L 6 KN 25/04 U

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 7 KN 307/00 U
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 6 KN 25/04 U
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1.) Die Rückwirkung der Zweiten Verordnung zur Änderung der Berufskrankheitenverordnung vom 18.12.1992 für Versicherungsfälle ab dem 01.04.1988 gilt nur für das Altbundesgebiet. 2.) Das DDR-Berufskrankheitenrecht wurde präzis zum 01.01.19992 durch das gesamtdeutsche Berufskrankheitenrecht abgelöst.
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 28. Juli 2003 wird zurückgewiesen. II. Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Anerkennung einer Wirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit.

Der am ...1946 geborene Kläger war insgesamt 14,5 Jahre wirbelsäulenbelastend tätig. Vom 01.09.1960 bis zum 30.06.1991 war er als Schlosser, Formleger, Bunkerkipper und Bandwärter bei bergbaulicher Versicherung im VEB Kombinat O ... B ... bzw. im VEB BKK E ... tätig; während der Tätigkeit beim VEB BKK E ... als Mühlenschlosser vom 01.01.1977 bis zum 30.06.1991 waren Arbeiten in Zwangshaltungen und das Tragen von schweren Lasten auf der Schulter oder vor dem Körper erforderlich. Unstreitig liegen für diesen Zeitraum die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer Wirbelsäulenberufskrankheit vor. In den 80iger hatte der Kläger erstmals Beschwerden am Kreuz, allerdings ohne die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung. Im Jahr 1997 erfolgte die erste Arztvorstellung beim Hausarzt mit Röntgen. Es wurden verschiedene physiotherapeutische Maßnahmen verschrieben. Im Jahr 1997 begann auch die Ausstrahlung in das linke Bein bis zum Fuß. Seit 1989 traten in größeren Abständen Beschwerden im Schulter-Nacken-Bereich auf. Diese Beschwerden verstärkten sich etwa seit 1998 mit Ausstrahlung in beide Arme und mit Kraftlosigkeit. Auch kam es zu Vertäubungen des dritten Fingers an der rechten Hand.

Am 21.04.1998 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Anerkennung seines Wirbelsäulenleidens als Berufskrankheit.

Nach einer medizinischen Begutachtung (Prof. R1 .../Dr. M1 ...) lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 27.03.2000 ab. Die Entscheidung sei nach dem bis zum 31.12.1991 noch fortgeltenden DDR-Recht zu treffen. Eine Berufskrankheit im Sinne der BK 70 BKVO DDR setze voraus, dass zum Zeitpunkt der Aufgabe der wirbelsäulenexponierten Tätigkeit bereits erhebliche Funktionsstörungen im Bereich der Lendenwirbelsäule vorgelegen hätten. Zu dem damaligen Zeitpunkt seien jedoch noch keine erheblichen Funktionsstörungen dokumentiert gewesen. Auch sei die Arbeit nicht wegen der Wirbelsäulenerkrankung aufgegeben worden sondern aus Arbeitsmarktgründen.

Der Widerspruch des Klägers wurde mit Bescheid vom 30.05.2000 als unbegründet zurückgewiesen. Am 02.05.1994 sei der Kläger gründlich arbeitsmedizinisch untersucht worden. Dabei seien verschiedene Befunde erhoben, hinsichtlich der Wirbelsäule jedoch ein unauffälliger Befund vermerkt worden. Zum Zeitpunkt der Aufgabe der schädigenden Tätigkeit habe also keine schwere Funktionsstörung der Lendenwirbelsäule vorgelegen.

Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht mit Urteil vom 28.07.2003 abgewiesen: Es liege kein belastungskonformes Schadensbild vor.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers, mit der geltend gemacht wird, die bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule des Klägers in Form eines lumbalen vertebragenen Schmerzsyndroms sei wesentlich durch die berufliche Tätigkeit verursacht worden. Auf die Motivation des Klägers bei der Arbeitsaufgabe - Grund sei hier die Insolvenz des Arbeitgebers gewesen - komme es nicht an. Das Tatbestandsmerkmal des Aufgabezwangs sei auch erfüllt, wenn dieser lediglich objektiv vorgelegen habe. Dies sei bei dem Kläger auf Grund seiner damals schon ernsten Wirbelsäulenerkrankung der Fall gewesen.

