L 16 B 20/01 KR ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 7 KR 32/01 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 16 B 20/01 KR ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 15.03.2001 wird zurückgewiesen mit der Maßgabe, dass die Antragsgegnerin verpflichtet wird, die Kosten für die Versorgung des Antragstellers mit dem Medikament Cerezyme mit einer Medikation von 60 ml/kg (jeweils 14-tägig) bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides zu übernehmen. Die Antragsgegnerin trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im Beschwerdeverfahren.

Gründe:

Auf die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin ist ihre Verpflichtung, die Kosten für eine Versorgung des Antragstellers mit dem Medikament Cerezyme jeweils 14-tägig im Wege der Sachleistung zu übernehmen, auf den Abschluss des Verwaltungsverfahrens zu befristen. Denn der "antizipierte" Rechtsschutz - während des laufenden Widerspruchsverfahrens - aus der allgemeinen Rechtsschutzgarantie des Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz umfasst nur die Zeit bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens.

Der Senat geht ebenso wie das Sozialgericht davon aus, dass der Antrag auf Erlass einstweiliger Anordnung auch schon im Vorfeld gerichtlicher Verfahren statthaft und zulässig ist. Die Berechtigung der Sozialgerichte zum Erlass einstweiliger Anordnung in an deren als den ausdrücklich im SGG normierten Fällen (vgl. §§ 97 Abs. 2, 199 Abs. 2, 180 Abs. 6 und 181 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz) leitet der Senat - soweit es sich um eine sogenannte Vornahmesache handelt - unmittelbar aus Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz ab. Wegen der materiellen Anspruchsvoraussetzungen und des einzuhaltenden Verfahrens ist jedoch auf § 123 Verwaltungsgerichtsordnung analog zurückzugreifen, soweit die Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens dem nicht entgegenstehen. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass im Hauptsacheverfahren eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage zu erheben wäre (§ 54 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz). Demgemäß hat die Prüfung des einstweiligen Rechtsschutzes grundsätzlich in zweifacher Hinsicht zu erfolgen: Erweist sich die Ablehnung der begehrten Leistung durch die Antragsgegnerin als offensichtlich rechtswidrig, so wäre vorläufiger Rechtsschutz schon aus diesem Grunde zu gewähren. Darüber hinaus muss eine einstweilige Anordnung aber auch dann ergehen, wenn dem Antragsteller durch die Verweigerung der Leistung und die damit verbundene Verweisung auf das Hauptsacheverfahren schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre.

Zwar ist der Bescheid der Antragsgegnerin vom 29.01.2001 nicht offensichtlich rechtswidrig. Darüber hinaus muss sich ein Versicherter wegen der Gewährung von Sach- und/oder Dienstleistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung nach der ständigen Rechtsprechung des Senats bis zur Entscheidung der Hauptsache grundsätzlich auf die Inanspruchnahme von Sozialhilfe verweisen lassen und notfalls auch die Gerichte der (allgemeinen) Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Durchsetzung seiner Ansprüche gegen das Sozialamt zu Hilfe nehmen, wenn seine eigenen Mittel nicht hinreichen, um eine notwendige Krankenbehandlung sicherzustellen (siehe hierzu aus führlich den Beschluss des Senats vom 15.03.1999 - L 16 B 68/98 KR -). Denn die einstweilige Leistung kommt in ihrer Wirkung einer grundsätzlich unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache (vgl. BVerfGE 86, 382 = NJW 92, 2749) gleich. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung zur Symstemsubsidiarität aus den §§ 1 und 2 des Bundessozialhilfegesetzes fest.

Dennoch folgt der Senat vorliegend der Auffassung des Sozialgerichts, dass die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes geboten und dem Antragsteller eine Verweisung auf das Hauptsacheverfahren nicht zumutbar ist. Zu dieser Überzeugung ist er aufgrund der vorzunehmenden Abwägung zwischen dem Interesse der Antragsgegnerin am Bestand der angefochtenen Entscheidung und dem Interesse des Antragstellers an der Durchsetzung seiner Rechte gelangt.

Es ist der Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang zuzugestehen, dass im Verfahren über die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nicht nur ein Anordnungsgrund, sondern auch ein Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen ist (§ 123 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 936 Zivilprozessordnung; vgl. Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 6. Auflage 1998, § 97 Randziffer 22 und Zeihe, Das Sozialgerichtsgesetz, Kommentar, Stand 01.09.2000, § 97 Anmerkung 22p). In welchem Umfang hierbei die Erfolgsaussichten einer Klage im Hauptsacheverfahren mitzuberücksichtigen sind, kann nicht generell und einheitlich beantwortet werden. Entscheidend sind vielmehr die Verhältnisse des Einzelfalles, wobei insbesondere das streitbefangene Recht/Rechtsver hältniss und die Intensität des jeweils drohenden Rechtsnachteils zu beachten sind.

