L 6 V 29/98

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 6 (12) V 49/94
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 V 29/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 03.04.1998 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im zweiten Rechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Umstritten ist, ob die Klägerin Anspruch auf Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) hat.

Die Klägerin ist am 14.03.1939 in T .../O ... geboren. Nach dem Schwerbehindertengesetz sind ein GdB von 100 sowie die Nachteilsausgleiche "G", "aG" und "B" festgestellt (letzter Bescheid vom 21.06.1995). Dabei ist als Behinderung berücksichtigt u.a. eine Bewegungseinschränkung beider Kniegelenke bei ausgeprägter X-Bein-Stellung. In einem früheren von der Klägerin im Januar 1978 unterschriebenen Antragsvordruck nach dem Schwerbehindertengesetz heißt es zu den Kniegelenksveränderungen, die Luxation beider Kniegelenke sei bereits im Alter von zwei Jahren bemerkt worden. Die genauen Ursachen seien nicht bekannt. An den Kniegelenken sei sie 1941 im K ... B .../O ... und 1950 in H .../S ... operiert worden.

Erstmals im Juni 1992 beantragte die Klägerin, ihr Versorgung nach dem BVG zu gewähren. Zur Begründung machte sie geltend, die Kniegelenksveränderungen - wie auch daraus resultierende Wirbelsäulenbeschwerden - seien auf einen Unfall (Sturz aus dem Zug) zurückzuführen, den sie im Alter von sechs Jahren Ende Oktober/Anfang November 1945 bei der Vertreibung aus O ... erlitten habe.

Hierzu trug sie vor, sie sei in dem Glauben aufgewachsen, dass ihre Behinderung in frühem Kindesalter aufgetreten sei. Nunmehr habe sie erfahren, dass das gar nicht stimme. Am 06.07.1990 habe ihr ihre Mutter K ... S ... kurz vor ihrem Tod am 20.07.1990 den bislang verschwiegenen wahren Grund für ihre Behinderung genannt. Nach den Angaben der Mutter habe sich folgendes ereignet:

Als reinrassige Deutsche seien sie aus Schlesien vertrieben worden. Am 30.10.1945 hätten ihre Mutter, deren Schwester M ... sowie ihre damals vierjährige Schwester R ... zusammen mit ihr ihre Heimat in einem total überfüllten Zug verlassen müssen. Sie seien insgesamt vier Tage und vier Nächte unterwegs gewesen mit dem vorläufigen Ziel B ... Während der Zugfahrt habe sie sich unbemerkt von Mutter und Tante entfernt. Als der Zug gehalten habe, sei draußen ein Geschrei entstanden und ihre Mutter habe sich durch die vielen Menschen im Zug nach draußen gequetscht. Sie - die Klägerin - habe auf dem Bahnsteig gelegen. Sie sei wohl auf die Knie gefallen. Jemand habe gesagt, sie sei von innen nach draußen gestoßen worden. Ihr rechtes Bein habe merkwürdig verrenkt dagelegen. Sie habe nicht mehr stehen und laufen können und habe vor Schmerzen nur noch geweint. Ihre Mutter habe sie dann in den Zug reingehoben. Nach der Ankunft in B ... habe man einen alten Arzt ausfindig gemacht. Dieser habe festgestellt, dass ihre beiden Knie schwere Verletzungen davongetragen hätten, u.a. Bänderüberdehnung, Luxation und dass das rechte Bein - ab Unterschenkel - im Knie verdreht gewesen sei. Er habe ihr aber nicht helfen können. Nach vier Tagen seien sie weiter nach H .../S ... gefahren. Dort habe ihre Mutter einen alten Orthopäden gefunden, der mit einer beidseitigen Knieoperation alles noch verschlimmert habe.

Vom 08. bis zum 11. Lebensjahr habe sie an beiden Beinen Schienen aus Leder und Metall getragen. Mit 11 Jahren sei sie nochmals und mit Erfolg operiert worden. Die Verrenkung aber habe nicht korrigiert werden können. Hierdurch seien ihre Kniegelenke und die Wirbelsäule und Brustkorb total deformiert.

Zur weiteren Begründung ihres Antrags legte die Klägerin neben medizinischen Unterlagen schriftliche Erklärungen der R ... L ..., der M ... M ..., C ... F ..., der R ... O ... sowie der M ... F ... aus dem Jahre 1990 vor.

