L 18 V 111/93

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 16 V 96/89
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 V 111/93
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Eine Beweiserleichterung iS eines Beweisnotstandes oder gemäß § 15 VfG-KOV kommt auch in Betracht, wenn der Kläger einen Antrag gemäß § 44 SBG X aus Unkenntnis über die Rechtswidrigkeit des früheren Bescheides nicht früher gestellt hat.
2. Ein Explosionstrauma scheidet als Ursache für eine Gehörstörung nicht deshalb aus, weil die Hörverschlechterung erst 15 Jahre nach dem schädigenden Ereignis erstmals festgestellt wurde.
3. Auch eine alimentäre Dystrophie kann in Einzelfällen als Ursache einer fortschreitenden Hörstörung angesehen werden.
i. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 29.06.1993 und der Bescheid vom 05.04.1989 aufgehoben.
ii. Der Beklagte wird verpflichtet, beim Kläger als weitere Schädigungsfolgen eine an Taubheit grenzende Schallempfindungsschwerhörigkeit rechts und subjektiv störende Ohrgeräusche anzuerkennen und Versorgungsleistungen ab 01.01.1984 nach einer MdE um 90 vH sowie ab 01.01.1997 nach eine MdE um 100 vH zu gewähren.
iii. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
iv. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob weitere Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) anzuerkennen sind und Beschädigtenversorgung nach einer höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) als 70 vH zu gewähren ist.

Der am 1926 geborene Kläger leistete ab 01.01.1944 Kriegsdienst. Vom 10.05.1945 bis 04.10.1947 befand er sich in russischer Kriegsgefangenschaft. Der Beklagte anerkannte mit Umanerkennungsbescheid vom 19.04.1951 als Schädigungsfolgen:

1. Lungentuberkulose links

2. Tbc des XII. Brustwirbels und des I. Lendenwirbels

3. durchgemachte Mittelohrentzündung links

4. abgeheilte Dystrophie,

und gewährte Versorgung nach einer MdE um 100 vH.

Zuletzt waren beim Kläger mit Bescheid vom 15.11.1983 als Schädigungsfolge mit einer MdE um 70 vH anerkannt:

1. Taubheit links bei Zustand nach Tympanoplastik links nach chronischer Mittelohreiterung (Einzel-MdE 15 vH)

2. inaktive Lungen-Tbc mit Rippelfellschwarte links (Einzel-MdE 30 vH)

3. Spanversteifung des XII. Brustwirbels und I. Lendenwirbels nach Wirbel-Tbc (Einzel-MdE 50 vH).

Einen Antrag auf Neufeststellung vom 09.08.1988 lehnte der Beklagte nach HNO-ärztlicher und orthopädischer Begutachtung (Gutachten Dr. vom 03.03.1989 und Dr. vom 21.02.1989) mit Bescheid vom 05.04.1989 ab.

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Nürnberg hat der Kläger eine Rente nach einer MdE um 100 vH begehrt. Er hat eine Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen geltend gemacht und als weitere Schädigungsfolgen iS der Entstehung die Anerkennung eines "hochgradigen, progredienten Innenohrschadens rechts, Gleichgewichtsstörung links, Tinnitus beidseits, Verkrampfung der Muskulatur im Bereich beider Beine, spinale Stenose" sowie als Schädigungsfolge iS der Verschlimmerung "Degeneration der unteren Halswirbelsäulen-Segmente" begehrt. Das SG hat Prof. Dr. (HNO-ärztliches Gutachten vom 25.07.1990/12.05.1993), Dr. (orthopädisches Gutachten vom 05.10.1990), Dr. (internistisches Gutachten vom 22.01.1991), Dr. (orthopädisches Gutachten vom 25.01.1993/08.03.1993) sowie gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Dr. (HNO-ärztliches Gutachten vom 22.07.1991), Dr. (orthopädisches Gutachten vom 21.02.1992), Dr. (internistisches Gutachten vom 10.08.1992) gehört. Der Kläger hat bei der Untersuchung durch die HNO-Ärztin Dr. erstmals anamnestisch angegeben, nach einer Luftminenexplosion 1944 Ohrenschmerzen und beidseitigen Hörverlust verspürt zu haben sowie während der Kriegsgefangenschaft als Sprengmeistergehilfe über einen Zeitraum von ca einem dreiviertel Jahr Sprengungen ohne Gehörschutz ausgesetzt gewesen zu sein. Bereits 1947 habe er eine beidseitige Hörverschlechterung und einen beidseitigen Tinnitus festgestellt.