Er beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 28.07.2003 sowie den Bescheid des Beklagten vom 27.03.2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.05.2000 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, gegenüber dem Kläger eine Lendenwirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit anzuerkennen und nach einer MdE von mindestens 20 Prozent zu entschädigen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 28.07.2003 zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen sowie die beigezogene Beklagtenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Ein Anspruch auf Entschädigung der Wirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit besteht bereits aus Rechtsgründen nicht.

Das Berufskrankheitenrecht Westdeutschlands kannte bis zum Beitritt der DDR eine Lendenwirbelsäulenberufskrankheit nicht. In der DDR galt zum Zeitpunkt des Beitritts noch die Verordnung über die Verhütung, Meldung und Begutachtung von Berufskrankheiten vom 26.02.1981 (GBl. DDR I, 137) mit der ersten Durchführungsbestimmung zu dieser Verordnung - Liste der Berufskrankheiten - vom 21.04.1981 (GBl. DDR I, 139). In Ziffer 70 dieser Liste war als Berufskrankheit aufgeführt: "Verschleißkrankheiten der Wirbelsäule (Bandscheiben, Wirbelkörperabschlussplatten, Wirbelfortsätze, Bänder, kleine Wirbelgelenke) durch langjährige mechanische Überbelastung". Die Übernahme dieser Berufskrankheit in gesamtdeutsches Recht wurde zwar nicht explizit im Einigungsvertrag festgeschrieben, es wurde aber eine entsprechende Überprüfung zugesagt: "Bei der Fortentwicklung der Berufskrankheitenverordnung ist zu prüfen, inwieweit die bisher in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet geltenden Regelungen berücksichtigt werden können" (EV Art. 30 Abs. 6). In den Anlagen zum Einigungsvertrag war bestimmt, dass die DDR-Berufskrankheitenliste bis zum 31.12.1991 in Kraft bleibt (Anlage II, Kapitel VIII, Sachgebiet I, Abschnitt III, Nr. 5 EV) und das die gesamtdeutsche Berufskrankheitenliste ab dem 01.01.1992 Anwendung findet (Anlage I, Kapitel VIII, Sachgebiet I, Abschnitt III, Nr. 6 EV). Am 01.01.1993 trat die zweite Verordnung zur Änderung der Berufskrankheitenverordnung vom 18.12.1992 (BGBl. I, Seite 2343) in Kraft. In dieser Verordnung waren erstmalig mit den Ziffern 2108 bis 2110 bandscheibenbedingte Erkrankungen als Berufskrankheiten unter bestimmten Voraussetzungen definiert. Art. 2 Abs. 2 der Verordnung bestimmte:

"Leidet ein Versicherter beim In-Kraft-Treten dieser Verordnung an einer Krankheit, die erst auf Grund dieser Verordnung als Berufskrankheit im Sinne des § 551 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung anerkannt werden kann, ist eine Berufskrankheit auf Antrag anzuerkennen, wenn der Versicherungsfall nach dem 31.03.1988 eingetreten ist."

Nach § 1150 Abs. 2 RVO, der gemäß §§ 212, 215 Abs. 1 SGB VII weiterhin Anwendung findet, sind Unfälle und Krankheiten, die vor dem 01.01.1992 eingetreten sind, als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten im Sinne des dritten Buches der RVO zu entschädigen, wenn sie nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten der Sozialversicherung waren. Dies gilt allerdings nicht für Unfälle und Krankheiten, die einem ab dem 01.01.1991 für das Beitrittsgebiet zuständigen Träger der Unfallversicherung erst nach dem 31.12.1993 bekannt werden und die nach dem dritten Buch nicht zu entschädigen wären.

Mit diesem Regelungsgefüge ist also eine stufenweise Angleichung des Berufskrankheitenrechts in Ost und West bestimmt. Für das Beitrittsgebiet gilt zunächst das Berufskrankheitenrecht der DDR für ein gutes Jahr nach dem Beitritt weiter. Durch die Regelung des § 1150 RVO ist sichergestellt, dass sich dieses Recht auch problemlos mit den neuen Instrumentarien der West-Unfallversicherungsträger handhaben lässt; die Altfälle "gelten" als Versicherungsfälle nach der RVO, sie sind damit gewissermaßen in das West-Recht einschließlich aller Anerkennungsverfahren und Rentenzahlung etc. (§§ 1151 ff. RVO) eingebettet.