Die 1941 geborene Schwester der Klägerin, R ... L ..., gibt an, dass ihre Mutter kurz vor ihrem Tod auch ihr in einem Gespräch Anfang Juli 1990 den wahren Grund für die Behinderung der Klägerin geschildert habe. Die Mutter habe ihr gesagt, sie habe so lange geschwiegen, weil sie sich zeitlebens schwere Vorwürfe gemacht habe, da sie gedacht habe, ungenügend auf die Klägerin aufgepasst zu haben. Sie - die Zeugin - selbst habe keine Erinnerung mehr an die Vorgänge im Jahre 1945, weil sie damals erst vier Jahre und acht Monate alt gewesen sei.

Nach den Erklärungen der M ... M ..., der C ... F ... und der R ... O ... - heute in Polen lebende Verwandte der Klägerin - war die Klägerin in ihrer Kindheit bis zum Verlassen in Schlesien in keiner Weise behindert.

Auch M ... F ..., eine Schwägerin der Mutter der Klägerin, beschreibt die Klägerin als ein früher gesundes Kind. In den ersten Novembertagen des Jahres 1945 sei die Familie direkt aus Schlesien zu ihr nach B ... gekommen. Bei der Ankunft habe die Klägerin ununterbrochen geweint. Sie habe nicht laufen können. Ihre Hände hätten Schürfwunden aufgewiesen. Die Knie seien ab geschürft, voller Blutergüsse und stark angeschwollen gewesen. Der rechte Unterschenkel sei merkwürdig verrenkt gewesen. Bei der Abreise nach Halle nach ca. einer Woche sei sie immer noch in sehr schlechter Verfassung gewesen und habe getragen werden müssen.

Mit Bescheid vom 05.04.1993 lehnte es der Beklagte ab, der Klägerin Versorgung nach dem BVG zu gewähren. Zur Begründung führte er aus, dass die unmittelbar nach dem Kriege einsetzende Aussiedlung der deutschstämmigen Bevölkerung aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße keinen Schädigungstatbestand im Sinne des § 1 BVG darstelle.

Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. O ... vom 03.11.1993 mit Widerspruchsbescheid vom 05.04.1994 zurück. Zur Begründung führte er nunmehr aus, dass - auch wenn ein Schädigungstatbestand bejaht werde - die Voraussetzungen für die Gewährung von Versorgung nicht erfüllt seien. Denn es sei nicht nachgewiesen und lasse sich auch nicht nachvollziehen, welche Verletzungen die Klägerin bei dem Sturz aus dem Zug tatsächlich erlitten habe und welche gesundheitlichen Folgen auf Dauer davon zurückgeblieben seien. Angesichts der im Verfahren nach dem Schwerbehindertengesetz gemachten Angaben, wie u.a. Operation der Kniegelenke bereits 1941 in B .../O ..., sei es nicht wahrscheinlich, dass die heute feststellbaren Behinderungen auf den Sturz aus dem Zug zurückzuführen sind.

Im anschließenden Klageverfahren hat die Klägerin weiterhin begehrt, ihr Versorgung nach dem BVG zu gewähren. Unter Wiederholung und Vertiefung ihres Vortrages im Verwaltungsverfahren hat sie weiterhin die Auffassung vertreten, die Veränderungen im Bereich der Kniegelenke und der Wirbelsäule seien Folge des 1945 erlitte nen Sturzes aus dem Zug. Zur weiteren Stützung ihres Vorbringens hat sie verschiedene Fotos vorgelegt, die sie während ihrer Kindheit in Schlesien zeigen, sowie eine Bescheinigung des Arztes für Orthopädie Dr. L ... vom 16.04.1996. Hierin hat Dr. L ... u.a. ausgeführt, die Fotografien aus der Kindheit in Schlesien ließen keine wesentlichen Fehlbildungen, insbesondere der Kniegelenke, erkennen. Weiterhin hat die Klägerin bezüglich ihrer früheren im Schwerbehindertenverfahren gemachten Angaben vorgetragen, die angegebene Operation im Jahre 1941 in Beuthen beruhe auf entsprechenden früheren Aussagen ihrer Mutter ihr gegenüber. Im übrigen hat sie im Termin am 16.11.1995 erklärt, dass sie sich selbst zwischenzeitlich wieder an den Hergang des Unfalles im Jahre 1945 erinnert habe. Sie sei auf dem Weg zu einer Toilette in dem Zugtransport von einer ihr unbekannten kräftigen Frau aus der offenen Abteiltür gestoßen worden. Auslöser dieser wiedererlangten Erinnerung sei das Gespräch mit ihrer Mutter kurz vor deren Tod gewesen.

