L 6 VJ 39/96

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 11 V 72/88
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 VJ 39/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 29.02.1996 abgeändert und die Klage abgewiesen. Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Umstritten ist, ob der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin unter Rücknahme früherer Bescheide Versorgung nach dem Bundesseuchengesetz - BSeuchG - zu gewähren.

Die am ...1959 geborene Klägerin nahm am 01.04.1962 an einer Polioschluckimpfung teil.

Im November 1974 beantragte sie - vertreten durch ihren Vater J ... W ... - erstmals Versorgung nach dem BSeuchG wegen einer geistigen Behinderung als Folge der am 01.04.1962 vorgenommenen Schluckimpfung. Zur Begründung wurde im wesentlichen vorgetragen, die Klägerin habe sich nach normaler Geburt körperlich und geistig ebenso gut wie ihre Geschwister entwickelt. Schon bald nach der Schluckimpfung habe sie die Nahrung verweigert, wieder eingenässt und über Bauch- und Kopfschmerzen geklagt. Trotz mehrfacher gründlicher Untersuchungen und sorgfältiger Behandlungen durch die Kinderärztin Dr. V ... habe sich ihr Gesundheitszustand schnell verschlechtert. Wegen eines seit Tagen bestehenden Erbrechens habe akute Lebensgefahr bestanden. Deshalb habe sie am 06.06.1962 mit einem Krankenwagen (Blaulicht) in die R ... in M ... eingeliefert werden müssen. Am 10.08.1962 sei sie zwar in gutem Allgemeinzustand entlassen worden. Jedoch sei allen sofort eine Veränderung im Verhalten des Kindes aufgefallen. Plötzlich habe sie auf dem rechten Auge geschielt. Sie habe weder gehen noch feste Nahrung zu sich nehmen können und kaum ein Wort gesprochen. Sie habe geschrien und geweint, wenn sie jemanden mit einem weißen Kittel gesehen habe, und sich vor fremden Personen gefürchtet.

In einem Arztbrief der R ... vom 11.08.1962 an die Kinderärztin Dr. V ... heißt es, dass die Klägerin am 06.06.1962 eingeliefert worden sei, weil zu Hause seit einem Tage Erbrechen bestanden habe, das unbeeinflussbar zu sein schien. Nach dem Ergebnis der Untersuchungen müsse angenommen werden, dass es sich um einen unklaren Infekt gehandelt habe, der mit Erbrechen, Gastroenteritis und Herz-Muskelentzündung einhergegangen sei. Am 10.08.1962 habe die für ihr Alter statisch und geistig rückständige Klägerin im guten Allgemeinzustand nach Hause entlassen werden können.

In einem vom Beklagten veranlassten Gutachten des Landesmedizinaldirektors Dr. M ... vom 05.06.1976 sind als Diagnosen ein Schwachsinn vom Ausprägungsgrad einer Imbezillität mit erheblichen Verhaltensstörungen sowie ein toxischer Herzschaden genannt. Zusammenfassend heißt es, es lasse sich als sehr wahrscheinlich machen, dass infolge der oralen Poliomyelitisimpfung eine durch das Impfvirus hervorgerufene Gastroenteritis aufgetreten sei, die zu Stoffwechselentgleisungen mit einer sekundären toxischen Herzschädigung und toxischer Enzephalopathie geführt habe. Durch die Enzephalopathie sei der Entwicklungsrückstand verursacht worden.

Die Versorgungsverwaltung legte dieses Gutachten dem Leiter der Landesimpfanstalt Nordrhein-Westfalen Dr. R ... in D ... zur Stellungnahme vor, der eine gutachtliche Äußerung von Prof. Dr. Dr. B ... und Prof. Dr. H ..., Sonderausschuss der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Kinderlähmung und anderer Viruserkrankungen e.V., vom 05.06.1975 übersandte. Hierin ist zusammenfassend ausgeführt, ein Zusammenhang des derzeitigen Zustandes der Klägerin, die eine ausgesprochene geistige Unterentwicklung zeige, mit der Schluckimpfung sei nicht wahrscheinlich. Erst 67 Tage nach der oralen Polioimpfung sei eine Einweisung in die R ... M ... erfolgt. Es stehe lediglich fest, dass die Klägerin damals eine Gastroenteritis - vermutlich mit einer Myokarditis - durchgemacht habe. Für eine zerebrale Beteiligung im akuten Stadium fehle jeder Anhalt.

Im wesentlichen gestützt auf die Beurteilung der Professoren Dr. Dr. B ... und Dr. H ... lehnte es der Beklagte ab, der Klägerin Versorgung nach dem BSeuchG zu gewähren (Bescheid vom 02.09.1976 und Widerspruchsbescheid vom 24.11.1976).

Im anschließenden Klageverfahren - Sozialgericht Münster, Az.: S 13 V 182/76 - holte das Gericht, nachdem zuvor Dr. M ... in einer ergänzenden Stellungnahme vom 16.02.1978 an seiner früheren Auffassung festgehalten hatte, von Prof. Dr. S ..., Direktor der Kinderklinik der Universität G ..., ein Sachverständigengutachten vom 18.01.1979 ein. Hierin erachtete es der Sachverständige für nicht wahrscheinlich, dass der schwere geistige Entwicklungsrückstand der Klägerin mit der am 01.04.1962 durchgeführten Schluckimpfung in ursächlichem Zusammenhang stehe. Im Zeitpunkt der am 06.06.1962 erfolgten stationären Aufnahme in die R ... müsse es sich um eine von der Impfung unabhängige Neuerkrankung gehandelt haben.