Mit Urteil vom 29.06.1993 hat das SG den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 05.04.1989 verurteilt, die orthopädische Schädigungsfolge als "Schwerste Störung der Statik der Wirbelsäule nach Spanversteifung des XII. Brustwirbels und I. Lendenwirbels nach Wirbelsäulen-Tbc" neu zu bezeichnen. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen und eine Verschlimmerung der orthopädischen Schädigungsfolge in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen Dr. und Dr. verneint. Auf HNO-ärztlichem Gebiet ist es dem Sachverständigen Prof. Dr. gefolgt, der eine Verschlimmerung der Schädigungsfolge zu 1. verneint sowie die Schwerhörigkeit rechts für schädigungsfremd gehalten hat. Der Auffassung der HNO-Ärztin Dr. die Hörstörung rechts sei durch die Lärmbelastung als Pilot im 2. Weltkrieg, einer Bombenexplosion 1944, Lärmeinwirkungen während der Kriegsgefangenschaft durch Sprengungen in Kohlestollen sowie durch die in der Kriegsgefangenschaft erlittene Dystrophie entstanden, hat es sich nicht angeschlossen.

Gegen das Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und geltend gemacht, die anerkannte "Schwerste Störung der Statik der Wirbelsäule" erfasse nicht den gesamten anatomischen Veränderungsumfang der Wirbelsäule. Ferner bestehe auf internistischem Gebiet neben der abgeheilten Lungen-Tbc eine chronisch obstruktive Atemwegserkrankung. Auch die Hörstörung rechts sei ursächlich auf Kriegseinflüsse zurückzuführen.

Der Senat hat zunächst von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. ein Gutachten vom 11.07.1995 eingeholt. Dieser hat als mittelbare Schädigungsfolge der durchgeführten Versteifungsoperation eine Spinalkanalstenose in der Etage Th 10/Th 11 festgestellt und die neurologische MdE mit 10 vH eingeschätzt. Der vom Senat anschließend gehörte Orthopäde Dr. (Gutachten vom 01.09.1995 und kernspintomographische Untersuchung vom 02.05.1995) hat die (Einzel)-MdE wegen aller an der Wirbelsäule bestehenden Schädigungsfolgen unter Einbezug der von Dr. erhobenen neurologischen Befunde mit 60 vH ab Mai eingeschätzt. Die Schädigungsfolgen hat er iS der Entstehung wie folgt bezeichnet: Spanversteifung der Wirbelsäule zwischen 11. BWK und 3. LWK; Keil-Blockwirbelbildung zwischen 12. BWK und 1. LWK mit Gibbus-Bildung; sekundäre statisch bedingte Fehlstellung der Brust- und Lendenwirbelsäule; Osteochondrose zwischen dem 1. und 2. LWK; ausgeprägte Wirbelbogengelenksveränderung zwischen 10. und 11. BWK mit Spinalstenose; degenerative Veränderungen der unteren Halswirbelsäule und Verschleißerscheinungen der Wirbelbogengelenke der unteren Lendenwirbelsäule, Schliffurchen an den Dornfortsätzen der Lendenwirbelsäule; Narbe am linken Unterschenkel nach Knochenspanentnahme.

Der vom Senat gehörte Internist Dr. (Gutachten vom 22.07.1995) hat vorgeschlagen, die Schädigungsfolgen zu Ziffer 2 bei einer gleichbleibenden Einzel-MdE von 30 vH mit "narbige Lungenveränderungen und Rippenfell-Zwerchfellverschwartung links mit Einschränkung der Lungenfunktion" zu bezeichnen. Für das orthopädisch-neurologische Gebiet hat er zusammenfassend entsprechend dem Vorschlag des Sachverständigen Dr. eine Teil-MdE von 60 vH angenommen und die Gesamt-MdE ab Mai 1995 mit 80 vH eingeschätzt.

