L 14 RA 61/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
-
Aktenzeichen
S 14 RA 448/03
Datum
-
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 14 RA 61/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 10. März 2004 und der Bescheid der Beklagten vom 3. September 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Oktober 2003 werden aufgehoben.
II. Die Beklagte wird ihrem Anerkenntnis entsprechend verurteilt, an die Klägerin 643,01 EUR nebst gesetzlichen Zinsen zu zahlen.
III. Die Beklagte und die Beigeladene zu 1) haben der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten. IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Frage streitig, ob die Beklagte eine Rentennachzahlung für Mai und Juni 2003 mit einer Forderung der Beigeladenen gegen die Klägerin zur Hälfte verrechnen durfte oder an letztere noch eine Rentennachzahlung von 643,01 EUR leisten muss.

Die Klägerin war eine von drei Gesellschaftern der Z. Grundstücks GbR, über die am 01.10.1999 wegen Zahlungsunfähigkeit das Insolvenzverfahren eröffnet wurde (Beschluss des Amtsgerichts L. vom 01.10.1999).

Die Beigeladene zu 1) hatte gegenüber der GbR eine Forderung auf Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen für die von dieser beschäftigten Frau E. S. im Zeitraum vom 01.08. bis 06.09.1999 in Höhe von 983,26 DM. Sie machte die Forderung einschließlich Säumniszuschläge und Verwaltungsgebühren (98,00 DM und 6,20 DM), insgesamt 1.087,46 DM, gegenüber der Klägerin mit Bescheid vom 02.08.2000, zugestellt laut Postzustellungsurkunde am 03.08. 2000, geltend; ein Widerspruch ist hiergegen nicht eingelegt worden.

Die Beigeladene zu 1) ersuchte und ermächtigte die Beklagte mit Schreiben vom 24.10.2000 um Verrechnung der diesbezüglichen Forderung von nunmehr 1.114,46 DM nach einem Stand vom 15.11. 2000 mit einer Rentenleistung. Das Ersuchen wurde später auf eine Forderung von 717,07 EUR erweitert.

Mit Bescheid vom 15.05.2003 bewilligte die Beklagte der Klägerin auf Rentenantrag vom 17.03.2003 die Altersrente für langjährig Versicherte ab 01.05.2003; eine Rente von 650,35 EUR netto wurde laufend ab 01.07.2003 angewiesen, die Nachzahlung von zweimal 643,01 EUR netto für Mai und Juni 2003 vorerst - u.a. wegen Klärung von Erstattungsansprüchen (die Klägerin bezog damals Arbeitslosenhilfe) - einbehalten.

Mit Schreiben vom 05.06.2003 hörte die Beklagte die Klägerin wegen Verrechnung des hälftigen Anspruchs auf Nachzahlung mit der Forderung der Beigeladenen zu 1) an, worauf die Klägerin um Aufklärung bat, weil sie bei diesen Kassen nicht krankenversicherungspflichtig gewesen sei und ein Ersatzanspruch nicht bestehen könne, da das Arbeitsamt in Erwartung des Rentenbezugs ab 01.05.2003 die Zahlung der Arbeitslosenhilfe mit dem 30.04. 2003 eingestellt habe. Die Klägerin brachte hierzu einen Nachweis bei und machte geltend, sie habe sich für ihren Lebensunterhalt verzinslich Geld borgen müssen.

Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 03.09.2003 rechnete die Beklagte die der Beigeladenen zu 1) "geschuldeten Gesamtsozialversicherungsbeiträge in Höhe von 717,07 EUR (Stand 15.07.2003; zuzüglich weiterer Säumniszuschläge)" gegen die Rentenzahlung für Mai und Juni 2003 zur Hälfte auf und berief sich auf §§ 51, 52 des Sozialgesetzbuches Teil I (SGB I). Es handle sich bei der Rentennachzahlung um Ansprüche auf laufende Geldleistungen, und durch die Verrechnung könne Hilfsbedürftigkeit im Sinne der Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) über die Hilfe zum Lebensunterhalt rückwirkend nicht eintreten. Das Insolvenzverfahren stehe der Verrechnung nicht entgegen, weil davon nicht Rentenbeträge unterhalb der Grenze des § 850c ZPO erfasst würden.