Nach dem 01.01.1992 soll grundsätzlich einheitliches Berufskrankheitenrecht in Gesamtdeutschland gelten. Insoweit gibt es allerdings noch eine - besitzstandswahrende - Übergangsregelung: Noch weitere zwei Jahre können sich Versicherte, die im Beitrittsgebiet einen bisher nicht entschädigten Versicherungsfall hatten, an die zuständigen Versicherungsträger wenden und Entschädigung nach DDR-Recht auch dann erhalten, wenn nach gesamtdeutschem Recht kein Entschädigungsanspruch bestünde (§ 1150 Abs. 2 Satz 2 Ziffer 1 RVO).

Bezogen auf die Wirbelsäulenberufskrankheiten bedeutet dies, dass Versicherungsfälle, die nach dem Recht der RVO und der gesamtdeutschen Berufskrankheitenliste nicht zu entschädigen wären oder nach der Berufskrankheitenliste West nicht zu entschädigen wären, sei es weil materiell andere Tatbestandvoraussetzungen vorlagen, sei es weil sie vor dem 01.04.1988 eingetreten sind, bei einer Meldung bis zum 31.12.1993 noch nach DDR-Recht entschädigt werden. Ab dem 01.01.1994 gibt es dann kein Sonderrecht mehr in Form eines Besitzstandschutzes für DDR-Berufskrankheiten. Insoweit ist damit die beabsichtigte Rechtseinheit in Ost und West vollzogen. Dies darf jetzt allerdings nicht so verstanden werden, dass die Rückwirkungsklausel des Art. 2 Abs. 2 der zweiten BKV-Änderungsverordnung dann nachträglich auch für das Beitrittsgebiet gilt. Diese Rückwirkungsklausel macht Sinn nur für die westlichen Bundesländer, in denen bisher die Wirbelsäulen-Berufskrankheiten unbekannt waren. Rückwirkungsklauseln sind bei Änderungen der Berufskrankheitenverordnung allgemein üblich gewesen (vgl. Schulin/Koch § 37 Rdn. 27). Für das Beitrittsgebiet war allerdings eine Rückwirkung überhaupt nicht erforderlich, hier galt ja bereits das DDR-Recht, welches präzis zum 01.01.1992 durch das gesamtdeutsche Berufskrankheitenrecht abgelöst wurde.

Das Sozialgericht geht offenbar davon aus, dass im vorliegenden Fall die Voraussetzungen nach der Listen-Nr. 2108 BKV und der Listen-Nr. 70 BKVO-DDR nebeneinander vorliegen müssen. Dies macht allerdings keinen Sinn und steht auch nicht im Einklang mit der insoweit unmissverständlichen Regelung des Einigungsvertrages, wonach eine präzise Ablösung des DDR-Rechts durch das gesamtdeutsche Recht vorgesehen ist. Ein Nebeneinander findet weder nach dem Günstigkeitsprinzip, noch, wovon das Sozialgericht offenbar ausgegangen ist, nach dem "Ungünstigkeitsprinzip" (Erforderlichkeit des kumulativen Vorliegens der jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen) statt.

Während also Versicherungsfälle aus den Altbundesländern nur entschädigt werden können, wenn sie nach dem 01.04.1988 eingetreten sind, gilt in den neuen Bundesländern eine solche Frist nicht; Versicherungsfälle werden auch für die Zeit davor nach dem Recht der DDR entschädigt. Sie müssen dann allerdings bis zum 31.12.1993 angezeigt worden (dem Versicherungsträger "bekannt geworden") sein. Ab dem 01.01.1992 eingetretene Versicherungsfälle werden grundsätzlich nach der gesamtdeutschen BKV behandelt - hier bestand bis zu dem In-Kraft-Treten der zweiten Änderungsverordnung eine Schwebezustand; auf Grund der Rückwirkungsklausel ist allerdings klar, dass ab dem 01.01.1992 eingetretene Versicherungsfälle einheitlich in Gesamtdeutschland nach dem einheitlichen ab dem 01.01.1993 geltenden Recht entschädigt werden. Wird ein Versicherungsfall vor dem 01.01.1994 angezeigt, so werden Versicherungsfälle aus dem Beitrittsgebiet praktisch mit unbegrenzter Rückwirkung entschädigt, Versicherungsfälle aus dem Altbundesgebiet nur, wenn sie nach dem 31.03.1988 eingetreten sind. Wird ein Versicherungsfall nach dem 31.12.1993 angezeigt, so werden Versicherungsfälle aus dem Beitrittsgebiet nur entschädigt, wenn sie ab dem 01.01.1992 eingetreten sind; hinsichtlich der Versicherungsfälle aus den Altbundesländern verbleibt es insoweit bei dem Stichtag 01.04.1988.