Der Beklagte hat sich bereit erklärt, als Schädigungsfolgen iSd Entstehung die von Dr. und Dr. benannten Gesundheitsstörungen anzuerkennen. Der Kläger hat dieses Teilanerkenntnis angenommen.

Auf HNO-ärztlichem Gebiet hat der Senat die Professoren Dr. (Gutachten vom 27.01.1997/05.06.1997) und Dr. (Gutachten vom 15.05.1998/24.07.1998/24.11.1998/ 22.04.1999) gehört. Beide Sachverständigen haben die an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit rechts mit Wahrscheinlichkeit auf Einflüsse des Kriegseinsatzes, der Arbeitsbedingungen in russischer Kriegsgefangenschaft sowie auf die alimentäre Dystrophie und die Tuberkulose zurückgeführt. Daran haben die Sachverständigen trotz der entgegenstehenden Stellungnahmen des HNO-Arztes Dr. vom Ärztlichen Dienst des Amtes für Versorgung und Familienförderung Würzburg vom 24.02.1997, 23.07.1997, 01.07.1998, 17.09.1998 und 17.12.1998 festgehalten. Prof. Dr. hat die bereits 1978 auf dem rechten Ohr bestehende hochgradige, bis an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit iVm der vollständigen Taubheit des linken Ohres mit einer Einzel-MdE von 60 vH und die Gesamt-MdE mit 80 vH bewertet. Ab August 1988 hat er die Einzel-MdE auf HNO-ärztlichem Gebiet mit 80 vH und die Gesamt-MdE mit 100 vH eingeschätzt.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Nürnberg vom 29.06.1993 und des Bescheides vom 05.04.1989 zu verurteilen, eine an Taubheit grenzende Schallempfindungsschwerhörigkeit rechts und subjektiv störende Ohrgeräusche als Schädigungsfolge iS der Entstehung anzuerkennen und Versorgungsleistungen ab 01.01.1984 nach einer MdE von 90 vH sowie ab 01.01.1997 um 100 vH zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung des Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 29.06.1993 zurückzuweisen.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Beschädigtenakten und orthopädischen Beiakten des Beklagten sowie die Gerichtsakten der ersten und zweiten Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht (§§ 143, 151 SGG) eingelegte Berufung ist zulässig und begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung der weiteren Schädigungsfolgen iS der Entstehung "Schallempfindungsschwerhörigkeit rechts, subjektiv störende Ohrgeräusche" und Gewährung von Versorgungsbezügen nach einer MdE von 90 vH ab 01.01.1984 und um 100 vH ab 01.01.1997.

Nach § 48 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung dann aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlaß des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine solche wesentliche Änderung der Verhältnisse im gesundheitlichen Bereich liegt insbesondere dann vor, wenn sich eine bereits anerkannte Schädigungsfolge verschlimmert hat oder eine weitere Gesundheitsstörung aufgetreten ist, die mit Wahrscheinlichkeit ursächlich auf ein schädigendes Ereignis iS des BVG oder die bereits anerkannten Schädigungsfolgen zurückzuführen ist. Für die Anerkennung einer weiteren Schädigungsfolge ist es erforderlich, daß ein schädigendes Ereignis eine gesundheitliche Schädigung hervorgerufen und diese eine zum Zeitpunkt der Antragstellung noch vorhandene Gesundheitsstörung verursacht hat. Schädigendes Ereignis, gesundheitliche Schädigung und Gesundheitsstörung müssen dabei jeweils für sich nachgewiesen sein. Lediglich für die Anerkennungsfähigkeit der Gesundheitsstörung genügt gemäß § 1 Abs 3 Satz 1 BVG die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs mit der gesundheitlichen Schädigung. Wahrscheinlichkeit iS dieser Vorschrift bedeutet, daß mehr für als gegen den ursächlichen Zusammenhang spricht.

Voraussetzung für die Feststellung, ob eine Änderung vorliegt, ist ein Vergleich zwischen den Verhältnissen im Zeitpunkt des Erlasses der bindend gewordenen letzten bescheidmäßigen Feststellung der Leistung und dem Zustand zum Zeitpunkt der Neufeststellung. Soweit sich im Einzelfall ergibt, daß bei Erlaß eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und deshalb zu Unrecht Sozialleistungen nicht erbracht worden sind, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen und über die begehrten Sozialleistungen neu zu entscheiden (§ 44 Abs 1, 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X -).