Die Klägerin wandte sich mit Widerspruch gegen den Bescheid vom 03.09.2003 und machte u.a. geltend, sie sei im Mai und Juni 2003 hilfebedürftig gewesen. Der Rechtsbehelf wurde mit Widerspruchsbescheid vom 16.10.2003 zurückgewiesen.

Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Augsburg verfolgte die Klägerin ihr Begehren mit gleicher Begründung wie im Widerspruchsverfahren weiter, wobei sie sich auch ausführlich über die Vorgeschichte seit 1996 und das ihr von allen Seiten widerfahrene Unrecht ausließ. Das Sozialgericht lud die Kaufmännische Krankenkasse und den Insolvenzverwalter mit Beschluss vom 01.12.2003 bei und wies die Klage mit Urteil vom 10.03.2004 ab, wobei es im Einzelnen begründete, dass die Forderung der Beigeladenen zu 1) nicht verjährt sei, die Klägerin als Gesellschafterin des Bürgerlichen Rechts hafte, ihre Schuld nicht durch eine (nicht erfolgte) Quotenzahlung aus der Insolvenzmasse erloschen sei und auch nicht die Sperrwirkung des Insolvenzverfahrens greifen könne, soweit zur Verrechnung nicht pfändbare Forderungen anstünden. Die Verrechnung sei im übrigen rechtens, weil Sozialhilfebedürftigkeit niemals für die Vergangenheit eintreten könne.

Mit dem Rechtsmittel der Berufung bringt die Klägerin im Wesentlichen vor, in ihrer Angelegenheit seien viele bewiesene kriminelle Handlungen begangen worden, und das Urteil des Sozialgerichts sei rechtswidrig und nichtig. Sie fordere den illegal einbehaltenen Rentenbetrag nebst Schadensersatz und Zinsen. Sie habe im Mai und Juni 2003 keinerlei Einkünfte gehabt, auch keine Unterhaltsansprüche gegenüber ihrem Ehemann, und sich daher Geld leihen müssen. Hierzu legte sie einen Beleg über einen am 01.05.2003 aufgenommenen und spätestens bis 31.07.2004 zurückzuzahlenden Kredit seitens einer Bekannten von 2200,00 EUR nebst 5 % Zins vor. Auf Aufforderung des Senats trug sie vor, im Mai/Juni 2003 zusammen mit ihrem Sohn Mietkosten in Höhe von monatlich 550,00 EUR zuzüglich 124,00 EUR Nebenkosten getragen zu haben.

Der Senat hat die Versichertenakte der Beklagten beigezogen und mit Beschlüssen vom 19.10. und 01.12.2004 die Klage wegen Schadensersatzanspruchs gegen die Beklagte und die Beigeladenen (Artikel 34 des Grundgesetzes, § 839 Bürgerliches Gesetzbuch) abgetrennt und an das Landgericht Berlin verwiesen.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß), das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 10.03.2004 und den Bescheid der Beklagten vom 03.09.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.10.2003 aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung von 643,01 EUR nebst Zinsen zu ver- urteilen.

Aufgrund rechtlicher Hinweise des Senats erklärte der Vertreter der Beigeladenen zu 1) in der mündlichen Verhandlung, das Ver- rechnungsersuchen werde hinsichtlich der Rentennachzahlung nicht aufrechterhalten. Die Beklagte erkannte daraufhin ihre Verpflich- tung zur Aufhebung der streitgegenständlichen Bescheide und zur Zahlung der einbehaltenen Rente in Höhe von 643,10 EUR zuzüglich Verzinsung in gesetzlicher Höhe an.

Dem Senat lagen zur Entscheidung die Prozessakten beider Rechtszüge sowie die Versichertenakte der Beklagten vor. Zur Ergänzung des Tatbestands, insbesondere hinsichtlich des Vortrags der Klä- gerin, wird hierauf Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerechte Berufung (§§ 143 ff., 151 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) ist zulässig und in der Hauptsache begründet.