Mit Urteil vom 17.05.1979 wies das Sozialgericht Münster die Klage ab und stützte sich dabei im wesentlichen auf die Stellungnahme der Professoren Dr. Dr. B ... und Dr. H ... vom 05.06.1975 sowie auf die Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. S ... Im anschließenden Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - Az.: L 7 V 140/79 LSG NRW - wurde nach § 109 Sozialgerichtsgesetz - SGG - ein Gutachten des Privatdozenten Dr. L ..., Chefarzt der Kinderabteilung des M ...- ... R ... vom 23.05.1983 eingeholt sowie ein weiteres Sachverständigengutachten von Amts wegen des Prof. Dr. D ..., Institut für Virologie und Seuchenhygiene der Medizinischen Hochschule H ..., vom 24.01.1986. Privatdozent Dr. L ... führte den auch von ihm festgestellten Schwachsinn vom Grade der Imbezillität mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine durchgemachte Enzephalitis oder Enzephalopathie zurück. Unter Hinweis darauf, dass die Kenntnisse über mögliche Komplikationen nach Schluckimpfung sicher unvollständig seien, bejahte er die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen Impfung und der geistigen Behinderung. Demgegenüber gelangte Prof. Dr. D ... zu dem Ergebnis, dass ein Kausalzusammenhang nicht wahrscheinlich sei. Maßgeblich hierfür sei, dass eine neurologische Erkrankung wahrscheinlich erst zum Zeitpunkt der Aufnahme in die R ... am 06.06.1962, jedenfalls aber während des Klinikaufenthaltes begonnen habe. Zwar könne eine neurologische Erkrankung, z.B. eine schleichend verlaufende Enzephalitis vor dem 06.06.1962 nicht ausgeschlossen werden. Jedoch könne dies nach den vorhandenen Unterlagen nicht als wahrscheinlich angesehen werden. Insgesamt sei mithin wegen des zeitlichen Abstandes zwischen Impfung und des Beginns der zur zerebralen Minderleistung führenden Erkrankung von 65 Tagen ein Ursachenzusammenhang zwischen Impfung und dem heutigen Krankheitsbild nicht wahrscheinlich.

Mit Urteil vom 06.03.1986 wies das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen die Berufung zurück. Dabei stützte es sich u.a. auf die Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. D ... Hiernach sei in Übereinstimmung mit den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" 1983 - AHP 1983 - ein Ursachenzusammenhang der Erkrankung der Klägerin mit der Impfung nur dann wahrscheinlich, wenn eine mit dem Impfvirus assoziierte Erkrankung etwa bis zu 30 Tagen nach der Impfung auftritt. Bei der Klägerin hätte sich deshalb innerhalb dieses Zeitraumes eine Gastroenteritis mit dem Schweregrad einer Toxikose und sodann eine vor allem dadurch bedingte cerebrale Schädigung entwickeln müssen. Hierfür finde sich kein überzeugender Anhalt. Die Karteiunterlagen der Kinderärztin Dr. V ... enthielten für die Zeit bis ca. 30 Tagen nach der Impfung keinerlei Hinweise auf eine Erkrankung des Zentralnervensystems. Insgesamt spreche mehr dafür, dass die zur cerebralen Minderleistung der Klägerin führende Erkrankung erst kurz vor der Einweisung in die R ... begonnen habe. Eine Anerkennung der geltend gemachten Gesundheitsstörungen gemäß § 52 Abs. 1 Satz 2 BSeuchG als Impfschadensfolge sei ebenfalls nicht möglich, weil sich auch über einen Kontaktfall mit verlängerter Inkubationszeit kein ursächlicher Zusammenhang wahrscheinlich machen lasse. Im übrigen finde bei unaufgeklärtem ursächlichen Zusammenhang zwischen Impfung und Gesundheitsschaden auch im Impfschadensrecht keine Beweislastumkehr statt (Urteil des BSG vom 19.08.1981 - 9 RVi 5/80 -).

Die von der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegte Beschwerde wurde mit Beschluss des Bundessozialgerichts - Az.: 9a BVi 4/86 - vom 21.11.1986 als unzulässig verworfen.

Im Rahmen eines Petitionsverfahrens beantragte die Klägerin im Januar 1987 - nachdem sie bereits im Mai 1980 Versorgung unter dem Gesichtspunkt des § 52 Abs. 2 Satz 2 BSeuchG beantragt hatte - die Überprüfung der früheren den Versorgungsanspruch ablehnenden Bescheide nach § 44 Sozialgesetzbuch 10 - SGB X. Im wesentlichen unter Wiederholung und Vertiefung ihres früheren Vorbringens vertrat sie weiterhin die Auffassung, dass ihr Antrag auf Anerkennung eines Impfschadens zu Unrecht abgelehnt worden sei.

Unter Hinweis auf das im Vorprozess erstellte Gutachten des Prof. Dr. D ... und die in den AHP 1983, S. 185 niedergelegten Grundsätze hielt der Beklagte an der Bindungswirkung der früheren Bescheide fest. Eine Versorgung nach § 52 Abs. 2 Satz 2 BSeuchG lehnte er ebenfalls ab, weil keine medizinische Ungewissheit über den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Impfung und den vorliegenden Gesundheitsstörungen bestehe. Ungewissheiten im Sachverhalt, die von der Ungewissheit in der medizinischen Wissenschaft über die Ursachen des Leidens unabhängig seien, rechtfertigten die Anwendung der Kannvorschrift nicht (Bescheid vom 31.01.1987 und Widerspruchsbescheid vom 22.02.1988).