Der Senat wertet den Antrag des Klägers vom 09.08.1988 auf "Überprüfung der MdE" auch als einen solchen nach § 44 SGB X. Der Beklagte ist bei Erlaß des Bescheides vom 15.11.1983 von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich als unrichtig erweist. Nach den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. im Gutachten vom 15.05.1998 war der symmetrische Innenohrhörverlust bereits im Jahre 1964 deutlich ausgeprägt. Bereits 1978 bestand auf dem rechten Ohr ein prozentualer Hörverlust von 80 %, was einer hochgradigen, bis an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit entsprach. Diese Schwerhörigkeit rechts ist nach den Feststellungen der Professoren Dr. und Dr. - denen der Senat folgt - mit Wahrscheinlichkeit auf Einflüsse des Kriegsdienstes und der Kriegsgefangenschaft zurückzuführen.

Der Senat hält die schädigenden Ereignisse - Luftminenexplosion 1944 und Sprengungen als Sprengmeistergehilfe im Kohlebergbau in russischer Kriegsgefangenschaft - für glaubhaft iS des § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VfG-KOV). Danach sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung in Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verloren gegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Der Versorgungsberechtigte soll in der Kriegsopferversorgung nicht darunter leiden, daß beweiskräftige Unterlagen nicht beschafft werden können. Daher bestimmt das Gesetz die Glaubhaftmachung von Tatsachen durch den Antragsteller als ausreichende Entscheidungsgrundlage (Rohr/Strässer, BVG, Kommentar, § 15 VfG-KOV-K 1). Diese Vorschrift gilt nicht nur im Verwaltungsverfahren, sondern auch im Gerichtsverfahren. Sie enthält materielles Beweisrecht (BSGE 65, 123). Die Beweiserleichterung erfaßt a u c h alle Tatsachen, aus denen sich ergibt, daß es zu einer gesundheitlichen Schädigung gekommen ist (Rohr/Strässer aaO).

Im Falle eines "Beweisnotstandes", dh in Fällen, in denen für die Feststellung anspruchsbegründender Tatsachen besondere Schwierigkeiten bestehen, kann die Beweiserleichterung dergestalt gewährt werden, daß an die Bildung der richterlichen Überzeugung weniger hohe Anforderungen gestellt werden (vgl BSG SozR 3-1750 § 444 Nr 1). Ein Anspruch des Klägers ist vorliegend nicht deswegen ausgeschlossen, weil er vor seinem erstmaligen Antrag auf Anerkennung einer Hörschädigung rechts im Klageschriftsatz vom 05.05.1989 Jahrzehnte hat verstreichen lassen und es Beweiserleichterungen nur für kriegsbedingte Beweisnot gibt (vgl BSG SozR 3-3100 § 5 Nr 2). Denn die bestehende Beweisnot geht nicht zu Lasten des Klägers. Ein Rücknahmeantrag gemäß § 44 SGB X hätte mit Aussicht auf Erfolg nicht früher gestellt werden können. Erstmals im nunmehrigen Berufungsverfahren hat der Sachverständige Prof. Dr. nämlich festgestellt, daß bereits im Jahr 1964 anläßlich einer versorgungsärztlichen Begutachtung ein symmetrischer Innenohrhörverlust deutlich ausgeprägt war und der spätere Hörverlust rechts schädigungsbedingt ist. Vor dem Jahr 1964 erfolgten durch den Beklagten trotz der anerkannten Hörstörung links keine ohrenärztlichen Begutachtungen und bei den HNO-ärztlichen Untersuchungen/Stellungnahmen des Beklagten in den Jahren 1964, 1974, 1975, 1978, 1983 und 1989 wegen Hörgeräteverordnungen sind kausale Betrachtungen wegen der Hörstörung rechts vom Beklagten nicht angestellt worden. Der Senat teilt die Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. daß direkt nach der Entlassung aus der Gefangenschaft für den Kläger die tuberkulöse Erkrankung der Lunge und der Wirbelsäule ganz im Vordergrund gestanden haben. Es ist für den Senat nachvollziehbar, daß hinsichtlich des Hörvermögens die Aufmerksamkeit des Klägers ganz auf das linke Ohr gerichtet war, das durch die tuberkulöse Mittelohrentzündung wesentlich schlechter hörte als das rechte. Prof. Dr. weist daher zu Recht darauf hin, daß bei einer solchen einseitig betonten Schwerhörigkeit es für den Kläger kaum möglich war zu erkennen, ob auf dem anderen, noch besser hörenden Ohr sich ebenfalls eine Hörstörung ankündigte, da sich die komplexe akustische Wahrnehmung verändert hatte und diese Veränderung naturgemäß zunächst nur als Folge der einseitig stärkeren Hörstörung gesehen wurde.

