L 4 U 4/03

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 26 U 51/02
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 4 U 4/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 29.01.2003 geändert und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 28.09.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.02.2002 verpflichtet, der Klägerin Witwenrente wegen des Todes des Versicherten L O nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Die Beklagte erstattet die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen. Im übrigen sind gerichtliche Kosten auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob Hinterbliebenenleistungen an die Klägerin als Witwe des an einer als Berufskrankheit anerkannten Asbestose verstorbenen Versicherten L O wegen Bestehens einer sogenannten Versorgungsehe nach § 65 Abs 6 Siebtes Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) ausgeschlossen sind.

Der 1947 geborene Versicherte und die 1957 geborene Klägerin lernten sich 1996 als Nachbarn kennen. Beide waren geschieden. 1997 entwickelte sich zwischen ihnen eine Beziehung. Im Mai 1998 bezogen sie eine gemeinsame Wohnung.

Im Juli 1997 wurde beim Versicherten Lungenkrebs im linken Lungenflügel festgestellt, operativ entfernt und anschließend bestrahlt. Danach war der Versicherte in stationärer Rehabilitation. Der Versicherte erhielt zunächst Krankengeld. Wegen der Behandlungsaufwendungen meldete die Krankenkasse des Versicherten im August 1997 einen Erstattungsanspruch bei der Beklagten an. Diese leitete ein Feststellungsverfahren ein. Nach Ermittlung der beruflichen Voraussetzungen in Gestalt einer Asbest-Belastungsdosis von umgerechnet rund 26 Faserjahren beauftragte die Beklagte den Arbeitsmediziner Dr. S mit einem Sachverständigengutachten. Dr. S bejahte das Vorliegen einer entschädigungspflichtigen Berufskrankheit im Sinne der Nr. 4104 der Berufskrankheitenverordnung (BKV). Er schätzte die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Versicherten auf 100 % und hielt eine Nachuntersuchung nach Ablauf von spätestens zwei Jahren nach Abschluss der Tumortherapie für erforderlich.

Im September 1999 mieteten die Klägerin und der Versicherte eine neue Wohnung im Erdgeschoss, die sie gemeinsam mit dem damals 17-jährigen, aus einer früheren Beziehung stammenden jüngeren Sohn der Klägerin, dem Zeugen E I renovierten und am 1. November 1999 bezogen. Drei Wochen später wurden bei einer Nachuntersuchung des Versicherten Metastasen in den Nieren, Nebennieren und den Lymphknoten festgestellt.

Anfang Dezember 1999 wies die Beklagte dem Versicherten einen Rentenvorschuss an und kündigte die Bescheiderteilung über den Rentenanspruch für Januar 2000 an. Im Dezember bestellten der Versicherte und die Klägerin das Aufgebot. Mit Bescheid vom 13. Januar 2000 erkannte die Beklagte beim Versicherten die Berufskrankheit nach der Nr. 4104 der BKV an und bewilligte ihm eine Verletztenrente in Höhe von 4.588,12 DM monatlich (Vollrente).

Parallel führte der Versicherte einen Zyklus von Chemotherapien im evangelischen Krankenhaus N durch (Behandlung durch den Chefarzt Dr. I). Eine Ende Januar durchgeführte Ultraschalluntersuchung ergab eine Verkleinerung der Nierenmetastasen. Am 8. Februar 2000 - einen Tag nach dem Geburtstag des Versicherten und zehn Tage vor der nächsten geplanten Therapiephase - schloss der Versicherte mit der Klägerin die Ehe.

Danach wurde die Chemotherapie zunächst fortgesetzt. Im weiteren Verlauf zeigten sich Metastasen im Brustbein, in den Rippen sowie im Gehirn. Am 5. Mai 2000 starb der Versicherte.