Im anschließenden Klageverfahren hat die Klägerin weiterhin Versorgung nach dem BSeuchG begehrt und die Auffassung vertreten, ihre geistige Behinderung sei mit Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die Polioschluckimpfung am 01.04.1962 zurückzuführen. Zur Begründung hat sie sich im wesentlichen auf das Ergebnis der vom Sozialgericht durchgeführte Beweisaufnahme gestützt.

Die Klägerin hat beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 31.03.1987 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.02.1988 zu verurteilen, unter Rücknahme des Bescheides vom 02.09.1976 den bei der Klägerin bestehenden Schwachsinn vom Grade der Imbezillität mit hirnorganischem Psychosyndrom als Impfschaden im Sinne des BSeuchG anzuerkennen und ab dem 01.01.1983 Entschädigungsleistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu erbringen, hilfsweise, den Schaden gemäß § 52 Abs. 2 Satz 2 BSeuchG als Impfschaden anzuerkennen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hat unter Hinweis auf eingereichte Stellungnahmen des Prof. Dr. M ... an seiner Auffassung festgehalten, dass die Voraussetzungen für einen Versorgungsanspruch nach dem BSeuchG nicht erfüllt seien.

Das Sozialgericht hat zunächst Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen L ... W ... - Mutter der Klägerin - und J ... W ... - Vater der Klägerin - sowie der Kinderärztin Dr. V ... Die Zeugin L ... W ... hat u.a. bekundet, dass die Klägerin etwa zwei Wochen nach der Impfung Angst gehabt habe, in den Keller zu gehen. Etwa ab der zweiten oder dritten Woche nach der Impfung habe die Klägerin des öfteren begonnen hinzufallen. Sie habe dann auf dem Boden gelegen, sei kurz zusammengezuckt und dann wieder aufgestanden. Das mit dem Hinfallen sei manchmal jeden Tag, manchmal alle zwei Tage geschehen und bis zur Klinikeinweisung so geblieben.

Alsdann ist weiter Beweis erhoben worden durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Prof. Dr. K ..., Direktor der Landesklinik N ... vom 30.03.1992 nach § 109 SGG mit ergänzender Stellungnahme vom 01.08.1995. Der Sachverständige ist insgesamt zu dem Ergebnis gekommen, dass dann, wenn man die von der Zeugin L ... W ... vor Gericht gemachten Angaben als gegeben unterstellt, die Klägerin ohne vernünftige Zweifel (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) ab April 1962 eine Enzephalitis durchgemacht habe, die ursächlich ausschließlich auf die Impfung am 01.04.1962 zurückgehe. Der heute festzustellende Schwachsinn vom Grade der Imbezillität sowie ein hirnorganisches Psychosyndrom seien mit weit überwiegender (somit voll ausreichender) Wahrscheinlichkeit ausschließlich Folge dieser Enzephalitis.

Mit Urteil vom 29.02.1996 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 31.03.1987 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.02.1988 verurteilt, unter Rücknahme des Bescheides vom 02.09.1976 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.11.1976 den bei der Klägerin bestehenden Schwachsinn vom Grade der Imbezillität mit hirnorganischem Psychosyndrom als Impfschaden im Sinne des BSeuchG anzuerkennen und ab dem 01.01.1983 Entschädigungsleistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu erbringen. Zur Begründung hat sich das Sozialgericht auf die Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. K ... gestützt. Dabei hat es in tatsächlicher Hinsicht die von der Zeugin L ... W ... bekundeten Veränderungen des Gesundheitszustandes der Klägerin nach der Impfung zugrundegelegt und im einzelnen dargelegt, dass diese Angaben glaubhaft seien bzw. die Zeugin glaubwürdig sei.

Gegen dieses ihm am 29.04.1996 zugestellte Urteil richtet sich die am 23.05.1996 eingelegte Berufung des Beklagten. Unter Vorlage weiterer Stellungnahmen des Prof. Dr. M ... ist der Beklagte weiterhin der Auffassung, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Impfung und der jetzt feststellbaren Erkrankung nicht wahrscheinlich sei. Weiterhin meint der Beklagte, wenn nunmehr in diesem sozialgerichtlichen Verfahren erstmals die Rede von Zuckungen und Hinfallen der Klägerin nach der Impfung sei, so bestünden gegen den Tatsachengehalt dieser Angaben ganz erhebliche Bedenken. So würden sich aus den bisherigen Angaben der Eltern zur Vorgeschichte der Klägerin für die Zeit nach der Impfung keinerlei Hinweise auf Krampfanfälle ergeben.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 29.02.1996 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen, hilfsweise ein Gutachten über die Glaubwürdigkeit der Zeugin L ... W ... einzuholen.

Die Klägerin hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Sie sieht sich in ihrer Auffassung durch die Beweisaufnahme im Berufungsverfahren bestätigt.

