L 20 RJ 270/02

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 12 RJ 271/01
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 20 RJ 270/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 11.04.2002 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Der 1965 geborene Kläger hat eine Lehre als Werkzeugmacher absolviert (mit Abschluss im Februar 1984). Nach seinen Angaben in den Anträgen wegen Rente und Berufsförderung war er daran anschließend als Maschinenarbeiter, CNC-Fräser, in verschiedenen Arbeiten in der Metallbranche und zuletzt als Bauhelfer versicherungspflichtig beschäftigt. Seit 1995 bestand Arbeitslosigkeit abwechselnd mit Arbeitsunfähigkeit.

Am 15.09.2000 beantragte der Kläger die Gewährung von Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte ließ ihn untersuchen durch die Sozialmedizinerin Dr.M. , die im Gutachten vom 23.10.2000 folgende Diagnosen nannte: - Alkoholabhängigkeit mit Leberschaden bei zusätzlich bekannter Hepatitis C-Infektion, - Hörverlust rechts nach Felsenbeinfraktur 1983, - multiple Beschwerden am Bewegungsapparat ohne wesentliche funktionelle Störungen. Die Sachverständige erachtete den Kläger für fähig, leichte und mittelschwere Arbeiten in Vollschicht zu leisten, ohne stärkere Lärmbelästigung und ohne Absturzgefahr. Im Beruf als Bauhelfer sollte er nicht mehr eingesetzt werden. Mit Bescheid vom 31.10.2000 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab, da weder Berufs- noch Erwerbsunfähigkeit gegeben sei. Den dagegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Bescheid vom 22.02.2001 zurück. Der Kläger sei in der Lage, leichte und mittelschwere Arbeiten in Vollschicht zu verrichten; nach seinem beruflichen Werdegang sei er auf das gesamte Tätigkeitsfeld des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar.

Gegen diese Entscheidung hat der Kläger am 21.03.2001 Klage beim Sozialgericht Nürnberg erhoben. Das SG hat Befundberichte des Allgemeinarztes Dr.S. und des Internisten Dr.R. zum Verfahren beigenommen und die Akte des Versorgungsamtes Nürnberg beigezogen (GdB = 60). Es hat den Internisten Dr.S. zum ärztlichen Sachverständigen bestellt. Dieser hat das Gutachten vom 15.01.2002 erstattet. Er hat den Kläger insgesamt bei den im Einzelnen aufgelisteten Diagnosen nur noch für fähig erachtet, im Umfang von 3 bis unter 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein; der Zustand bestehe seit Rentenantrag, die Prognose sei eher als ungünstig anzusehen. Mit Urteil vom 11.04.2002 hat das SG die Beklagte verurteilt, ab 15.09.2000 den Leistungsfall der teilweisen Erwerbsminderung auf Dauer und den Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung auf Zeit anzuerkennen und ab 01.01.2001 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auf Dauer und ab 01.04.2001 Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit bis längstens 31.03.2003 zu gewähren; desweiteren hat es der Beklagten die außergerichtlichen Kosten des Klägers auferlegt. Das SG hat sich in der Leistungseinschätzung dem Gutachten von Dr.S. angeschlossen, nach dem der Kläger seit 15.09.2000 eine vollschichtige Erwerbstätigkeit nicht mehr erbringen könne. Die beim Kläger vorliegende Alkoholkrankheit sei von erheblicher und entscheidender Bedeutung für die Beurteilung des Leistungsvermögens. Es bestehe ein chronischer Erschöpfungs- und Schwächezustand, der eine deutliche Einschränkung der körperlichen und psychischen Belastbarkeit bedinge, darüberhinaus auch eine Minderung der Ausdauerfähigkeit. Zwar habe Dr.S. festgestellt, dass die Leber noch normale Leistungen erbringe und dass Anhaltspunkte für eine dekompensierte Leberzirrhose nicht vorlägen; gleichwohl seien die vorliegenden Symptome der raschen Ermüdbarkeit und mangelnden Belastbarkeit bereits in einem Ausmaß vorhanden, das die Annahme eines zeitlich eingeschränkten Leistungsvermögens rechtfertige.