Da ein Versicherungsfall beim Kläger vor dem 01.01.1992 geltend gemacht wird, ist eine Entschädigung - die zwingend nach DDR-Recht zu erfolgen hätte - auf Grund der nach dem 31.12.1993 erfolgten Antragsstellung nicht mehr möglich.

Von einem späteren Versicherungsfall ist nicht auszugehen. Der Versicherungsfall einer BK ist eingetreten, wenn alle Tatbestandsmerkmale des § 9 Abs. 1 SGB VII i. V. m. der betreffenden Nummer der Anlage der BKV erfüllt sind (BSG SozR 2200 § 551 Nr. 35; BSG SozR 3-5670 Anlage 1 Nr. 2108 Nr. 2). Der bei der BK Nr. 2108 geforderte Unterlassungszwang setzt in der Regel voraus, dass die Tätigkeiten, die zu der Erkrankung geführt haben, aus arbeitsmedizinischen Gründen nicht mehr ausgeübt werden sollen und der Versicherte die schädigende Tätigkeit und solche Tätigkeiten, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich sein können, tatsächlich aufgegeben hat, wobei es auf das Motiv des Versicherten nicht ankommt (vgl. BSG SozR 3-5670 Anlage 1 Nr. 2108 Nr. 2 m. w. N.). Eine bloße Verminderung der Gefährdung genügt nicht (BSG SozR 5670 Anlage 1 Nr.4301 Nr. 2).

Nach dem 30.06.1991 hat der Kläger nur noch in allgemeinen alltagstypischem Umfange seine Lendenwirbelsäule belastet. Der Zwang zur Unterlassung aller lendenwirbelsäulengefährdenden Tätigkeiten (vgl. BSG, Urteil vom 19.08.2003 - B 2 U 27/02 R) ist nicht so zu verstehen, dass nur eine völlige Schonung der Lendenwirbelsäule den Versicherungsfall eintreten lassen kann. Bekanntlich haben bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS eine "multifaktorielle Ätiologie" (Merkblatt des BMA I). Sie können durch Fehlbelastung im privaten Bereich, durch typische Zivilisationsfolgen wie Bewegungs- und Belastungsarmut ebenso hervorgerufen werden wie durch starke Belastungen. Die Unterlassung aller lendenwirbelsäulengefährdenden Tätigkeiten bzw. allen lendenwirbelsäulengefährdenden Verhaltens ist also schlechthin nicht möglich. Ab dem 01.09.1991 war der Kläger lediglich als Spezialgerätefahrer tätig und musste dort weder schwere Lasten heben bzw. tragen, noch Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung verrichten. Auch fand nach den Feststellungen des TAD der Beklagten eine Gefährdung durch Ganzkörperschwingungen nicht statt (Beklagtenakte Bl. 66).

Vom Kläger selbst wurden auch für die Zeit nach dem 01.09.1991 keine wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten mehr geltend gemacht (vgl. Antrag, Beklagtenakte Bl. 6 RS, Bl. 7).

Schließlich ist festzustellen, dass auch bei einer Antragstellung vor dem 01.01.1994 eine Entschädigung nicht hätte erfolgen können, da, wie die Beklagte bereits im Widerspruchsbescheid zutreffend ausgeführt hat, am 30.06.1991 weder ein Grad des Körperschadens von 20 vorgelegen hat noch ein krankheitsbedingter Arbeitsplatzwechsel erfolgte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. -
Rechtskraft
Aus
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