Im Berufungsverfahren ist von Prof. Dr. D ... ein weiteres Sachverständigengutachten vom 06.02.1998 mit ergänzender Stellungnahme vom 02.07.1998 eingeholt worden. Zudem ist der Sachverständige im Termin am 07.12.1999 vernommen worden. Unter der Prämisse, dass die von den als Zeugen gehörten Eltern der Klägerin gemachten Angaben zutreffen, kommt Prof. Dr. D ... nunmehr zu dem Ergebnis, dass die Klägerin etwa ein bis zwei Wochen nach der Impfung an einer Enzephalitis erkrankt ist. Diese Enzephalitis sei durch die Impfung bedingt. Dabei sei die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen Impfung und der heutigen Erkrankung der Klägerin zu bejahen. Diese Schlussfolgerung stehe aber unter der Prämisse, dass die Angaben der Eltern der Klägerin zutreffen. Sollten diese Angaben nicht zutreffen, müsste, wie bereits im Gutachten vom 24.01.1986 ausgeführt, wegen des dann zu großen Zeitabstandes zwischen Impfung und Auftreten der Erkrankung die Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhanges verneint werden. Im Termin am 07.12.1999 hat der Senat erneut die Zeugen L ... und J ... W ... vernommen. Von der R ... M ... sind Kopien - Originale sind nicht mehr vorhanden - der Krankenunterlagen über die stationäre Behandlung der Klägerin vom 06.06.1962 bis 10.08.1962 beigezogen worden.

Zur weiteren Sachverhaltsdarstellung und bezüglich des Vorbringens der Beteiligten im einzelnen wird auf die Inhalte der Gerichtsakte, der Verwaltungsakte des Beklagten und der beigezogenen Streitakten des Sozialgerichts Münster, Az.: S 13 V 182/76, S 11 V 82/88 und S 11 V 95/88 sowie der beigezogenen Krankenunterlagen Bezug genommen. Die Inhalte dieser Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet.

Das Sozialgericht hat den Beklagten zu Unrecht verurteilt, der Klägerin Versorgung nach dem BSeuchG zu gewähren. Der Beklagte ist nicht verpflichtet, die früheren Bescheide nach § 44 SGB X zurückzunehmen. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens lässt sich nicht feststellen, dass die frühere, im Vorprozess überprüfte und bestätigte Ablehnung des Versorgungsanspruchs unrichtig war. Die Klägerin hat unter Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens keinen Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem BSeuchG.

Nach § 51 Abs. 1 BSeuchG erhält, wer durch eine Impfung, die gesetzlich vorgeschrieben oder [ ...] von einer zuständigen Behörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen worden ist, einen Impfschaden erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen des Impfschadens auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Ein Impfschaden ist nach § 52 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG ein über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehender Gesundheitsschaden.

Die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die schädigende Einwirkung (Impfung), die gesundheitliche Schädigung (unübliche Impfreaktion) innerhalb der Inkubationszeit und die Schädigungsfolge (Dauerleiden) müssen nachgewiesen sein (vgl. BSGE 60, 58, 59f = SozR 3850 § 51 Nr. 9; BSG SozR 3100 § 89 Nr. 11). Zur Anerkennung einer nachgewiesenen Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt dagegen die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs (§ 52 Abs. 2 Satz 1 BSeuchG), d.h. es muss mehr für als gegen einen solchen Kausalzusammenhang sprechen (BSGE 60, 58; BSG SozR 3850 § 51 Nrn. 8, 10; § 52 Nr. 1). Die Legaldefinition in § 52 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG stellt klar, dass Impfschaden nicht jede Gesundheitsstörung ist, die mit Wahrscheinlichkeit auf der Impfung beruht, sondern nur der über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehende. Welche Impfreaktionen danach als Impfschäden anzusehen sind, lässt sich im allgemeinen den AHP - jeweils Nr. 57 der AHP 1983 und AHP 1996 - entnehmen. Die AHP geben den der herrschenden medizinischen Lehrmeinung, das ist die sogenannte Schulmedizin, entsprechenden aktuellen Kenntnis- und Wissensstand wieder, u.a. auch über die Auswirkungen und Ursachen von Gesundheitsstörungen nach Impfungen. Zwar beruhen die AHP weder auf dem Gesetz noch auf einer Verordnung oder auch nur auf Verwaltungsvorschriften, so dass sie keinerlei Normqualität haben. Dennoch wirken sie in der Praxis wie Richtlinien für die ärztliche Gutachtertätigkeit, haben deshalb normähnlichen Charakter und sind im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie untergesetzliche Normen heranzuziehen (vgl. BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 19 m.w.N.).

Nach den maßgeblichen Richtlinien der AHP werden bei der Polio-Schluckimpfung mit Lebendimpfstoff als übliche Impfreaktion angesehen einige Tage nach der Impfung gelegentliche - nur wenige Tage anhaltende - Durchfälle, Erbrechen, erhöhte Temperaturen, Exantheme, Kopfschmerzen und Abgeschlagenheit (AHP 1983 Nr. 57 S. 185; AHP 1996 Nr. 57 S. 230). Impfschäden, d.h. unübliche Impfreaktion, sind poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen bei einer Inkubationszeit von 3 bis 30 Tagen und dem Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten. Nicht poliomyelitisähnliche Erkrankungen am Zentralnervensystem nach der Impfung, wie die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens oder - sehr selten - eine Menigoenzephalitis, Polyradikulitis, Polyneuritis oder Fazialisparese, bedürfen stets einer besonders sorgfältigen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 30 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren im Darm oder Rachen und einer Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden (AHP 1983 a.a.O.). Demgegenüber verlangen die AHP 1996 (a.a.O.) grundsätzlich bei nicht poliomyelitisähnlichen Erkrankungen - wie der hier von den Sachverständigen angenommenen Enzephalitis -, dass diese schon zwischen dem 3. und 14. Tag nach der Impfung nachgewiesen werden.