Gegen dieses Urteil richtet sich die am 29.05.2002 beim Bayer. Landessozialgericht eingegangene Berufung der Beklagten. Diese rügt im Wesentlichen eine fehlerhafte Auswertung der medizinischen Befunde und bezieht sich auf eine Stellungnahme des Sozialmediziners Dr.W. vom 21.05.2002. Eine nochmalige Langzeitentwöhnungstherapie mit anschließender sozialer Reintegrationsmaßnahme ins Arbeitsleben sei bei dem noch relativ jungen Versicherten sinnvoller als eine Rentengewährung. Für die vom SG herausgestellten subjektiven Symptome der Ermüdbarkeit und mangelnden Belastbarkeit fehle ein eindeutiges organisches Korrelat. Der Kläger legte einen Bericht des Pathologen M. vom 26.08.2002 vor. Der Senat hat Befundberichte der Allgemeinärzte Dr.S. und Dr.P. sowie des Orthopäden Dr.B. zum Verfahren beigenommen. Auf Veranlassung des Gerichts hat der Internist und Sozialmediziner Dr.G. das Gutachten vom 24.10.2003 erstattet. Er hat aus internistischer Sicht folgende Gesundheitsstörungen beschrieben: - Chronische Alkoholkrankheit, - fortgeschrittener diffuser Leberparenchymschaden bei nachgewiesener Hepatitis C-Virusinfektion, - Hiatushernie mit Refluxkrankheit der Speiseröhre, - leichtgradige chronische Atemwegserkrankung (bei anhaltendem Tabakkonsum), - Pankreaslipomatose, - beginnende arteriosklerotische Gefäßveränderungen ohne klinische Relevanz. Trotz fortbestehender Suchterkrankung liege insgesamt noch ein klinisch kompensierter Leberschaden vor. Der Kläger könne noch leichte körperliche Arbeiten verrichten und zwar in Vollschicht. Auszuschließen seien Arbeiten mit Unfallgefährdung sowie die Einwirkung von Bronchialreizstoffen und übermäßige nervliche Belastungen

Die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr.O. hat das weitere Gutachten vom 25.03.2004 erstattet. Auch aus psychiatrischer Sicht müsse der Kläger für fähig angesehen werden, leichte, zeitweise auch mittelschwere Tätigkeiten (mit Bewegen von Lasten bis zu 10 kg) in Vollschicht zu verrichten, wobei stresshafte Arbeitsbedingungen vermieden werden sollten. Nach erfolgreicher Durchführung einer zu empfehlenden Therapie sei eine Besserung der geistig-seelischen Belastbarkeit, auch bezogen auf stresshafte Arbeitsbedingungen und herausgehobene Tätigkeiten zu erwarten.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des SG Nürnberg vom 11.04.2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Dem Senat haben die Verwaltungsakten der Beklagten und die Prozessakte des SG Nürnberg vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig.

Das Rechtsmittel erweist sich als begründet. Der Kläger ist noch nicht berufs- oder erwerbsunfähig und auch nicht voll oder teilweise erwerbsgemindert.

Nach § 43 Abs 2 SGB VI in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung sind berufsunfähig Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeit gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfanges ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.

Nach § 44 Abs 2 SGB VI, ebenfalls in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung, sind erwerbsunfähig Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außer Stande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das monatlich 630,- DM übersteigt. Erwerbsunfähig ist nicht, wer eine Tätigkeit vollschichtig ausüben kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.

Nach der ab 01.01.2001 geltenden Neuregelung sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein; voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die aus den gleichen Gründen weniger als 3 Stunden täglich erwerbstätig sein können (§ 43 Abs 1, Abs 2 SGB VI nF).

Diese Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung liegen beim Kläger nicht vor. Der Kläger ist nach wie vor in der Lage, körperlich leichte Arbeiten in Vollschicht zu verrichten. Vermieden werden sollen Arbeiten mit Unfallgefährdung und solche mit übermäßigen nervlichen Belastungen; auch herausgehobene Arbeiten mit besonderer Verantwortung sind vom Kläger nicht zu verlangen.

Das berufliche Leistungsvermögen des Klägers wird in erster Linie durch die Alkoholerkrankung beeinträchtigt, die auch fort- besteht. Dr.G. hat sich in seinem Gutachten ausführlich mit der abweichenden Leistungsbeurteilung von Dr.S. auseinandergesetzt. Er hat insbesondere herausgestellt, dass beim Kläger zwar eine bereits deutliche Leberschädigung vorliegt, dass diese für sich aber noch keine zeitliche Einschränkung der Leistungsfähigkeit für körperlich leichte Arbeiten rechtfertigt. Die Leberschädigung kann insgesamt noch als klinisch kompensiert angesehen werden. Prognostische Überlegungen müssen insoweit außer Betracht bleiben.