Das Urteil des Sozialgerichts und die streitgegenständlichen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig. Die Rentennachzahlung - hierbei handelt es sich der Natur nach um eine laufende Geldleistung - durfte nicht in halber Höhe gemäß § 51 Abs.2 i.V.m. § 52 Abs.1 SGB I verrechnet werden, weil dadurch bei der Klägerin im Mai und Juni 2003 Hilfebedürftigkeit im Sinne der Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes über die Hilfe zum Lebensunterhalt eintrat. Der Regelsatz nach § 22 BSHG betrug in Bayern für das erste Halbjahr 2003 284,00 EUR monatlich. Werden lediglich die Hälfte der für die nach § 3 der Regelsatzverordnung (zu § 22 Abs.5 BSHG) vom Regelsatz nach § 22 Abs.2 bis Abs.4 BSHG nicht abgedeckten Kosten der Unterkunft (von Klägerin und deren Sohn getragene Kaltmiete 550,00 EUR) angesetzt, ergibt sich ein Bedarf der Klägerin von 559,00 EUR (284,00 EUR + 275,00 EUR), der den halben Monatsbetrag (321,51 EUR) der der Klägerin für Mai und Juni 2003 zustehenden monatlichen Rente bei weitem übersteigt. Im Übrigen hatte die Beklagte die durch die Hilfebedürftigkeit der Verrechnung gesetzten Grenzen von Amts wegen festzustellen; zu dem von der Beigeladenen zu 1) angesprochenem Fehlen einer vom Schuldner vorzulegenden Bedarfsbescheinigung des Sozialhilfeträgers wird auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 09.11.1989 - 11 RAr 7/89 in SozR 1200 § 51 Nr.17 ("rechtswidrige Verwaltungspraxis") verwiesen.

§ 52 Abs.2 SGB I stellt nicht nur eine Vorschrift zur Wahrung der Interessen des Sozialhilfeträgers dar, auf dessen Kosten eine Verrechnung zu Gunsten eines anderen Leistungsträgers nicht erfolgen darf, sondern und vor allem - wie auch § 52 Abs.1 SGB I i.V.m. den Vorschriften über die Pfändung - eine Schutzvorschrift zu Gunsten des Leistungsempfängers. Sie gilt auch dann, wenn keine Sozialhilfeleistungen bezogen werden und/ oder ein Antrag hierauf nicht gestellt worden ist, sogar dann, wenn ein Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt - zum Beispiel wegen Auslandsaufenthalt des Schuldners - nicht entstehen kann (BSG vom 09.11.1989 - 11 RAr 7/89 in SozR 1200 § 51 Nr.17 und vom 12.04.1995 - 5 RJ 12/94 in SozR 3-1200 § 51 Nr.4), und damit auch für vergangene Leistungszeiträume; dem Schuldner soll der existenzielle Mindestbedarf verbleiben, und es ist unerheblich, ob und aus welchen Gründen sich die Zahlung längst fällig gewordener Leistungen verzögert.

Das Urteil des Sozialgerichts und die Bescheide der Beklagten hätten schon aus diesem Grunde aufgehoben werden müssen, ohne dass der Senat innerhalb der zulässigen Aufrechnungsgrenzen einen neuen geringeren Aufrechnungsbetrag hätte bestimmen dürfen (BSG vom 16.09.1981 - 4 RJ 107/78 in SozR 1200 § 51 Nr.11). Nach dem Stand des Rechtsstreits am Ende der mündlichen Verhandlung war eine Aufhebung auch deshalb geboten, weil die Beigeladene zu 1)ihr Verrechnungsersuchen zurückgezogen hatte und dadurch den Bescheiden der Beklagten die Grundlage entzogen worden war.

Entsprechend dem Anerkenntnis der Beklagten war diese zur Auszahlung des verrechneten Betrags nebst gesetzlicher Verzinsung zu verurteilen. Das Anerkenntnis entspricht der Rechtsprechung, dass eine erneute bzw. andauernde Einbehaltung (mit eventuell folgender Wiederholung des Anhörungs- und Verrechnungsverfahrens) wegen der inzwischen verstrichenen Zeit nicht mehr möglich ist (BSG vom 24.07.2003 - B 4 RA 60/02 R in SozR 4-1200 § 52 Nr.1). Der Zinssatz (4 %) und der Beginn der Verzinsung ergeben sich aus § 44 SGB I. Ein höherer Zinssatz ist nach den sozialrechtlichen Vorschriften nicht möglich. Der Senat hatte insoweit von einer Zurückweisung der Berufung abgesehen, weil der Rechtsstreit wegen "Schadensersatzes" abgetrennt und an das zuständige Landgericht verwiesen worden ist, das gegebenenfalls auch über eine höhere Verzinsung zu entscheiden hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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