Die Klägerin hat beantragt,

den Bescheid vom 05.04.1993 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.04.1994 aufzuheben und ihr Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hat seine ablehnende Entscheidung weiterhin für zutreffend erachtet. Unter Vorlage versorgungsärztlicher Stellung nahmen hat er die Auffassung vertreten, konkrete bei dem Unfall im Jahre 1945 erlittene Verletzungen seien nicht nachgewiesen. Im übrigen spreche alles dafür, dass die heute feststellbaren Veränderungen Folge einer angeborenen Fehlentwicklung beider Kniegelenke seien. Abgesehen hiervon hat er gemeint, der von der Klägerin geschilderte Sachverhalt, der im übrigen im Dunklen liege, biete keinen Anhalt für eine konkretisierte "besondere" Gefahr im Zusammenhang mit einem versorgungsrechtlich geschützten Tatbestand. Vielmehr handele es sich lediglich um ein allgemeines Risiko bei der Benutzung vollbesetzter Verkehrsmittel, da in der Nachkriegszeit alle Benutzer von Eisenbahnzügen diesen (gedrängten) Verhältnissen, wie sie die Klägerin schildert, ausgesetzt gewesen seien.

Das Sozialgericht hat die Rentenakten der Klägerin beigezogen und hieraus u.a. ein für die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte erstelltes orthopädisches Gutachten des Dr. L ... vom 23.03.1994 zu den Akten genommen. Unterlagen über Operationen der Klägerin in H .../S ... Ende der 40er bzw. Anfang der 50er-Jahre konnten nicht beigezogen werden. Ebenfalls keinen Erfolg hatten Ermittlungen in Polen über Krankenunterlagen aus der Zeit vor 1945.

Weiterhin ist Beweis erhoben worden durch Einholung eines chirurgisch-orthopädischen Gutachtens des Prof. Dr. Z ... vom 11.09.1996 mit ergänzender Stellungnahme vom 08.07.1997. Hierin hat der Sachverständige anlagebedingte Kniegelenksveränderungen beschrieben, die nicht auf ein erlittenes Trauma zurückgeführt werden könnten. Schließlich ist nach § 109 SGG noch ein weiteres orthopädisches Gutachten des Dr. L ... vom 17.10.1997 eingeholt worden. Nach Auffassung des Dr. L ... sind die feststellbaren Kniegelenksveränderungen mit großer Wahrscheinlichkeit Folgen des 1945 erlittenen Unfalles. Dabei ist der Sachverständige davon ausgegangen, dass es bei dem Sturz aus dem Eisenbahnwagen offensicht lich zu einer erheblichen Traumatisierung beider Kniegelenke gekommen sei. Die MdE für die Kniegelenksveränderungen hat er mit

30 v.H. bewertet und die gesamte schädigungsbedingte MdE unter Berücksichtigung einer mit 10 v.H. bewerteten Verschlimmerung und Verstärkung der Auswirkungen einer erheblichen Torsionsskoliose der Lendenwirbelsäule mit 40 v.H. eingeschätzt. In einer auf Veranlassung der Klägerin eingereichten ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme vom 18.03.1998 hat er an seiner Beurteilung festgehalten.

Mit Urteil vom 03.04.1998 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Dabei ist es entsprechend der Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. Z ... davon ausgegangen, dass es sich bei den feststellbaren Kniegelenksveränderungen um eine anlagebedingte Erkrankung handele, deren Entwicklung durch ein etwaiges bei dem behaupteten Sturz aus dem Eisenbahnwagen Ende 1945 erlittenes Trauma, dessen Ausmaß im übrigen nicht feststellbar sei, nicht wesentlich beeinflusst worden sei.

Gegen dieses ihr am 20.04.1998 zugestellte Urteil richtet sich die am 15.05.1998 eingegangene Berufung der Klägerin. Die Klägerin meint weiterhin, die Kniegelenksveränderungen - wie auch die darauf beruhenden Veränderungen im Wirbelsäulenbereich - seien Folge des Ende 1945 erlittenen Unfalls. Dabei stützt sie sich insbesondere auf die Beurteilung des Sachverständigen Dr. L ...