Die Hörstörung rechts ist, entgegen der Annahme des HNO-Arztes Dr. nicht auf einen Hörsturz zurückzuführen. Unter einem Hörsturz ist eine plötzliche - auch schubweise - Hörminderung zu verstehen, die beim Kläger nicht dokumentiert ist. Das Hörvermögen des Klägers hat sich vielmehr auf dem rechten Ohr ganz allmählich verschlechtert.

Die erlittenen Knalltraumen waren geeignet, einen Innenohrschaden herbeizuführen. Nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 RdNr 86 Abs 2 kann schon ein einzelnes Knall- oder Explosionstrauma zu bleibenden Innenohrschäden führen. Zwar ist ein Fortschreiten des Innenohrschadens nach einem solchen Trauma selten und kann eine Progredienz nach Wegfall der Exposition nur dann als Schädigungsfolge angesehen werden, wenn auf eine erhebliche primäre Hörschädigung geschlossen werden kann. Dabei ist zu beachten, ob andere Noxen (zB Degeneration, Alterung) als wesentliche Bedingung der Progredienz in Betracht kommen (aaO). Eine Progredienz kann aber auch bei Latenzzeiten von mehreren Jahren vorkommen. Eine Degeneration scheidet beim Kläger aus, da der Innenohrschaden bereits 1964 im Alter von 38 Jahren aufgetreten ist. Auch eine erbliche Belastung liegt bei ihm nicht vor. Die Annahme, die progrediente beiderseitige Innenohrschwerhörigkeit habe sich als Folge eines chronischen Tubenkatarrhs entwickelt - wovon die HNO-Ärzte Dr. und Dr. ausgehen - ist medizinisch nicht haltbar. Prof. Dr. weist darauf hin, daß die Untersuchung durch Prof. Dr. ergeben hat, daß beide Mittelohren normal belüftet sind und das rechte Trommelfell eine völlig normale Beweglichkeit aufweist. Ein jahrelang bestehender chronischer Tubenmittelohrkatarrh würde sich aber durch starke Verwachsungen zwischen Trommelfell und medialer Paukenhöhlenwand zeigen und einen sogenannten Adhäsiv-Prozeß auslösen, bei dem praktisch ein lufthaltiges Mittelohr nicht mehr vorhanden ist. Abgesehen davon, daß ein derartiger Befund nicht vorliegt, würde er auch nicht zu einer progredienten Innenohrschwerhörigkeit führen, wie sie beim Kläger vorliegt.

Explosionstraumen scheiden als Ursache für die Gehörstörung nicht deshalb aus, weil die Hörverschlechterung erst 15 Jahre nach dem schädigenden Ereignis erstmals festgestellt wurde. Zum einen fehlen HNO-ärztliche Begutachtungen aus der Zeit vor 1964, die die Annahme des erstmaligen Auftretens einer Hörstörung 1964 stützen würden, zum anderen belegt die 1947 von der Universitätsklinik und Poliklinik für HNO-Kranke, Erlangen, durchgeführte Hörweitenprüfung ebenfalls nicht, daß damals ein wesentlicher Hörschaden nicht vorgelegen hat. So schließt nach den Feststellungen des Prof. Dr. ein Hörbefund, bei dem mit 6 Meter Entfernung die maximale Hörweite für Flüstersprache erreicht wird, einen Hörverlust von etwa 20 db im gesamten Frequenzbereich nicht aus. Hinzu kommt, daß der Kläger im Berufungsverfahren nunmehr glaubhaft vorgetragen hat, daß er Anfang April 1947 auch auf dem rechten Ohr ein Ohrensaußen und Klopfen bemerkt habe.