In Anwendung der vorstehend genannten Grundsätze sind die für die begehrte Versorgung erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllt.

Vielmehr sind auch zur Überzeugung des erkennenden Senats die vom Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - Az.: L 7 V 140/79 LSG NRW - in dem Urteil vom 06.03.1986 für die Ablehnung des Versorgungsanspruchs aufgezeigten und u.a. auf die Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. D ... in seinem Gutachten vom 24.01.1988 gestützten Gründe weiterhin zutreffend. Insbesondere ist hierin die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Impfung und dem heutigen Krankheitsbild zu Recht wegen des zu großen Zeitabstandes von über 30 Tagen zwischen Impfung und Auftreten einer cerebralen Schädigung verneint worden. Da das Urteil vom 06.03.1986 den Beteiligten im Wortlaut vorliegt, wird zur Vermeidung von Wiederholungen wegen der Einzelheiten auf die damaligen Entscheidungsgründe verwiesen.

Das jetzige Verfahrensergebnis rechtfertigt keine andere Beurteilung. Maßgeblich hierfür ist, dass weiterhin eine innerhalb der Inkubationszeit aufgetretene cerebrale Erkrankung nicht nachgewiesen ist. Neue für die Entscheidung erhebliche Gesichtspunkte hinsichtlich der grundsätzlichen medizinischen Beurteilung sind nicht erkennbar. Vielmehr lässt sich entsprechend der früheren und auch der jetzigen den Senat überzeugenden medizinisch wissenschaftlichen Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. D ... ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Impfung und dem heutigen Krankheitsbild jedenfalls nur dann wahrscheinlich machen, wenn eine cerebrale Erkrankung innerhalb von 30 Tagen nach der Impfung begonnen hat. Andernfalls ist die Wahrscheinlichkeit eines Kausalzusammenhangs wegen des dann zu großen Zeitabstandes zwischen Impfung und Auftreten der Erkrankung - wie von Prof. Dr. D ... im einzelnen dargelegt - zu verneinen.

Medizinische Gesichtspunkte, die hier eine längere Inkubationszeit als von 30 Tagen - die den AHP 1983 entspricht - nahelegen könnten, sind auch nach dem Gutachten des Prof. Dr. K ... nicht erkennbar. Soweit nunmehr die AHP 1996 für nicht poliomyelitisähnliche Erkrankungen - wie hier - lediglich eine Inkubationszeit zwischen dem 3. und 14. Tag nach der Impfung vorsehen, kann es dahingestellt bleiben, ob diese kürzere Inkubationszeit oder weiterhin die längere Inkubationszeit von 30 Tagen - wie Prof. Dr. D ... meint - zutreffend ist. Denn zur Überzeugung des Senats ist nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens und unter Würdigung aller Umstände jedenfalls nicht nachgewiesen, dass es innerhalb der von Prof. Dr. D ... weiterhin für zutreffend erachteten Inkubationszeit von 30 Tagen nach der Impfung zu einer cerebralen Schädigung gekommen ist.

Vielmehr lässt sich, wie von Prof. Dr. D ... unter auch den Senat überzeugender Auswertung der vorhandenen medizinischen Unterlagen und der damals aufgrund der Angaben der Eltern bekannten gesundheitlichen Entwicklung der Klägerin nach der Impfung in seinem früheren Gutachten vom 06.03.1986 ausgeführt, der Beginn einer cerebralen Erkrankung frühestens kurz vor der Einweisung in die R ... am 06.06.1962 feststellen, also erst etwa 65 Tage nach der Impfung am 01.04.1962.

Allerdings haben sich für die Beurteilung des Beginns der cerebralen Erkrankung aufgrund der durchgeführten Vernehmungen der Eltern der Klägerin als Zeugen in tatsächlicher Hinsicht insoweit neue Gesichtspunkte ergeben, als hierin erstmals bekundet wird, die Klägerin sei bereits etwa ab der 2. bis 3. Woche nach der Impfung unter Auftreten von Zuckungen öfter hingefallen und habe sich auch in ihrem Wesen geändert. Diese gegenüber dem Sachverhalt, der dem vorangegangenem Verfahren zugrundegelegen hat, von den Zeugen bekundeten neuen Tatsachen sind jedoch nicht geeignet, den Beginn einer zerebralen Erkrankung innerhalb der maßgeblichen Inkubationszeit nachzuweisen.

Zwar ist unter Zugrundelegung dieser von den Zeugen zusätzlich geschilderten Verhaltensänderungen nach den übereinstimmenden medizinisch-wissenschaftlichen Beurteilungen der Sachverständigen Prof. Dr. K ... und Prof. Dr. D ... grundsätzlich die Annahme gerechtfertigt, dass die Klägerin bereits ein bis zwei Wochen nach der Impfung an einer Enzephalitis erkrankt ist. Denn das "Hinfallen unter Zuckungen" wie auch eine "Wesensänderung" lassen sich als Symptome einer schleichend verlaufenden kindlichen Enzephalitis interpretieren, wie von den Sachverständigen im einzelnen ausgeführt.