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 03.04.1998 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 05.04.1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.04.1994 zu verurteilen, ihr wegen der Verletzung vom 30.10.1945 Versorgungsleistungen nach dem BVG zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Im Berufungsverfahren sind von den Sachverständigen Prof. Dr. Z ... und Dr. L ... ergänzende Stellungnahmen vom 06.12.1999 bzw. 22.05.2000 eingeholt worden. Hierin haben die Sachverständigen im wesentlichen an ihren jeweiligen früheren Beurteilungen festgehalten.

Auf die Inhalte der Gerichtsakte und der Verwaltungsakten des Beklagten (B-Akte und SchwbG-Akte) wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Versorgung nach dem BVG, weil keine Schädigungsfolgen feststellbar sind.

Der Versorgungsanspruch setzt voraus, dass durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung (§ 1 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a i.V.m. § 5 BVG) eine gesundheitliche (Primär-)schädigung eingetreten ist und Gesundheitsstörungen feststellbar sind, die als (Spät-)folgen dieser Schädigung zu beurteilen sind (sog. Schädigungsfolgen). Der schädigende Vorgang, die (Primär-)schädigung und die Schädigungsfolgen müssen nachgewiesen sein. Erforderlich ist eine an Sicherheit grenzende ernste, vernünftige Zweifel ausschließende Wahrscheinlichkeit. Demgegenüber genügt für den ursächlichen Zusammenhang zwischen Schädigung und Schädigungsfolgen die einfache Wahrscheinlichkeit (§ 1 Abs. 3 BVG).

Die hiernach für den Versorgungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen sind nicht erfüllt.

Zunächst ist es bereits fraglich, ob der behauptete schädigende Vorgang, also der Sturz aus dem Zug Ende Oktober/Anfang November 1945, eine unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. a i.V.m. § 5 BVG darstellt.

Jedenfalls aber vermag sich der Senat nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens nicht davon zu überzeugen, dass die als Schädigungsfolgen geltend gemachten Gesundheitsstörungen, also vornehmlich die Kniegelenksveränderungen, mit Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 BVG auf damals erlittene Verletzungen, deren tatsächliches Ausmaß nicht nachgewiesen ist, zurückzuführen sind. Viel mehr spricht unter Würdigung sämtlicher medizinischer Unterlagen und insbesondere der Beurteilungen der Sachverständigen Prof. Dr. Z ... und Dr. L ... in ihrer Gesamtheit mehr dafür, dass die heute feststellbaren Veränderungen im Bereich der Kniegelenke ursächlich nicht auf ein erlittenes Trauma, sondern vielmehr auf anlagebedingten Kniegelenksdysplasien zurückzuführen sind.

Da die Klägerin behauptet, während der Aussiedlung aus Schlesien aus dem Zug gefallen zu sein, kommt eine unmittelbare Kriegseinwirkung nur unter dem Gesichtspunkt des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG in Betracht. Hiernach gelten als unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG, wenn sie im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege stehen, schädigende Vorgänge, die infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen oder ehemals deutsch besetzten Gebietes oder mit der zwangsweisen Umsiedlung oder Verschleppung zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind.

Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ist es zweifelhaft, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind.

Obwohl es für das eigentliche Unfallgeschehen keine Zeugen gibt, geht der Senat aufgrund der von ihm für glaubhaft erachteten Zeugenerklärungen der M ... F ... und der R ... L ... davon aus, dass die Klägerin während ihrer Umsiedlung aus Schlesien Ende Oktober/Anfang November 1945 aus dem haltenden Zug auf den Bahnsteig gefallen ist. Dabei bleiben allerdings die näheren Umstände, die zu dem Unfall geführt haben, ungeklärt. Insbesondere hat der Senat Bedenken, die Angaben der Klägerin seiner Entscheidung nach § 15 Verwaltungsverfahrensgesetz-Kriegsopferversorgung zugrundezulegen. Denn es spricht nicht unbedingt für die Glaubwürdigkeit der Klägerin, dass sie in erster Instanz vorgetragen hat, dass die 1978 im Schwerbehindertenverfahren angegebene Operation an den Kniegelenken im Jahre 1941 im K ... B ... auf entsprechen den früheren Angaben der Mutter beruhten und sie demgegenüber vor dem Senat angegeben hat, sie könne sich an diese früheren Angaben im Schwerbehindertenverfahren, die nicht stimmen könnten, nicht erinnern.