Die Beklagte prüfte sodann Hinterbliebenleistungen an die Klägerin. Auf Nachfrage teilte ihr der behandelnde Hausarzt des Versicherten Dr. T mit, für einen medizinischen Laien sei ab etwa Mitte April 2000 erkennbar gewesen, dass die Erkrankung unweigerlich zum Tode führen würde. Über das Auftreten von Metastasen sei der Versicherte im November 1999 und über Hirnmetastasen im März 2000 informiert worden. Dr. I führte in einem Befundbericht vom 7. Juni 2000 auf, der Versicherte sei während seiner Behandlung im März und April/Mai 2000 in einem ausführlichen Aufklärungsgespräch über die Indikation, das Procedere sowie die Nebenwirkungen einer unter palliativen Gesichtspunkten durchgeführten Strahlentherapie aufgeklärt worden.

Im April 2001 hörte die Beklagte die Klägerin persönlich zu den Umständen der Eheschließung und des gemeinsamen Zusammenlebens mit dem Versicherten an. Die Klägerin trug dabei vor, bereits 1996 habe der Versicherte sie heiraten wollen; sie habe damals noch abwarten wollen, wie sich die Beziehung zwischen dem Versicherten und ihrem Sohn, dem Zeugen E I entwickeln werde; dies sei dann überaus positiv verlaufen; die Heiratsabsicht habe sich indes aus finanziellen Gründen nicht verwirklichen lassen, da Unterhalts-, Darlehens- sowie Mietverpflichtungen zu erfüllen gewesen seien und die Einrichtung der gemeinsamen Wohnung teuer gewesen sei. Die geplante Doppelhochzeit mit Verwandten habe wegen der Kündigung der alten und dem Einzug in eine neue Wohnung in der Folgezeit mehrfach verschoben werden müssen. Nachdem sich dann die bei der Kontrolluntersuchung im Dezember festgestellten Metastasen deutlich zurückgebildet hätten, sei das Aufgebot bestellt und die Ehe geschlossen worden. Die spätere drastische Verschlechterung des Gesundheitszustands sei für die Betroffenen wie für die Ärzte völlig überraschend gekommen.

Mit Bescheid vom 28. September 2001 lehnte die Beklagte die Gewährung von Witwenrente ab. Zur Begründung führte sie aus, der auf eine dauerhafte zukünftige Lebensgemeinschaft gerichtete Zweck der Ehe könne nicht erreicht werden, wenn ein Ehegatte zum Zeitpunkt der Eheschließung so schwer erkrankt sei, dass sein Tod bereits absehbar und ihm das auch bewusst sei; die Ermittlungen hätten ergeben, dass sich die Klägerin und der Versicherte der Schwere der Erkrankung mit Rücksicht auf die festgestellte Metastasenbildung zum Zeitpunkt der Eheschließung bewusst gewesen seien bzw bewusst gewesen sein mussten; nach § 65 Abs 6 SGB VII werde daher vermutet, dass der alleinige Zweck der Eheschließung die Versorgung der Witwe gewesen sei. Den hiergegen erhobenen Rechtsbehelf der Klägerin wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 2002 als unbegründet zurück.

Das darauf angerufene Sozialgericht (SG) Duisburg hat beide Söhne der Klägerin als Zeugen gehört. Auf die Niederschriften wird Bezug genommen. Mit Urteil vom 29. Januar 2003, zugestellt am 19. Februar 2003, hat es die Klage als unbegründet abgewiesen.

Mit ihrer am 17. März 2003 bei Gericht eingegangen Berufung verfolgt die Klägerin ihr Vorbringen erster Instanz weiter. Sie vertieft ihr bisheriges Vorbringen dahingehend, sie sei bereits seit dem 22. Dezember 1997 mit dem Versicherten verlobt gewesen. Dessen Mutter, die Zeugin F O habe ihr bereits damals ein Hochzeitskleid gekauft und dies auch schriftlich bestätigt. Lediglich aus Gründen der Familie - geplante Doppelhochzeit mit Schwager und Schwägerin - sowie der Finanzen - Einrichtung einer neuen Wohnung - sei der Hochzeitstermin verschoben worden. Auch sei der nahe Tod des Versicherten für einen medizinischen Laien erst im April 2000, also erst nach der Hochzeit erkennbar gewesen. Dies ergebe sich zum einen aus der ärztlichen Bescheinigung des behandelnden Hausarztes Dr. T wie auch aus dem Umstand, dass der Versicherte noch im November beim Umzug in die neue Wohnung die Wände tapeziert habe. Rechtlich bezieht sich die Klägerin auf ein Urteil des SG Hamburg vom 22.10.2001 - S 36 U 138/00 -, das die Vermutung einer Versorgungsehe als widerlegt ansah, sofern bewiesen sei, dass eine feste Heiratsabsicht dem Grunde nach schon vor dem Eintritt der tödlichen Erkrankung vorlag.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialerichts Duisburg vom 29.01.2003 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 28.09.2001 und des Widerspruchsbescheides vom 25.02.2002 zu verurteilen, Witwenrente wegen des Todes des Versicherten L O nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil und ihre Bescheide.