Trotz dieser medizinisch-wissenschaftlichen Beurteilungen der Sachverständigen ist damit aber der Beginn einer Enzephalitis innerhalb der Inkubationszeit nicht nachgewiesen. Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob eine besonders sorgfältige diagnostische Klärung - wie sie die AHP für eine Erkrankung am zentralen Nervensystem verlangen - vornehmlich aufgrund der Tatsachenschilderungen der Eltern überhaupt möglich ist. Es erübrigt sich auch, sich mit den vom Beklagten gegen die medizinisch begründeten Beurteilungen der Sachverständigen erhobenen Einwände auseinanderzusetzen. Denn auch, wenn man den Beurteilungen der Sachverständigen folgt, ist damit der Beginn einer Enzephalitis innerhalb der Inkubationszeit nicht nachgewiesen.

Der von Prof. Dr. K ... und nunmehr auch von Prof. Dr. D ... angenommene Eintritt einer Enzephalitis innerhalb der ersten zwei Wochen nach der Impfung steht nach den übereinstimmenden medizinischen Ausführungen der Sachverständigen jedenfalls unter der Prämisse, dass die von den Zeugen geschilderten Tatsachen, also das "Hinfallen unter Auftreten von Zuckungen" sowie eine "Verhaltensänderung im Sinne einer Wesensänderung" tatsächlich vorgelegen haben. Voraussetzung für den Nachweis einer Enzephalitis in dem maßgeblichen Zeitraum ist damit zunächst, dass diese von den Sachverständigen als Symptome einer Enzephalitis interpretierten Tatsachen nachgewiesen sind.

Zur Überzeugung des Senats ist ein solcher Nachweis nicht erbracht. Der Nachweis einer Tatsache setzt eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit voraus, die ernste und vernünftige Zweifel ausschließt (u.a. BSG SozR 3850 § 51 Nr. 9 m.w.N.). Unter Würdigung aller Umstände vermag sich der Senat nicht davon zu überzeugen, dass die Klägerin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tatsächlich nach der Impfung öfter unter Auftreten von Zuckungen hingefallen ist und sich in ihrem Wesen verändert hat. Vielmehr verbleiben bei kritischer Würdigung der Zeugenaussagen und unter Berücksichtigung aller Umstände ernste und vernünftige Zweifel.

Trotz der vom Sozialgericht für die Glaubwürdigkeit der Zeugin L ... W ... und für die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage angeführten Gesichtspunkte reichen die Bekundungen der Zeugin auch unter Berücksichtigung der Aussage des Vaters J ... W ... dem Senat nicht aus, sich hieraus die Überzeugung zu bilden, dass die als Symptome für eine schleichend verlaufende Enzephalitis zu wertenden Verhaltensänderungen tatsächlich bereits in dem angegebenen nahe Zeitraum nach der Impfung aufgetreten sind. Dabei unterstellt der Senat nicht, dass die Zeugen etwa, um die Versorgung ihrer Tochter zu sichern oder zu verbessern, bewusst falsche Angaben machen. Vielmehr vermittelten die Zeugen bei ihrer Vernehmung durch den Senat den Eindruck, dass sie selbst von der Richtigkeit ihrer Angaben überzeugt sind, wie auch im übrigen von ihrer Auffassung, dass die Erkrankung der Klägerin nur auf die Impfung zurückgeführt werden kann. Angesichts des Zeitablaufs seit der ersten Antragstellung und der im Rahmen des Vorprozesses sowie auch unabhängig hiervon verständlichen ständigen Beschäftigung mit Fragen und Überlegungen nach der Ursache der Erkrankung der Klägerin lässt es sich nicht ausschließen, dass die Darstellungen der Zeugen zwar ihren heutigen Vorstellungen, nicht aber dem tatsächlichen Geschehensablauf in dem hier maßgeblichen Zeitraum entsprechen.

Zunächst sind die früheren im Vorprozess und auch im Rahmen der Petition eingereichten schriftlichen Erklärungen, die nicht nur von dem Zeugen J ... W ..., sondern auch von der Zeugin L ... W ... unterschrieben sind, geeignet, Zweifel daran zu begründen, dass die heutige Darstellung den wirklichen Geschehensabläufen entspricht. Neben rechtlichen Erwägungen enthalten diese Erklärungen auch umfangreiche Schilderungen des Gesundheitszustandes der Klägerin gerade für die Zeit nach der Impfung bis zur Einlieferung in die R ... So heißt es in der von beiden Zeugen unterschriebenen Petition vom 30.12.1986, dass die Klägerin nach der Schluckimpfung schon am 02.04.1962 und dann bis zur Einweisung in die R ... M ... am 06.06.1962 immer wieder unter Bauch- und Kopfschmerzen, unter öfter auftretendem Brechdurchfall, unter zunehmender Appetitlosigkeit gelitten habe. Der Allgemeinzustand habe sich bei dem Kind vom 02.04.1962 bis zum 06.06.1962 laufend verschlechtert, wobei manchmal eine Teilnahmslosigkeit und eine Schwäche aufgefallen sei.