Wenn man davon ausgeht, dass die Klägerin aus dem Zug auf den Bahnsteig gefallen ist und weiterhin eine zwangsweise Umsiedlung unterstellt, ist damit der Tatbestand des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG noch nicht erfüllt. Denn hierfür reicht es nicht aus, dass im Zusammenhang mit einer zwangsweisen Umsiedlung eine Schädigung ein getreten ist. Nicht jeder bei einer zwangsweisen Umsiedlung erlittene Unfall ist versorgungsrechtlich geschützt. Vielmehr ist eine unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG nur dann gegeben, wenn der schädigende Vorgang durch eine mit der zwangsweisen Umsiedlung zusammenhängenden "besonderen" Gefahr eingetreten ist. Es muss sich also um eine besondere der zwangsweisen Umsiedlung eigentümliche Gefahr gehandelt haben (vgl. u.a. BSG vom 25.06.1963 - 10 RV 1015/60 - in Breithaupt 1963, 601f).

Eine besondere der Umsiedlung eigentümliche Gefahrenquelle, der die Klägerin ausgesetzt gewesen ist, kommt hier unter dem Gesichtspunkt in Betracht, dass die Angehörigen zusammen mit der Klägerin im Rahmen der Umsiedlung einen überfüllten Zug benutzen mussten.

Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass allein die Benutzung eines überfüllten Zuges grundsätzlich noch nicht eine besondere Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG darstellt. Vielmehr handelt es sich insoweit um eine allgemeine Gefahr, der gerade in der Nachkriegszeit alle Bahnreisenden unabhängig von einer zwangsweisen Umsiedlung ausgesetzt gewesen ist, worauf der Beklagte zu Recht hingewiesen hat.

Eine der zwangsweisen Umsiedlung eigentümliche Gefahr kommt aber dann in Betracht, wenn man unterstellt, dass die Mutter der Klägerin im Rahmen der Umsiedlung zwangsweise angewiesen worden ist, mit dem überfüllten Zug zu fahren (vgl. BSG vom 04.10.1966 - 10 RV 762/64 -, bezüglich einer zwangsweisen Zuteilung eines zur Personenbeförderung ungeeigneten Fahrzeugs).

Allerdings bleibt es auch dann zweifelhaft, ob diese Gefahren quelle die wesentliche Bedingung dafür gewesen ist, dass die Klägerin aus dem haltenden Zug auf den Bahnsteig gestürzt ist. Denn unter Berücksichtigung aller Umstände lässt es sich nicht aus schließen, dass dieser Bedingung - also zwangsweise Zuteilung in einen überfüllten Zug - nur eine untergeordnete Bedeutung gegen über der Tatsache zukommt, dass die Klägerin sich als sechsjähriges Kind unbemerkt von ihren Angehörigen entfernen konnte und unbeaufsichtigt im Zug war. Wesentlich für den Unfall der Klägerin könnte daher ihre mangelnde Beaufsichtigung gewesen sein (vgl. BSG vom 04.10.1966 - 10 RV 189/64 - in SozEntsch BSG 9/3 § 5 Nr. 61). Auch die Mutter der Klägerin hat unter Zugrundelegung ihrer im Verfahren wiedergegebenen Angaben, augenscheinlich eine Verletzung ihrer Aufsichtspflicht angenommen.

Andererseits spricht unter Berücksichtigung der bei einer zwangsweisen Umsiedlung in der Regel herrschenden Verhältnisse grundsätzlich auch einiges dafür, dass die mangelnde Beaufsichtigung der Klägerin durch die besonderen Umstände der zwangsweisen Umsiedlung bedingt sein kann.

Im Ergebnis kann es indes dahingestellt bleiben, ob die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchst. a i.V.m. § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG erfüllt sind. Denn auch dann, wenn man eine unmittelbare Kriegseinwirkung bejaht, also den Sturz aus dem Zug als einen versorgungsrechtlich geschützten Tatbestand ansieht, hat die Klägerin keinen Anspruch auf Versorgung nach dem BVG.

Maßgeblich hierfür ist, dass die heute feststellbaren und als Schädigungsfolgen geltend gemachten Veränderungen im Bereich der Kniegelenke jedenfalls nicht mit Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 BVG ursächlich auf bei dem damaligen Sturz erlittene Schädigungen zurückgeführt werden können.