Der Senat hat im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 30. Januar 2004 die Klägerin persönlich gehört und die Mutter des Versicherten als Zeugin vernommen. Auf die Sitzungsniederschrift sowie auf die Gerichtsakten nebst den beigezogenen Verwaltungsvorgängen der Beklagten wird verwiesen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung des Senats.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht als unbegründet abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig und beschweren die Klägerin im Sinne des § 54 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Klägerin hat Anspruch auf Hinterbliebenenleistungen als Witwe des verstorbenen Versicherten L O nach §, 63 Abs. 1 Nr. 3; § 65 Abs. 1; § 72 Abs. 2 SGV II. Die gesetzliche Regelung des § 65 Abs. 6 SGB VII, nach der eine Witwe (oder ein Witwer) keinen Anspruch auf Hinterbliebenenleistungen hat, wenn die Ehe erst nach dem Versicherungsfall (d.h. der Erkrankung) geschlossen worden ist und der Tod innerhalb des ersten Jahres dieser Ehe eingetreten ist, steht dem Anspruch der Klägerin hier nicht entgegen. Denn die in § 65 Abs. 6 2. Halbsatz SGB VII normierte Vermutung, wonach es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen, ist zur Überzeugung des Senats widerlegt.

Der Senat stützt sich dazu auf die übereinstimmende Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSGE 35, 272; 60, 204) sowie der Landessozialgerichte - LSG - (LSG Nordrhein-Westfalen: Die Berufsgenossenschaft 1968, Seite 241; LSG Berlin, Urteil vom 8.4.1999 - L 3 U 99/97 -; LSG Baden-Württemberg: Urteil vom 24.3.1999 - L 2 U 2125/96 -; LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 24.1.1997 - L 5 U 122/94 -), der Verwaltungsgerichte (Bundesverwaltungsgericht (BVerwGE 25, 221; Sammlung Buchholz 232 § 123 Bundesbeamtengesetz Nr. 7; Verwaltungsgerichtshof - VGH - Baden-Württemberg, Urteil vom 28.3.1990 - 11 S 167/89 -; Beschluss vom 10. 2. 2003 - 4 S 2782/01 -) und des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 4.7.1989 - 3 AZR 772/87 -). Danach ist anerkannt, dass die Vermutung einer sogenannten Versorgungsehe im Einzelfall gemäß § 65 Abs. 6 2. Halbsatz SGB VII widerlegt ist, wenn es dem begünstigten Ehegatten durch nachprüfbare Tatsachen gelingt, objektiv Beweis dafür zu erbringen, dass ein anderer als ein reiner Versorgungszweck der Ehe wenigstens ebenso wahrscheinlich ist. Dazu genügt es jedenfalls, dass der überlebende Ehegatte nachweist, dass die Eheschließenden zum Zeitpunkt der Hochzeit nicht vom unmittelbaren Bevorstehen des Todes eines Ehegatten wussten, denn dann ist ein manipulativer Missbrauch des Instituts der Ehe, den der § 65 Abs 6 SGB VII verhindern soll, bereits im Ansatz ausgeschlossen (vergleiche: Kater in Kater/Leube, Gesetzliche Unfallversicherung SGBV II, 1997, § 65 Randnummer - RdNr. - 38; Schmitt, SGB VII Kommentar 2. Aufl. 2004, § 65 RdNr. 44; Bereiter-Hahn/Mertens, Gesetzliche Unfallversicherung - Handkommentar - Stand November 2003 - § 65 SGB VII RdNr. 25 folgende mit weiteren Nachweisen - mwN -; zur Parallelenvorschrift in der gesetzlichen Rentenversicherung siehe Löns in Kreikebohm, SGB VI, 2. Aufl. § 47 RdNr. 21). Dieser Beweis ist nach dem Gesamtergebnis der Beweisaufnahme nach § 128 SGG geführt.

