessen portionierte und zusammengestellte Essen grundsätzlich selber ein. Gelegentliche Aufforderungen, eine nicht zusagende Speise dennoch zu sich zu nehmen, fällt zeitlich kaum ins Gewicht, zumal zumutbarerweise die Mahlzeit mit der Mutter gemeinsam eingenommen werden kann. Entgegen der Auffassung der Klägerseite kann die bloße Anwesenheit der Mutter, die während der Essenseinnahme des Klägers auch ihre Mahlzeit einnimmt, nicht in ihrer Gesamtheit als Pflegezeit angerechnet werden, da die Mutter durch den Essensvorgang des Klägers nicht in der Weise gebunden ist, dass sie nicht eigenen Verrichtungen, eben der eigenen Essensaufnahme, nachgehen könnte. Soweit es im Lauf des Tages erforderlich sein sollte, den Kläger davon abzuhalten, selbst zusätzliche Nahrung zu sich zu nehmen, handelt es sich hierbei nicht um Hilfe bei der Nahrungsaufnahme, sondern um allgemeinen Aufsichtsbedarf.

Zusammenfassend werden die für die Pflegestufe II erforderlichen 120 Minuten Grundpflege täglich nicht erreicht. Die Berufung des Klägers gegen das zutreffende Urteil des SG vom 02.04.2004 war deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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