Zwar kann aufgrund der von der Zeugin M ... F ... in ihrer Erklärung vom 28.12.1990 gemachten Angaben, die der Senat als glaubhaft ansieht, davon ausgegangen werden, dass die Klägerin bei ihrer Ankunft in Berlin nicht laufen konnte und sie sich bei dem Sturz aus dem Zug die von der Zeugin beschriebenen äußerlich erkennbaren Verletzungen zugezogen hat. Dies rechtfertigt unter Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens jedoch nicht den Schluss, dass die damaligen Verletzungen mit Wahrscheinlichkeit ursächlich für die heute feststellbaren Kniegelenksveränderungen sind.

Zunächst ist das konkrete Ausmaß der damals erlittenen Verletzungen, also der (Primär-)schädigung nicht nachgewiesen. Zeitnahe medizinische Unterlagen, die Aufschluss über Art und Ausmaß der Verletzungen geben könnten, sind nicht vorhanden.

Zwar geht der Sachverständige Dr. L ... davon aus, dass die Klägerin damals ein massives Kniegelenkstrauma beiderseits mit Schädigungen des Kapselapparates mit knöchernen Verletzungen insbesondere der Kniescheiben erlitten hat. Trotz der von Dr. L. unter anderem unter Hinweis auf äußerlich sichtbare Veränderungen an den Kniegelenken und auf die röntgenologischen Befunde insbesondere am rechten Kniegelenk für seine Auffassung angeführten medizinischen Gründe vermag der Senat nicht zu seiner vollen Überzeugung ("Vollbeweis", d.h. zur Überzeugung des Gerichts von einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit oder eines so hohen Grades an Wahrscheinlichkeit, dass kein vernünftiger Mensch noch zweifelt - vgl. u.a. Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz mit Erläuterungen, 6. Auflage, Rdnr. 6a zu § 103 und Rdnr. 5 zu § 118 -) festzustellen, dass die Klägerin bei dem Sturz aus dem Zug tatsächlich ein solch massives Trauma, wie es Dr. L. beschrieben hat, als (Primär-)schädigung erlitten hat.

Denn unter Berücksichtigung der medizinischen Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Z ... bestehen nicht nur ganz erhebliche Zweifel an einem 1945 erlittenen massiven Trauma. Vielmehr spricht angesichts der bei der Klägerin vorhandenen anlagebedingten Kniegelenksdysplasien im Ergebnis sogar mehr gegen als für eine 1945 durchgemachte erhebliche Traumatisierung, wie sie Dr. L. zur Begründung seiner Auffassung annimmt. Da sich die heute feststellbaren Kniegelenksveränderungen rechts und links nur in der Schwere nicht aber in der Art der Veränderung unterscheiden, würde dies im Hinblick auf eine traumatische Verursachung bedeuten, dass dieses Trauma im Bereich des rechten stärker als im Bereich des linken Kniegelenkes erhebliche Verletzungen sowohl beider Unterschenkel, beider Oberschenkel als auch beider Knie scheiben mit Beteiligung knöcherner Strukturen herbeigeführt hätte. Die heute feststellbaren Befunde lassen aber - wie von Prof. Dr. Z ... im einzelnen überzeugend dargelegt - keinen Rückschluss auf derartige durchgemachte Verletzungen zu. Unter Würdigung der jeweiligen medizinischen Beurteilungen der Sachverständigen ist zur Überzeugung des Senats jedenfalls davon auszugehen, dass nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Rückschluss darauf, welche Verletzungen die Klägerin damals im einzelnen erlitten hat, nach den heutigen medizinischen Befunden möglich ist.

Soweit Dr. L ... darauf hinweist, dass die angegebene Operation im Jahre 1946, für die es im übrigen keinen Nachweis gibt, sich nur dann plausibel erklären lässt, wenn man von einer schweren Traumatisierung ausgeht, rechtfertigt dies keine andere Beurteilung. Auch wenn man die von der Klägerin angegebene weitere Entwicklung ihres Gesundheitszustandes nach 1945 bis zur weiteren Operation im Jahr 1950 als richtig unterstellt, gibt dies keinen verlässlichen Aufschluss über die Art und die Schwere der bei dem Sturz aus dem Zug im einzelnen erlittenen Verletzungen. Medizinische Unterlagen aus dieser Zeit sind nicht vorhanden. Insgesamt lässt es sich unter Würdigung des gesamten Verfahrensergebnisses nicht nachweisen, welche konkrete (Primär-)schädigung die Klägerin damals erlitten hat.