Den Angaben der behandelnden Ärzte entnimmt der Senat, dass die Eheschließung nicht angesichts des baldigen Ablebens des Versicherten erfolgte.

Denn diese haben der Klägerin und dem Versicherten ausweislich des zum Zeitpunkt der Eheschließung aktuellen Behandlungsberichts vom 11. Februar 2000 mitgeteilt, dass sich die Tochtergeschwüre in den Nieren verkleinerten und die Tumormarker rückläufig waren. Die später zum Tod führenden Metastasen im Kopf und im Brustbereich des Versicherten waren zu diesem Zeitpunkt auch den behandelnden Ärzten noch nicht bekannt. Der Befundbericht spricht ausdrücklich davon, dass kein Hinweis auf Skelettmetastasierung vorlag. Der Hausarzt des Versicherten Dr. T hat auf Anfrage der Beklagten demgemäß eine bevorstehende Todeserwartung im Februar 2000 nicht mitgeteilt. Vielmehr hat er bestätigt, dass mit einem kurzfristigen Ableben des verstorbenen Ehemannes der Klägerin erst nach weiterer Verschlechterung, die nach der Eheschließung im April 2000 eintrat, zu rechnen war.

Der Senat hat auf Grundlage der Vernehmung der Mutter des Klägers, der Zeugin O, keinen Zweifel daran, dass der Versicherte selbst noch zum Zeitpunkt der Eheschließung an eine Heilung seiner Erkrankung glaubte. Die Zeugin, bei der kein finanzielles oder persönliches Interesse am Ausgang des Rechtsstreits vorliegt, hat glaubwürdig bekundet, der Versicherte und mit ihm seine Familie hätten erst im April 2000 erfahren, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hatte. Diese Erklärung steht im Einklang mit den Bekundungen der Zeugen T und E I sowie den Angaben der Klägerin bei ihrer Anhörung vor dem Senat, die ebenfalls détailliert und glaubhaft sind. Auch die Wahl des Hochzeitstermins ist kein Indiz für die Annahme einer nahen Todeserwartung. Vielmehr wurde dieses Datum - für den Senat nachvollziehbar und plausibel - wegen des Geburtstags des Versicherten gewählt, nachdem sich die ursprünglich geplante Doppelhochzeit zusammen mit dessen Bruder an dessen Geburtstag aus finanziellen Gründen, nämlich der Aufwendungen für die neue Wohnung, nicht hatte realisieren lassen.

Auf die Frage, was die Klägerin oder der Versicherte im Februar 2000 über den späteren Erkrankungsverlauf theoretisch hätten wissen können oder wissen müssen, kommt es demgegenüber schon deswegen nicht an, weil vom Patienten nicht mehr Wissen als von den behandelnden Ärzten erwartet werden kann. Auch die Erwägung des SG, erst nach fünf Jahren sei bei Krebserkrankungen von einer Rezidivfreiheit auszugehen, ist im Zusammenhang mit der Frage nach den persönlichen Motiven bei einer Eheschließung verfehlt. Denn bei dem hier erforderlichen Nachweis geht es nicht um eine generalisierende medizinische Statistik, sondern um die individuelle Feststellung von Zukunftserwartungen der Eheschließenden, die berücksichtigen muss, dass jede Eheschließung naturgemäß von der Hoffnung auf die Zukunft getragen ist. Das Fehlen einer solchen Hoffnung kann daher auch im Recht der Hinterbliebenenleistungen nur dann angenommen werden, wenn den Betroffenen von ärztlicher Seite das unmittelbar bevorstehende nahe Lebensende mitgeteilt worden ist oder die Betroffenen dies aus eigenem Wissen selbst definitiv als unabwendbar erkannt haben. Beides war hier nicht der Fall.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Anlass, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs 2 SGG) bestand nicht.
Rechtskraft
Aus
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