Angesichts dieser erkennbar mit Sorgfalt erstellten Darstellungen des Gesundheitszustandes der Klägerin in dem hier maßgeblichen Zeitraum nach der Impfung in den früheren Erklärungen ist es nur schwer nachvollziehbar, dass eine besonders hervorstehende Veränderung wie das ständige Hinfallen unter Auftreten von Zuckungen unerwähnt geblieben ist. Wenn die Klägerin tatsächlich, wie von der Zeugin geschildert, etwa ab zwei bis drei Wochen nach der Impfung durchgehend bis zur Einlieferung in die R ... manchmal jeden Tag und manchmal jeden zweiten Tag hingefallen ist und dann - wie von der Zeugin auch dem Senat beschrieben - der Kopf, die Hände und auch die Beine gezuckt haben, hätte es nahegelegen, dies schon bei den früheren umfangreichen Erklärungen anzugeben. Nach den heutigen Bekundungen des Zeugen J ... W ... kann auch nicht angenommen werden, dass die Zeugen, die nach ihren Aussagen die Entwicklung des Kindes stets mit besonderer Sorgfalt beobachtet haben, dem Hinfallen unter Zuckungen keine Bedeutung beigemessen haben. Vielmehr hat der Zeuge angegeben, er habe immer gesagt, wegen des Hinfallens und der Zuckungen solle zum Arzt gegangen werden.

Auch die nunmehr bekundete Veränderung im Wesen der Klägerin, die Prof. Dr. D ... als Wesensänderung mit Apathie angesehen und neben dem Hinfallen unter Zuckungen als weiteres Symptom einer Enzephalitis interpretiert hat, ist nach den früheren Erklärungen jedenfalls nicht in dem nunmehr dargestellten Umfang im zeitnahen Abstand zur Impfung erkennbar. Die früher angegebene manchmal auf gefallene Teilnahmslosigkeit und Schwäche lässt keine Wesensänderung, wie sie heute angegeben wird, erkennen. Vielmehr heißt es in dem Antragsschreiben des Zeugen J ... W ... vom 12.11.1974 noch, dass eine Verhaltensänderung der Klägerin allen nach der Entlassung aus der R ... am 10.08.1962 aufgefallen sei. Da diese Verhaltensänderung nach dem Klinikaufenthalt damals im einzelnen beschrieben worden ist, hätte es nahegelegen, eine bereits in zeitnahem Abstand zur Impfung eingetretene Verhaltensänderung ebenfalls darzulegen.

Auch wenn man zugunsten der Klägerin unterstellen wollte, dass das "Hinfallen unter Zuckungen" und die "Wesensänderung" im Verwaltungsverfahren und im Vorprozess deshalb nicht erwähnt worden sind, weil die Zeugen diesen Tatsachen keine Bedeutung für den Versorgungsanspruch beigemessen haben und sie - weil nicht als Zeugen gehört - hiernach auch nicht gefragt worden sind, rechtfertigt dies im Ergebnis keine andere Beurteilung.

Auch dann verbleiben gewichtige Zweifel, dass die nunmehr erstmals vorgetragenen und für die medizinische Beurteilung entscheidenden Verhaltensänderungen tatsächlich in zeitnahem Abstand zur Impfung eingetreten sind. Maßgeblich hierfür sind objektive Umstände. Wesentlich für die Überzeugungsbildung des Senats ist, dass die vorhandenen medizinischen Unterlagen keinerlei Hinweise auf ein Hinfallen unter Zuckungen und eine Wesensänderung in zeitnahem Abstand zur Impfung enthalten. Insbesondere sind die Karteikarten der Kinderärztin Dr. V ... wie auch das Ergebnis ihrer Vernehmung insoweit gänzlich unergiebig. Wenn die Klägerin bereits ab der 2. bis 3. Woche nach der Impfung und in der Folgezeit manchmal jeden Tag, manchmal alle zwei Tage durchgehend bis zur Einlieferung in die R ... unter Auftreten von Zuckungen hingefallen ist, ist es nicht nachvollziehbar, dass dieses schwerwiegende und auffällige Krankheitsbild in den medizinischen Unterlagen keinerlei Erwähnung findet. Auch wenn das "Hinfallen unter Zuckungen" bei den von den Zeugen angegebenen mehrfachen Untersuchungen der Klägerin im fraglichen Zeitraum nicht aufgetreten ist, hätte es zumindest als Beschwerdeschilderung Berücksichtigung finden müssen. Dies gilt umso mehr, als die Zeugin L ... W ... die gesundheitliche Entwicklung der Klägerin stets sorgfältig beobachtet hat. Wenn dann eine solche hervorstechende Änderung wie das Hinfallen unter Zuckungen eintritt, ist es unerklärlich, dass die medizinischen Unterlagen hierauf keine Hinweise enthalten. Bereits dieser Umstand, den der Senat mit den Angaben der Zeugen nicht in Einklang zu bringen vermag, erweckt ernste und vernünftige Zweifel daran, dass die von Prof. Dr. K ... und Prof. Dr. D ... als wesentlich für die Annahme einer Enzephalitis angesehenen Verhaltensänderungen tatsächlich in dem von den Zeugen genannten Zeitraum aufgetreten sind.