Auch wenn man unter Würdigung des gesamten Verfahrensergebnisses und insbesondere unter Berücksichtigung der glaubhaften Angaben der Zeugin M ... F ... davon ausgeht, dass die Klägerin sich damals jedenfalls Verletzungen - deren Ausmaß sich allerdings nicht nachweisen lässt - zugezogen hat, lässt es sich zur Überzeugung des Senats nicht feststellen, dass die heute vorhandenen Veränderungen im Bereich der Kniegelenke mit Wahrscheinlichkeit ursächlich auf diese Verletzungen zurückgeführt werden können. Vielmehr sprechen im Ergebnis eher mehr Gründe dafür, dass das heutige Krankheitsbild unabhängig von einer Traumatisierung wesentlich auf die vorhandenen anlagebedingten Kniegelenksdysplasien zurückzuführen ist. Denn die heute im Bereich der Kniegelenke nachweisbaren Veränderungen sind nach den überzeugenden medizinischen Ausführungen des Prof. Dr. Z ... für eine solche anlagebedingte Erkrankung typisch. Insbesondere bedarf es hiernach keiner traumatischen Einwirkungen, um das heutige Krankheitsbild herbeizuführen. Die vom Senat für glaubhaft erachteten Angaben der Zeuginnen, wonach die Klägerin vor ihrer Umsiedlung aus Schlesien normal laufen konnte und keinerlei Auffälligkeiten aufgefallen sind, rechtfertigen, wie auch die vorgelegten Fotos aus der Kind heit der Klägerin, keine andere Beurteilung. Denn das Krankheitsbild der habituellen Patellaluxation - wie von Prof. Dr. Z ... im einzelnen dargelegt - manifestiert sich typischerweise erst im Laufe der körperlichen Entwicklung des Kindes. Angesichts der überzeugenden medizinischen Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. Z ... kann es dahingestellt bleiben, ob die im Schwerbehindertenverfahren früher erwähnte operative Behandlung im Bereich der Kniegelenke im Jahre 1941 im K ... B ..., die grundsätzlich für eine Vorschädigung der Klägerin spricht, tatsächlich stattgefunden hat oder ob die Mutter der Klägerin neben dem Verschweigen des bei der Umsiedlung erlittenen Unfalls noch zusätzlich die Behandlung in Beuthen gegenüber der Klägerin angegeben hat.

Insgesamt hält der Senat die von Prof. Dr. Z ... im einzelnen aufgezeigten medizinischen Gesichtspunkte, die gegen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Schädigung und dem heutigen Krankheitsbild sprechen bzw. nach Auffassung des Sachverständigen einen solchen Zusammenhang sogar ausschließen, für überzeugend. Demgegenüber rechtfertigen die von Dr. L ... angeführten Gründe, mit denen sich Prof. Dr. Z ... im einzelnen auseinandergesetzt hat, keine für die Klägerin günstigere Beurteilung des Kausalzusammenhangs.

Zwar ist Dr. L ... der Auffassung, die heute feststellbaren Veränderungen im Bereich der Kniegelenke seien auf bei dem Sturz aus dem Eisenbahnwagen erlittene gesundheitliche Schädigungen zurück zuführen. Unter Würdigung der von Dr. L ... für seine Beurteilung angeführten Gründe und unter Abwägung der von den Sachverständigen insgesamt aufgezeigten medizinischen Gründe spricht zur Überzeugung des Senats aber jedenfalls mindestens ebenso viel - wenn nicht mehr - dafür, dass das heutige Krankheitsbild ursächlich nicht auf die von Dr. L ... angenommenen Verletzungen, deren konkretes Ausmaß - wie oben ausgeführt - im übrigen nicht nachgewiesen ist, sondern vielmehr entsprechend der Beurteilung des Prof. Dr. Z ... auf anlagebedingte Kniegelenksdysplasien zurückzuführen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Anlass,die Revision zuzulassen, besteht nicht, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, § 160 Abs. 2 Ziffer 1 SGG. Maßgeblich für die Entscheidung sind vielmehr die konkreten Umstände des Einzelfalles.
Rechtskraft
Aus
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