Dem Antragsteller drohen ohne Enzym-Ersatztherapie innerhalb von wenigen Wochen bzw. Monaten ernste Komplikationen. Irreversible Schäden und sogar ein Versterben sind nach den im Verwaltungsverfahren vorgelegten Erklärungen des Oberarztes der Kinderklinik des Universitätsklinikum Mxxxx, Prof. Dr. Bxxx (Bl. 21 PA), nicht unwahrscheinlich. Aus Ländern in Osteuropa, wo zeitweise kein Enzym zur Verfügung gestanden habe, sei bekannt, dass Knochenkrisen mit unglaublichem Schmerz, Milzinfarkte, bronchopulmonale Komplikationen und akute, unstillbare Blutungen sehr plötzlich aufträten. Der behandelnde Kinderarzt Lxxxxxx, Kxxxxxxxxxxxx, hat in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 21.02.2001 ebenfalls bestätigt, dass es ohne Fortsetzung der Behandlung des Antragstellers mit dem Medikament Cerezyme in kürzester Zeit wieder zu der die bei dieser Krankheit üblichen Vergrößerung von Milz und Leber bis zur Gefahr des Milzrisses käme. Über kurz oder lang, er schätze zwischen ein und zwei Jahren, bestünde bei Nichtbehandlung mit diesem Medikament Lebensgefahr für das Kind. In Auswertung dieser medizinischen Unterlagen besteht für den Senat kein Zweifel daran, dass dem Antragsteller ohne kontinuierliche Medikation gravierende Nachteile drohen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage ist.

Der Ausgang eines Hauptsacheverfahrens ist vorliegend zumindest als offen anzusehen, wovon auch der Landesverband der Betriebskrankenkassen Nordrhein-Westfalen in seinem Schreiben an die Antragsgegnerin vom 22.01.2001 ausgegangen ist. Denn Cerezyme ist unstreitig für die Behandlung des Morbus Gaucher Typ I zugelassen. Eine andere Möglichkeit der Behandlung der bei dem Antragsteller diagnostizierten chronischen neuronopathischen Verlaufsform des Morbus Gaucher als die Enzymersatz-Therapie besteht nicht. Sowohl der behandelnde Kinderarzt (eidesstattliche Versicherung vom 21.02.2001) als auch der Leiter des Bereichs Pädiatrische Stoffwechselstörungen der Universitätsklinik Dxxxxxxxxx Prof. Dr. Wxxxxx (Arztbrief vom 05.10.1999) haben beschrieben, bei dem Antragsteller sei es durch die Enzymersatz-Therapie zu einem Rückgang der Leber- und Milzgröße gekommen, bzw. die pulmonalen Krankheitssymptome seien verschwunden. Die regelmässige Verabreichung des Arzneimittels Cerezyme hat somit beim Kläger bezüglich der viszeralen Symptome tatsächlich Erfolg gezeigt. Im Hauptsache verfahren wird zu klären sein, ob es sich bei der Behandlung der chronischen neuronopathischen Verlaufsform des Morbus Gaucher mit Cerezyme um eine indikationsfremde Vesorgung mit diesem Arzneimittel handelt. Dies Frage stellt sich zumindest unter dem Aspekt, dass in der medizinischen Literatur (siehe etwa Medizinische Klinik 2001; 96:32-9) berichtet wird, die bisherige Klassifikation des Morbus Gaucher in drei Typen löse sich vor dem Hintergrund der Tatsache auf, dass viele Verläufe intermediären Formen entsprächen und damit einem Typ nicht zuzuordnen seien. Darüber hinaus wurden in der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Verordnung eines zu gelassenen Arzneimittels außerhalb des zugelassenen Anwendungsbereichs zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung für zulässig gehalten (so der 1. Senat in seinen Remedacen-Entscheidungen vom 05.07.1995 - 1 RK 22/94 und 1 RK 6/95 - SozR 3-2500 § 27 Nr. 5) bzw. offengelassen, ob nicht Ausnahmen von dem prinzipiellen Verbot der indikationsfremden Verordnung im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung zuzulassen seien, etwa in gravierenden Fällen zur Behandlung ernsthafter, lebensbedrohlicher Erkrankungen (so ausdrücklich der 8. Senat des Bundessozialgerichts in dem SKAT-Urteil vom 30.09.1999 - B 8 KN 9/98 KR R - SozR 3-2500 § 27 Nr. 11).

Ausweislich der bereits genannten Auskunft des Prof. Dr. Wxxxxx vom 25.10.2000 sowie der Erklärung des Oberarztes der Kinderklinik des Universitätsklinkums Mxxxx, Prof. Dr. Bxxx, vom 07.05.2001, gibt es keinen Anhalt dafür, dass der Antragsteller an einer Studie zur erhöhten Dosierung des Arzneimittels zur Erforschung des Einflusses auf die neurologischen Defizite teilnimmt.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 Sozialgerichtsgesetz.
Rechtskraft
Aus
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