Auch Frau Dr.O. hat den Kläger für fähig erachtet, körperlich leichte, zeitweise auch mittelschwere Arbeiten in Vollschicht zu leisten, allerdings beschränkt auf Arbeiten geistig einfacher Art. Stresshaften Arbeitsbedingungen soll der Kläger ebenso wenig ausgesetzt sein wie Arbeiten unter Unfallgefährdung. Auch Dr.O. hat betont, dass die bestehende Alkoholkrankheit zwar zu qualitativen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit führt, nicht jedoch zu einer quantitativen Beschränkung. Für Frau Dr.O. war eindeutig erkennbar, dass gravierende kognitive Defizite beim Kläger sicher noch nicht vorliegen und er in seiner Urteilsfähigkeit und Kritikfähigkeit nicht hochgradig eingeschränkt ist. In psychischer Hinsicht war beim Kläger eine gravierende depressive Verstimmung nicht zu erkennen. Auch der bestehenden leichten Polyneuropathie kommt keine leistungsmindernde Bedeutung zu. Insgesamt besteht beim Kläger eine Alkoholkrankheit mit Suchtverhalten und den beschriebenen körperlichen Folgeschäden. Damit ist der Kläger aber noch nicht gehindert, körperlich leichte Arbeiten mit den im Einzelnen erwähnten qualitativen Einschränkungen in Vollschicht zu leisten. Der Senat stimmt insoweit den ausführlichen und überzeugend begründeten Gutachten von Dr.G. und Frau Dr.O. zu, in denen auch die derzeitigen Alltagsaktivitäten des Klägers in die Betrachtung einbezogen sind.

Mit diesem Leistungsvermögen ist der Kläger nicht berufs- oder erwerbsunfähig und auch nicht erwerbsgemindert. Der Kläger ist nach seinem beruflichen Werdegang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar. Er hat zwar den Beruf des Werkzeugmachers erlernt mit Prüfung im Jahre 1984, war aber danach in verschiedenen Tätigkeiten als Maschinenarbeiter, CNC-Fräser, Bauhelfer (1993), Maschinenführer (1994) beschäftigt, wobei es sich überwiegend um kurzfristige Arbeitsverhältnisse gehandelt hat. Der Kläger ist nach seiner eigenen Einlassung nach Beendigung der Lehrzeit auch nicht von seinem Lehrbetrieb in eine Anstellung als Werkzeugmacher übernommen worden, sondern als Maschinenarbeiter eingesetzt worden. Der Kläger hat somit den qualifizierten Beruf des Werkzeugmachers nach Abschluss der Lehre nicht mehr wettbewerbsfähig ausgeübt. Ein Versuch, im Jahre 2001 nochmals in den erlernten Beruf des Werkzeugmachers zurückzukehren, muss als gescheitert angesehen werden; die Beschäftigung vom 01.02. bis 15.04.2001 musste nach der Einlassung des Klägers wegen seiner ungenügenden Leistungsfähigkeit beendet werden. Das Berufsbild des Klägers ist insgesamt geprägt von gemischtförmigen Tätigkeiten, vom Maschinenarbeiter bis hin zum Bauhelfer; der Kläger ist deshalb nach dem Mehrstufenschema des Bundessozialgerichts zur Einteilung der Arbeiterberufe als einfach angelernter Arbeiter anzusehen. Dies bedeutet, dass er sozial zumutbar auf alle Anlerntätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar ist, und zwar ohne dass es der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit bedarf. In Frage kämen für den Kläger jedoch aus der Vielzahl der Arbeiterberufe einfache Sortier- oder Montagearbeiten, einfache Lagerarbeiten, wie Auffüllen von Regalen und Überprüfen von Beständen.

Mit seinem verbliebenen körperlichen und geistigen Leistungsvermögen ist der Kläger nicht berufs- oder erwerbsunfähig und auch nicht voll oder teilweise erwerbsgemindert. Auf die Berufung der Beklagten war das Urteil des SG Nürnberg vom 11.04.2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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