Die Innenohrschwerhörigkeit rechts ist auch mit Wahrscheinlichkeit auf die in der Kriegsgefangenschaft erlittene alimentäre Dystrophie zurückzuführen. Prof. Dr. läßt keinen Zweifel daran, daß die Lungen-Tuberkulose iVm der Dystrophie zu Flüssigkeitsverschiebungen im Innenohr geführt hat. Im Innenohr befinden sich zwei Kompartimente, die mit unterschiedlicher Flüssigkeit, der Endolymphe und Perilymphe gefüllt und nur durch ein zartes Membran getrennt sind. Dieses System reagiert außerordentlich empfindlich auf Veränderungen des osmotischen bzw onkotischen Druckes, der durch den Eiweißgehalt des Blutes bestimmt wird. Hierin ist nach Prof. Dr. die wahrscheinliche Ursache darin zu sehen, daß es in Verbindung mit einer Dystrophie zu Hörstörungen kommen kann. Der gleichzeitige Nachweis anderer neurologischer Symptome ist nach den Feststellungen des Prof. Dr. entgegen der Auffassung der Professoren Dr. und des Dr. nicht erforderlich. Zwar kann nur in Einzelfällen eine Dystrophie als Ursache einer fortschreitenden Hörstörung angesehen werden. Der Senat bejaht die Wahrscheinlichkeit der Verursachung hier jedoch insbesondere deshalb, weil der Kläger neben der Dystrophie auch Explosions- bzw Knalltraumen erlitten hat.

Der Senat hatte nach alledem keine Bedenken, den Gutachten der Sachverständigen, Professoren Dr. und Dr. zu folgen und die Innenohrhörstörung rechts auf die im Krieg erlittenen Explosionstraumen und die durchgemachte Dystrophie zurückzuführen. Ausgehend von den bei einer versorgungsärztlichen Untersuchung 1978 festgestellten Hörverlusten hat Prof. Dr. die Höhe der Einzel-MdE auf HNO-ärztlichem Gebiet entsprechend den AHP 1983 mit 60 vH zutreffend eingeschätzt. Nach den bis 31.12.1996 geltenden AHP 1983 war eine hochgradige, bis an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit eines Ohres iVm einer vollständigen Taubheit des anderen Ohres mit einer MdE von 60 vH zu bewerten. Prof. Dr. schätzt die im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 15.11.1983 zugrundezulegende Gesamt-MdE auf 80 bis 90 vH. Eine weitere Verschlechte- rung des Hörvermögens nach 1983 ist nicht nachgewiesen. Auch die bei einer versorgungsärztlichen Begutachtung 1989 erhobenen Werte lassen nach den Feststellungen des Prof. Dr. keinen sicheren Schluß auf eine weitere Verschlechterung des Hörvermögens rechts zu. Die bei der Begutachtung durch Prof. Dr. 1996 ermittelten Hörwerte rechts ergaben einen Gesamthörverlust von 98 %, so daß Prof. Dr. zu Recht davon ausgeht, daß die Schwere der pankochleären Schwerhörigkeit rechts einer praktischen Taubheit nahekommt. Der Senat hält es daher für gerechtfertigt, für die Zeit ab 01.01.1984 eine Gesamt-MdE von 90 vH anzunehmen. Eine MdE von 100 vH kann entgegen der Auffassung des Prof. Dr. nicht ab August 1988, sondern erst ab 01.01.1997, dem Zeitpunkt der Änderung der AHP gewährt werden. Nach der ab 01.01.1997 geltenden Tabelle der AHP 1996 ist eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit des einen Ohres iVm einer Taubheit des anderen Ohres nunmehr mit einer Einzel-MdE um 70 vH zu bewerten. Änderungen der AHP wirken wie Änderungen der rechtlichen Verhältnisse iS des § 48 SGB X (BSG SozR-3870 § 3 Nr 5). Unter Berücksichtigung dieser erhöhten Einzel-MdE von 70 vH war der Beklagte - insoweit in Übereinstimmung mit Prof. Dr. - zur Festsetzung einer MdE von 100 vH ab 01.01.1997 zu verurteilen.

Die erhöhte Rente ist gemäß § 44 Abs 4 SGB X ab 01.01.1984 zu zahlen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision iS des § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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