Diese Zweifel werden durch das Aufnahmeprotokoll der R ... noch verstärkt. Hinweise auf das bereits über Wochen andauernde Hinfallen unter Zuckungen sind auch hierin nicht enthalten. Soweit im Aufnahmebericht der Zeuge J ... W ... als Berichterstatter genannt ist, hat der Senat keine Zweifel, dass der Zeuge bei der Aufnahme der Klägerin in die Klinik auch tatsächlich befragt worden ist. Eine solche Befragung hat auch der Zeuge bei seiner Vernehmung durch den Senat nicht ausgeschlossen, wie seine Angabe, "er könne sich hieran jedenfalls nicht mehr erinnern", verdeutlicht. Eine vernünftige Erklärung dafür, dass das Aufnahmeprotokoll keinerlei Hinweis auf das nach den heutigen Angaben seit mehreren Wochen durchgehend fast täglich auftretende Hinfallen unter Zuckungen enthält, vermag der Senat nicht zu finden. Wenn auch der anlässlich der Aufnahme in der Klinik befragte Zeuge J ... W ... das Hinfallen und die Zuckungen selbst nicht beobachtet hat, so ist ihm nach seinen Angaben hierüber aber von der Zeugin berichtet worden. Es kann auch nicht angenommen werden, dass er dieser auffälligen Verhaltensänderung keinerlei Bedeutung beigemessen hat. Vielmehr hat er bekundet, dass er der Zeugin immer gesagt habe, wegen des Hinfallens und der Zuckungen solle der Arzt aufgesucht werden. Es wäre daher naheliegend gewesen, jedenfalls anlässlich der Klinikaufnahme auf die seit Wochen fast täglich auftretenden Zuckungen hinzuweisen.

Dies gilt umso mehr, als der als Berichterstatter gehörte Zeuge gezielt nach dem Auftreten von Krämpfen befragt worden ist, wie die Eintragung "keine Krämpfe" im Aufnahmebericht verdeutlicht.

Insgesamt begründen die in den damaligen zeitnahen medizinischen Unterlagen gänzlich fehlenden Hinweise auf die heute von den Zeugen zusätzlich geschilderten nach der Impfung eingetretenen Verhaltensänderungen ernste und vernünftige Zweifel daran, dass diese Verhaltensänderungen tatsächlich in dem bekundeten Umfang und in dem angegebenen Zeitraum aufgetreten sind. Diese Zweifel hindern den Senat, selbst wenn man die bereits aus den früheren schriftlichen Erklärungen der Zeugen folgenden Bedenken hintanstellen wollte, die nach der Beurteilung der Sachverständigen für den Beginn einer Enzephalitis bereits innerhalb der Inkubationszeit maßgeblichen Tatsachen auf der Grundlage der Zeugenaussagen als nachgewiesen anzusehen. Unter Würdigung aller Umstände reichen die Zeugenerklärungen für eine entsprechende Überzeugungsbildung nicht aus.

Der nicht zu erbringende Nachweis des Beginns einer Enzephalitis innerhalb der Inkubationszeit hat entsprechend der in Einklang mit den AHP stehenden medizinischen Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. D ... zur Folge, dass wegen des zu großen Zeitabstandes zwischen Impfung und Auftreten der cerebralen Erkrankung die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Impfung und dem heutigen Krankheitsbild verneint werden muss.

Die Nichterweislichkeit einer innerhalb der Inkubationszeit aufgetretenen Enzephalitis geht nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten der Klägerin. Eine Beweislastumkehr ist auch im Impfschadensrecht nicht vorgesehen (vgl. BSG SozR 3850 § 52 Nr. 1; SozR 1500 § 160 Nr. 51; vgl. auch BSGE 73, 37, 40 = SozR 3-3100 § 1 Nr. 11).

Zu weiteren Ermittlungen besteht kein Anlass. Insbesondere bedarf es nicht der von der Klägerin angeregten Einholung eines sogenannten Glaubwürdigkeitsgutachtens. Abgesehen davon, dass für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit einer Aussage das Gericht selbst bei Aufhellung seelischer Vorgänge und in anderen schwierigen Fällen im allgemeinen nicht auf sachverständige Hilfe angewiesen ist (vgl. Meyer-Ladewig, SGG Kommentar, 6. Auflage, § 128 Rdnr. 6a; Peters/Sautter/Wolf, SGG Kommentar, 4. Auflage, 31. Nachtrag § 128 SGG, S. II/140 jeweils m.w.N.), sind hier objektive Umstände für die Zweifel des Senats maßgeblich. Im Hinblick auf diese objektiven Umstände, also die fehlenden Hinweise auf die von den Zeugen bekundeten Verhaltensänderungen in den vorhandenen zeitnahen medizinischen Unterlagen, vermag auch ein Glaubwürdigkeitsgutachten keine neuen Gesichtspunkte aufzuzeigen.

Soweit der Beklagte mit den angefochtenen Bescheiden eine Versorgung auch unter dem Gesichtspunkt einer sogenannten Kann-Versorgung abgelehnt hat, ist dies ebenfalls nicht zu beanstanden. Denn auch nach § 52 Abs. 2 Satz 2 BSeuchG ist ein Versorgungsanspruch nicht gegeben. Nach dieser Bestimmung kann ein Gesundheitsschaden als Folge einer Impfung anerkannt werden, wenn die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit herrscht. Voraussetzung ist also, dass die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung deswegen scheitert, weil über die Leidensursache allgemeine Unkenntnis herrscht. Wegen dieser allgemeinen Unsicherheit lässt das Gesetz einen geringeren Überzeugungsgrad als die Wahrscheinlichkeit genügen. Demgegenüber scheitert hier der Anspruch bereits daran, dass der erforderliche Impfschaden nicht nachgewiesen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Anlass die Revision zuzulassen besteht nicht, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, § 160 Abs. 2 Ziff. 1 SGG. Maßgeblich sind für die Entscheidung vielmehr die konkreten Umstände des Einzelfalles.
Rechtskraft
Aus
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